Am 8.1.1918 hielt der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856-1924) seine berühmt gewordene Rede über sein 14-Punkte-Programm, das die Grundzüge einer Friedensordnung in Europa nach dem Ende des Ersten Weltkriegs darstellte. Die programmatische Rede hielt er vor beiden Häusern des US-Kongresses.
Kernpunkt in der öffentlichen Debatte wurde das von ihm immer wieder betonte Selbstbestimmungsrecht der Völker, das aber in vielen anderen Punkten des Programms nicht konfliktlos kompatibel war.
Am 11.11.1918 endete der Weltkrieg mit einem Waffenstillstand und angekündigten kommenden Verhandlungen. Alle, die die Freiheit wollten, und das möglichst maximal, was oft nur auf Kosten anderer möglich war, redeten über dieses Ziel von Wilsons Politik.
Ein zentrales Problem des Selbstbestimmungsrechts war in Europa die Gemengelage der Wohnorte der Völker Europas. Wo also sollte eine Trennlinie gezogen werden, innerhalb von Dörfern bereits oder dorfweise, kreisweise? En Detail war eine Grenzziehung zwischen Deutschen und Polen auch in der Provinz Posen schwierig bis teilweise unmöglich.
Vor allem im Grenzgebiet dieser Provinz musste es zu Problemen kommen, wenn man eine einigermaßen gerechte Grenze ziehen wollte, sofern man das überhaupt wollte, denn die Franzosen trachteten danach Deutschland so stark zu schwächen wie nur möglich. Großbritannien suchte zumindest territorial keine Vorteile auf dem Kontinent.
Die verschiedenen polnischen Richtungen der Politik waren sich auch in ihren Zielen nicht einig. Der östliche Machthaber im österreichischen und russischen Teilungsgebiet, Józef Piłsudski (1867-1935), träumte von einem Polen in den Ausmaßen vor der ersten Teilung (1772) Polen-Litauens, das vom Meer bis zum Meer reichen sollte, gemeint sind das Baltische Meer (Ostsee) und das Schwarze Meer. Der Chefideologe der Nationaldemokraten, Roman Dmowski (1864-1939), dessen Partei vor allem im Posener Land sehr stark war, träumte von einem Polen in den Ausmaßen wie zur Zeit der Piasten. Sein Ziel war schon damals die Oder als Grenze.
Um diesem Ziel nahe zu kommen und vor den Pariser Verhandlungen Fakten zu schaffen, brach am 27.12.1918 in Posen der Großpolnische Aufstand aus, der schon bald fast die gesamte Provinz unter die Herrschaft der Insurgenten brachte.
Im Südwesten der Provinz Posen, im Kreis Bomst (Babimost) mit seiner Kreisstadt Wollstein (Wolsztyn), war es ein evangelischer Dorfpfarrer, der seine Pfarrgemeinde vor den anrückenden Aufständischen sichern wollte.
Auch historisch wäre es schwierig gewesen, zu erklären, warum diese Dörfer zu Polen kommen sollten. Das Argument nach dem Zweiten Weltkrieg war, dass die Deutschen polnisches Land in Besitz genommen hätten und sie die autochthone Bevölkerung wären. Im Fall des Kirchspiels Schwenten (Świętno) mit den Dörfern Kreutz (Krzyz) und Ruden (Rudno) wäre das Argument verfehlt gewesen, denn dieses grenznahe Nadelwaldgebiet war erst um 1800 besiedelt worden.
Es hatte zur Gutsherrschaft Widzim bei Wollstein gehört. Die Witwe Bielińska verkaufte das Gut im Jahr 1799 an den von den französischen Revolutionären vertriebenen Sohn des niederländischen Statthalters, Willem v. Oranien-Nassau (1772-1843), der in seiner hessischen Urheimat Siedler anwarb, die sich hier niederließen. Für seine neuen Dörfer legte er eine evangelische Kirche im Fachwerkstil an, in der seit 1894 Emil Hegemann (1864-1946) Pastor war.
Er hatte ursprünglich Jura studiert und interessierte sich sehr für Politik. Da er aus Trlong (Trląg) im zentralposener Kreis Mogilno stammte, beherrschte er auch polnisch. Als Anfang Januar die Insurgenten bis nach Wollstein und in das Nachbardorf Schwentens, nach Kiebel (Kębłowo) vorstießen, ging er „spionieren“, hörte er sich in der Kreisstadt unauffällig um, belauschte die Leute, informierte sich auch beim deutschen Militär in der Stadt Glogau (Głogów) und musste erkennen, dass er noch mit keinerlei Hilfe rechnen konnte. Da er regelmäßig die Zeitung las, war er über die politischen Debatten um die 14 Punkte W. Wilsons gut informiert
Am 5.1.1919 war die Kreisstadt besetzt worden. Tags darauf diskutierte man im Gasthof neben der Kirche heftig über die aktuelle Lage. Wortführer Hegemann konnte seine Idee umsetzen. Er schrieb in seiner Schrift aus den 30er Jahren, dass es ihm schon im November gelungen war, die „Bolschewisten“ zu überrumpeln und sich selbst an die Spitze der Bewegung zu setzen. Der Schwentener Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat hatte am 14.11.1918 den Oberförster Karl Teske (*1864) als obersten Soldatenrat und Pastor Hegemann als Vorsitzenden aller Räte gewählt. Angesichts der Bedrohung aus den Nachbardörfern rief Hegemann den „Freistaat Schwenten“ aus.
Mit den örtlichen Honoratioren hatte er sich längst abgesprochen. Hegemann wurde Präsident und Außenminister des neuen Staates, der Gemeindevorsteher Heinrich Drescher (*1870) Innenminister und der Oberförster Karl Teske, Hauptmann d.R., Kriegsminister.
Teske als erfahrener Offizier stellte sofort eine Miliz und sie verhandelten mit den Nachbardörfern Kiebel und Obra und handelten mit den örtlichen polnischen Kommandanten Nichtangriffspakte aus. An den Dorfeingängen wurden bewachte Barrikaden errichtet.
Die Aufständischen griffen auch wirklich nicht an, auch wenn es hin und wieder Übergriffe gab. In der zweiten Januarhälfte eroberten die Aufständischen dafür die nördlichen Orte Kopnitz (Kopanica) und die Städte Bomst und Unruhstadt (Kargowa). Es zeigte sich aber, dass die Aufständischen mangelhaft ausgestattet waren. Bereits Anfang Februar ging der inzwischen aufgebaute deutsche Grenzschutz zum Gegenangriff über und eroberte die Städte zurück. Aber sie hatten den vollkommen falschen Zeitpunkt gewählt, denn der Waffenstillstand lief aus. Die erschrockenen Polen erbaten erfolgreich in Paris Hilfe. Die Alliierten drohten mit der Fortsetzung des Krieges, wenn der Grenzschutz weiter vorrücken würde. Somit endete der Gegenschlag, noch ehe er begonnen hatte (16.2.1919). Seither war die Grenze auf der Basis des Status Quo de facto gefestigt und wurde zur Basis des Versailler Vertrags. Die folgenden Wochen und Monate waren nur ein gegenseitiges Belauern und Ausharren, bis die Friedenskonditionen bekanntgegeben wurden.
Der deutsche Protest gegen das Friedensdiktat, an dem die deutsche Delegation nicht mitverhandeln durfte, nutzte nichts und am 28.6.1919 musste der deutscherseits Vertrag unterzeichnet werden. Am 20.1.1920 trat er dann in Kraft.
Mit der Unterzeichnung war der „Freistaat Schwenten“ erst recht überflüssig geworden. In einer Versammlung wurde daher am 10.8.1919 beschlossen, den Freistaat aufzulösen und sich dem Deutschen Reich anzuschließen.
Doch damit endete diese Episode der großen Weltgeschichte nicht. In zeitgenössischen Dokumenten wie den Kirchen- und Schulchroniken der Nachbarschaft erscheint kein Freistaat und die in der Gemeinde Schussenze (Ciosaniec) vorhanden Schwentener Chronik beginnt leider erst – bezeichnenderweise könnte man sagen – im Jahr 1920. Die ältere Chronik wurde an das Geheime Staatsarchiv in Berlin abgegeben und dann an das Archiv in Breslau übergeben. Seither gilt die Chronik als verschollen.
Stellt man sich die Frage, wie wichtig diese Episode war, kann man kein klares Urteil fällen. Sicher ist, dass kein Aufständischer sich durch den Bezug auf die 14 Punkte Wilsons davon hätte aufhalten lassen, Schwenten und die beiden anderen Dörfer zu überrennen. Fakt ist, dass von Schwenten eine wichtige, aber nicht ausgebaute Straße nach Kolzig (Kolsko) und ins weitere Schlesien verlief. In Kolzig lag jedoch bald darauf der deutsche Grenzschutz.
Nur für eine kurze Zeit mag der Freistaat gewirkt zu haben. Im benachbarten katholischen Kirchspiel Altkloster (Kaszczor) hatte der örtliche Pfarrer Stanislaus Paradowski (1871-1942) ebenfalls um Neutralität verhandelt, doch die Dörfer Mauche (Mochy) und Altkloster waren zu bedeutsam und die Neutralität wurde auch nicht beachtet und sie so von den Aufständischen eingenommen. Das weiter westliche Kirchspiel blieb jedoch deutsch.
Es scheint Faktum gewesen zu sein, dass die polnischen Streitkräfte zu schwach waren, um weiter vorstoßen zu können. Der Freistaat war nur ein weiteres Signal des Widerstands, dass man nicht in diese Richtung vordringen sollte.
Den eigentlichen Höhepunkt seiner Prominenz erlebte der Freistaat in den 1930er Jahren, als die NSDAP diesen Vorfall aufbauschte und feierte. Zahlreiche Parteigrößen bis hin zu Reichsministern wie Reichsinnenminister Dr. Wilhelm Frick (1877-1946, in Nürnberg hingerichtet) und „Arbeitsminister“ Dr. Robert Ley (1890-1945) traten in Schwenten auf, bis PG (Parteigenosse) Hegemann 1937 auf den Chefideologen Reichsschulungsleiter Alfred Rosenberg (1893-1946) stieß und sich mit ihm überwarf. Hegemann war halt eher ein deutscher Patriot als ein Nationalsozialist.
Seither wurde es ruhig um den Freistaat und nach Kriegsausbruch war er gar nicht mehr von Interesse und Nutzen. Es erschien lediglich ein Roman über den Husarenstreich der Weltgeschichte, der wahrscheinlich schon in Auftrag gegeben worden war. Es war das Erstlingswerk des ehemaligen oberschlesischen Kommunisten Werner Steinberg (1913-1992).
Nach 1945 war der Freistaat nur noch in Heimatvertriebenenkreises der Bewohner aus dieser kleinen Region ein Thema. Erst seit einigen Jahren entdeckt man den Freistaat Schwenten auch in Polen als ein Kuriosum der Geschichte ihrer Region.
Lit.: Vermerkt im: Atlas zur Universalgeschichte von List/Oldenburg, Paul List Verlag, München 1979. – Gustav Fimmel, Schwenten und seine Geschichte, Jahrbuch Weichsel-Warthe 1990, S.92-95. – Paul Geisler, Aus der Geschichte der Republik Schwenten, in: Heimatkalender für den Kreis Bomst, Jg. 1940, Hauptlehrer in Schwenten. – Emil Hegemann, Der Freistaat Schwenten, oder Deutsche Not und Treue in der Grenzmark Posen, Prenzlau 1938 – Martin Sprungala, Der Großpolnische Aufstand im südlichen Kreis Bomst aus „katholischer Sicht“, in: Beiträge zur ostdeutschen Kirchengeschichte (BOKG), Folge 6, Münster 2004, S. 152-161. – Ders., Der „Freistaat Schwenten“, Wahrheit oder Propaganda, in: Jahrbuch Weichsel-Warthe 2009, S. 150-159. – Husarenstreich der Weltgeschichte. Leipzig 1940 (Roman über den Freistaat Schwenten).
Bild: Das Gasthaus Wolff, in dem am 6.1.1919 der Freistaat Schwenten ausgerufen wurde, Sammlung Stefan Petriuk, www.arge-polen.de/ PDF/SCHWENTEN-MB96.pdf.
Martin Sprungala