Ereignis vom 27. August 1773

DER VERTRAG VON ZARSKOJE SELO

Der Große Palast von Zarskoje Selo 1755-1761, Kupferstich

Seit der Regierungszeit Zar Peters I., des Großen, ist nicht nur eine verstärkte Öffnung Russlands dem Westen gegenüber festzustellen, auch die Politik des Zarenreiches orientiert sich stärker in westliche Richtung. Mit der Gründung der neuen Haupt- und Residenzstadt St. Petersburg trat zunächst der Ostseeraum stärker in das Blickfeld der russischen Außenpolitik, ein Gebiet, das bislang von Schweden dominiert war.

So war es auch Schweden, das ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, nach den militärischen Erfolgen im Dreißigjährigen Krieg, verstärkt in Konflikte auch im südlichen Ostseeraum eingriff. Hier ist vor allem die „Gottorfer Frage“ zu nennen, ein machtpolitisch-dynastischer Konflikt im Hause Oldenburg.

Nachdem 1448 das Haus Oldenburg auf den dänischen Thron gelangt war, glückte 1460 auch der Erwerb des Herzogtums Schleswig und der Grafschaft bzw. des späteren Herzogtums Holstein. Doch ergab sich durch spätere Erbteilungen eine unklare Gemengelage an Rechten und Herrschaften, die sich jedoch im Kern auf drei Territorien konzentrierten, den könig-lichen Anteil an den Herzogtümern, also die Gebiete, die mehr oder weniger direkt von Kopenhagen aus regiert wurden, einen herzoglichen Anteil, mithin die Besitzungen des Herzogs von Schleswig-Holstein mit Sitz in Gottorf, sowie, neben einigen gemeinsam administrierten Ländereien, die der „abgeteilten Herren“, also Seitenlinien, die eigentlich mit Geldzahlungen hätten abgefunden werden müssen, denen aber mangels zur Verfügung stehender Mittel einzelne Herrschaften zur Nutzung übertragen worden waren.

Kompliziert wurde das Ganze, weil nicht etwa geschlossene Territorien geschaffen wurden, sondern die Aufteilung der Gebiete nach wirtschaftlichen Aspekten, v.a. der Steuerkraft der einzelnen Ämter erfolgte. Somit ergab sich geographisch eine Art Flickenteppich, in dem Konflikte nahezu vorprogrammiert waren.

Die Situation spitzte sich dann um die Mitte des 17. Jahrhunderts zu, als zu diesen Problemen noch die beginnende Territorialisierung, also die Tendenz zur Schaffung zentral verwalteter Einheitsstaaten, und die Einbindung in die internationale Politik trat. Die Herzöge von Schleswig-Holstein suchten nämlich die Anlehnung an Schweden, um gegen den immer stärker werdenden Druck Dänemarks ein Gegengewicht zu erhalten. Damit wurden sie mehr und mehr zu einem Satelliten Stockholms und seiner expansiven Tendenzen. Immer stärker wurden sie in die Kriege in Nordeuropa einbezogen, ohne freilich die gewünschte Unterstützung wirklich zu erhalten, mussten Verwüstungen ihres ja weitgehend schutzlosen Territoriums hinnehmen und sogar 1721 die Abtretung ihres Anteils am Herzogtum Schleswig an Dänemark akzeptieren.

Sich nach einem neuen Bündnispartner umsehend, trat das aufstrebende Russland in den Blick. Herzog Karl Friedrich heiratete 1725 die älteste Tochter Peters des Großen, Anna Petrowna. Deren Sohn, Herzog Karl Peter Ulrich, geboren am 21. Februar 1728, ab 1739 Nachfolger seines Vaters, wurde von Zarin Elisabeth, der jüngeren Schwester Annas und Herrscherin in St. Petersburg seit 1741, im Jahre 1742 zum Thronfolger ernannt. Der junge Herzog plante, im Bündnis mit seiner Tante durch militärische Mittel das Herzogtum Schleswig zurückzugewinnen, jedoch wurden diese Pläne durch die Frage der Österreichischen Erbfolge und die mit dem preußischen Einmarsch in Schlesien einsetzenden kriegerischen Verwicklungen zunächst durchkreuzt.

Nach dem Tode Elisabeths am 5. Januar 1762 Zar, verfolgte der nun in Russland als Peter III. regierende Herzog das Projekt, sein Ziel im Bündnis mit Preußen zu erreichen. Doch wurde er bereits durch eine Palastintrige am 9. Juli 1762 gestürzt und auf Anstiftung seiner Gattin Sophie Auguste Friedrike von Anhalt-Zerbst am 17. Juli 1762 ermordet.

Diese bestieg als Katharina II., gestützt auf die Hoffraktion der Familie Orlow, zu der sie, um es einmal so zu formulieren, recht enge Beziehungen unterhielt, den Thron. Die Gegnerschaft des höfischen Adels, des höheren Militärs und der Kirche und die Beliebtheit Peters III. gerade beim einfachen Volk veranlassten die neue Zarin, zunächst einen sehr auf Ausgleich bedachten politischen Kurs zu steuern und Konflikte generell zu vermeiden.

So schied Russland aus dem Siebenjährigen Krieg aus, suchte eine Verständigung mit Österreich in der Frage der polnischen Thronfolge und legte den Schwerpunkt der außenpolitischen Expansionstendenzen auf den Balkanraum, gegen das Osmanische Reich. Auch die „Gottorfer Frage“ sollte diplomatisch gelöst werden.

Aufgrund des strengen salischen Erbrechtes im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war nämlich nicht Katharina, sondern ihr gemeinsamer Sohn mit Peter III., Großfürst Paul, geboren am 1. September 1754, zum Herzog in Gottorf aufgerückt, für den freilich sie von Russland aus die Gebiete verwaltete. Die Zarin bestimmte Staatsminister Caspar von Saldern zum Bevollmächtigten, mit König Christian IV. von Dänemark Unterhandlungen zu Lösung des Konfliktes aufzunehmen, der, nach Zustandekommen eines Freundschaftsvertrags zwischen Russland und Dänemark 1765 bereits 1767 einen Vorvertrag, der im Kern bereits die endgültigen Regelungen enthielt, abschließen konnte.

Die weiteren Verhandlungen führte von Saldern dann mit Andreas Christian von Bernstorff, dem Leiter der ‚Deutschen Kanzlei‘, also der für die Verwaltung des königlichen Anteils an den Herzogtümern zuständigen Behörde in Kopenhagen und leitendem Staatsminister für die auswärtigen Angelegenheiten. Sie kamen am 27. August 1773 in Zarskoje Selo, einem 25 km südlich von St. Petersburg gelegenem, von Bartolomeo Rastrelli errichteten Lustschloss mit seinem als „achten Weltwunder“ bezeichneten Bernsteinzimmer zum Abschluss.

Großfürst Paul verzichtete darin auf seine Besitzungen in Schleswig und Holstein, so dass diese Gebiete, nachdem im Laufe des 18. Jahrhunderts auch die Linien der „abgeteilten Herren“ erloschen waren, nunmehr in ihrer Gesamtheit zu Dänemark gehörten. Er erhielt dafür die Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst, die er aber sogleich an seinen Großonkel Friedrich August, das Haupt der jüngeren Linie des Hauses Holstein-Gottorf, seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts faktisch erbliche evangelische Fürstbischöfe von Lübeck, abtrat. Diese Territorien wurden dann gemäß einer Absprache zwischen St. Petersburg und Wien, Hinweis auf eine sich immer mehr abzeichnenden Annäherung der beiden Mächte mit zunehmend expansiven Tendenzen v.a. dann im Balkanraum, 1774 von Kaiser Joseph II. in den Rang eines Herzogtums erhoben.

Mit dem Vertrag von Zarskoje Selo wurde zum einen die Erbfolge der Herzöge von Holstein-Gottorf in Russland, insbesondere auch die gewaltsame Usurpation des Zarenthrones durch Katharina II., und die Trennung der in Russland regierenden Linie von der im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation anerkannt, zum anderen die Geschlossenheit und territoriale Integrität des Königreiches Dänemark etabliert. Bis zum erneuten Aufkommen eines Konfliktes in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang so die Pazifizierung Norddeutschlands und die staatliche Konsolidierung Dänemarks als Einheitsstaat.

Lit.: Amburger, Erik: Russland und Schweden 1762-1772. Katharina II., die schwedische Verfassung und die Ruhe des Nordens, Berlin 1934. – Arnheim, Fritz: Beiträge zur Geschichte der nordischen Frage in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 2 (1889), S. 410-443. – Brandt, Otto: Das Problem der „Ruhe des Nordens im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 140 (1929), S. 550-564. – Hillenbrand, Markus: Fürstliche Eheverträge. Gottorfer Hausrecht 1544-1773 (= Rechtshistorische Reihe, Band 141), Frankfurt am Main/ Berlin/ Bern/ New York/ Paris/ Wien 1996. – Hübner, Eckard: Ferne Nähe. Die Beziehungen zwischen Schleswig-Holstein und Rußland in Mittelalter und Neuzeit (= Kleine Schleswig-Holstein- Bücher Band 54), Heide 2003. – ders.: Staatspolitik und Familieninteresse. Die gottorfische Frage in der russischen Außenpolitik 1741-1773, Neumünster 1984. – Lohmeier, Dieter: Kleiner Staat ganz groß. Schleswig-Holstein-Gottorf (= Kleine Schleswig-Holstein-Bücher, Band 47), Heide 1997. – Mager, Bernhard: Der Zar aus Schleswig-Holstein. Zar Peter III. als Landesherr von Holstein im Spiegel historischer Dokumente, Husum 2018.

Bernhard Mundt