Ereignis vom 30. Juni 1419

DER ERSTE PRAGER FENSTERSTURZ UND SEINE FOLGEN

Meist denkt man beim Prager Fenstersturz nur an jene rabiate Aktion, die 1618 zum Auslöser des Dreißigjährigen Krieges wurde. Doch die „Premiere“ dieser Form von Selbstjustiz, auch Defenestration genannt, liegt fast 200 Jahre weiter zurück.

Der Sommer 1419 in Böhmen war von religiösen Unruhen geprägt. Wochenlang zogen Hussiten durch Prag, um für ihren neuen Glauben zu demonstrieren. Das Banner, das sie vorantrugen, zeigte das Motiv eines Abendmahlskelchs, denn das Abend­mahl in beiderlei Gestalt – Brot und Wein für alle – gehörte zu den wichtigsten Forderungen der böhmischen Reformer.

An diesem Tag, dem 30. Juli, war die Stimmung jedoch spürbar aggressiv. Zahllose Menschen, die sich vor dem Prager Rathaus versammelt hatten, trugen Waffen bei sich. Manche reckten Schwerter und Spieße drohend in die Höhe. Den sieben Ratsherren, die sich in dem Gebäude befanden, wurde es langsam mulmig. Was hatte dieser Mob vor? Als auf der Treppe laute Schreie und Gepolter zu hören waren, mussten sie tatsächlich das Schlimmste befürchten. Plötzlich riss ein Trupp bewaffneter Männer die schwere Holztür zum Ratssaal auf, stürmte auf die verängstigten Politiker los, packte sie, zerrte sie zum offenen Fenster – und stieß sie ohne zu zögern in die Tiefe. Keiner von ihnen überlebte den brutalen Überfall, zumal die fanatische Menge keine Scheu hatte, von ihren Waffen Gebrauch zu machen …

Dieses Ereignis, das als Erster Prager Fenstersturz in die Geschichte eingegangen ist, bildete den Auftakt zu den Hussitenkriegen, die Böhmen in den nächsten Jahren in Atem halten sollten. Doch wie konnte es dazu kommen?

Das Erstarken der Hussiten fiel in die Phase des unheilvollen Schismas, das 1378 zur Kirchenspaltung geführt hatte, weil gleich zwei Päpste Anspruch auf das Pontifikat erhoben. Um die Einheit der römisch-katholischen Christenheit wieder herzustellen, berief König Sigismund das Konzil von Konstanz (1414-1418) ein. Gleichzeitig sollte eine Reform der Kirche „an Haupt und Gliedern“ durchgeführt werden, die nicht nur die Hussiten forderten. Und so lud Sigismund auch den als Ketzer gebannten Jan Hus nach Konstanz, um dessen neue Glaubenslehre zu verteidigen. Eine seiner Thesen lautete: Die Kirche ist eine unsichtbare Gemeinschaft. Dem Papst zu gehorchen ist keine Bedingung des Seelenheils. Zwar hatte ihm der König freies Geleit zugesichert, hielt sein Versprechen jedoch nicht ein. Als Hus sich weigerte, die „ketzerischen“ Thesen zu widerrufen, wurde er gefangengenommen, zum Tode verurteilt und am 6. Juli 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Die Hoffnung, dass nun endlich wieder Ruhe einkehren würde, erfüllte sich jedoch nicht, auch wenn das Schisma tatsächlich beendet werden konnte. Bislang hatte Böhmens König Wenzel die Hussiten gewähren lassen und ihnen sogar einige Zugeständnisse gemacht. Doch als der neue Papst energisch auf der Bekämpfung der „Ketzer“ bestand, sah sich Wenzel gezwungen, alle Freiheiten wieder zurückzunehmen. Die Empörung darüber eskalierte am 30. Juli 1419 im ersten Prager Fenstersturz.

Als Wenzel nur wenig später starb, folgte ihm sein Bruder Sigismund auf den Thron, seit 1411 auch König des Heiligen Römischen Reichs und Hassfigur der Anhänger von Jan Hus. 1420 gaben die Hussiten die „Vier Artikel von Prag“ heraus, in denen sie ihre Forderungen artikulierten: Verabreichung des Abendmahls in beiderlei Gestalt, Verbot des Pfründenschachers, freie Verkündigung des Wort Gottes als einziges Kriterium der religiösen Wahrheit und Praxis, Einbeziehung des übermäßigen Reichtums von Kirchen und Klöstern. Das konnte die römisch-katholische Kirche natürlich keinesfalls akzeptieren.

Die Situation spitzte sich zu, als Papst Martin V. im gleichen Jahr zu einem Kreuzzug gegen die Hussiten aufrief, angeführt vom König von Böhmen. Gegen die zusammengewürfelten Horden der Glaubensfanatiker glaubte Sigismund leichtes Spiel zu haben. Schließlich bildeten die Hussiten keine homogene Gruppe, sondern bestanden aus unterschiedlichen Fraktionen, den gemäßigten Ultraquisten (vom lat. sub utraque specie = in beiderlei Gestalt) und den radikalen Taboriten, die sich nach dem biblischen Tabor benannt hatten. Bei Letzteren vermischten sich religiöse mit sozialen Forderungen. Ihr Ziel war ein „Gottesstaat“, in dem völlige Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen und wo es weder Sünde noch Privateigentum geben sollte.

Doch schon bald musste Sigismund erkennen, dass er es weniger mit „religiösen Spinnern“ als mit gefährlichen und hochmotivierten Gegnern zu tun hatte. Ultraquisten und Taboriten bildeten eine feste militärische Allianz, die zudem über äußerst fähige Anführer verfügte, allen voran der ebenso geniale wie charismatische Jan Žižka (1360-1424). Weil seine Truppen, die hauptsächlich aus Bauern bestanden, kaum über konventionelle Waffen verfügten, entwickelte er eine neue Kampftechnik, bei der auch Sensen, Knüppel und Dreschflegel eingesetzt wurden: Sie schleuderten Steine und Lanzen, denn sie besaßen weder Pfeile noch Feuerwaffen, schrieb ein zeitgenössischer Chronist. Eine äußerst effektive Organisation und hohe Kampfmoral taten ein Übriges. Und so geschah, was niemand zuvor geglaubt hatte: Trotz zahlenmäßiger Überle­genheit des königlichen Heeres erlitt Sigismund am 14. Juli 1420 eine vernichtende Niederlage, die ihn sein böhmisches Königreich kostete. Mehrere Versuche, Böhmen zurückzu­erobern, blieben erfolglos.

Der Siegeszug der Hussiten setzte sich auch nach dem Tod Žižkas 1424 fort. Letzten Endes scheiterten alle fünf „Kreuzzüge“ gegen die vermeintlichen Ketzer. Nach der letzten Niederlage im August 1431 wurde allmählich klar, dass nur eine diplomatische Lösung zum Ziel führen konnte. Auf dem Konzil, das seit diesem Jahr in Basel tagte, wurde den Ultraquisten zumindest das Recht zugestanden, künftig das Abendmahl in beiderlei Gestalt zu empfangen. Die Taboristen weigerten sich hingegen strikt, sich auf einen Kompromiss einzulassen. Sie kämpften bis zum bitteren Ende – ohne das Geringste zu erreichen. Mit den sogenannten Prager Kompakten, jenen Verträgen, die das Basler Konzil mit den Ultraquisten schloss, endeten die Hussitenkriege am 5. Juli 1436. Jetzt konnte Sigismund endlich den böhmischen Königsthron besteigen, nach siebzehn Jahren …

 

Lit.: Heinz Rieder, Die Hussiten. Streiter für Glauben und Nation, Gernsbach 1998. – František Šmahel, Die hussitische Revolution, Hannover 2002.

Bild: Altstädter Rathaus in Prag um 1780/ Quelle: Gemeinfrei.

Karin Feuerstein-Praßer