In einer Kirche, die bereits fast 900 Jahre alt ist, und davon auf rund 600 Jahre unter ungarischer und 150 Jahre unter osmanischer Vorherrschaft zurückblicken kann, relativiert sich die heute zu bedenkende Phase der letzten 100 Jahre eminent. Diese Rückschau auf die Evangelische Landeskirche A. B. in Rumänien seit 1921 in dem vorgegebenen, begrenzten Raum zu leisten, ist angesichts der Dramatik dieser Jahrzehnte und den in ihnen erlebten Brüchen, Abbrüchen und Aufbrüchen schlechterdings eine Zumutung. Trotzdem soll diese Herausforderung angenommen werden, wenngleich wesentliche Aspekte und Einsichten praktisch unter den Tisch fallen müssen, aber nicht unter den Teppich gekehrt werden sollen. Dass der derzeitige Staatspräsident Klaus Johannis als Gemeindeglied dieser Minderheitskirche gewählt wurde, zeigt einerseits den Respekt und historisch begründete Hoffnung auf die in dieser Gemeinschaft vitalen Kräfte und Potenziale auf und hat einen gewissen Stolz geweckt, trägt aber einen ambivalenten Charakter, sofern diese Erwartungen/Zuversicht enttäuscht würden.
Wir begehen zwar einen runden Geburtstag, aber ein Jubiläum im eigentlichen Sinne kann dies kaum sein. Eher ein Gedenken, das im Sinne des hebräisch-jüdischen Denkraums als „Vergegenwärtigung“ der Geschichte zu verstehen ist. In diesem Gedenken wird also Geschichte transparent oder durchsichtig, weil in ihm an Versagen, Schuld und Katastrophen vor dem Angesicht Gottes erinnert wird und dies zugleich im Blick auf das von Gott – trotz allem – ein für alle Mal verwirklichte Heil in Jesus Christus tut.
Dies soll geschehen vor dem Hintergrund eines kurzen Abrisses, gewissermaßen einem Blick auf das Kerbholz der eigenen Geschichte:
- Der mittelalterliche Privilegienverband der „Saxones“ legte bereits 1277 den Bischofssitz in Weißenburg in Schutt und Asche samt Dom und Inventar;
- mit dem Gewinn einer mündigen Gemeinde in der reformatorischen Bewegung auch in Siebenbürgen war zugleich der schmerzliche Verlust der kirchlichen Einheit verbunden, nicht zuletzt, weil aus der Klausenburger Gemeinde unter dem sächsischen Stadtpfarrer Franz Hertel (Davidis) eine konfessionelle Vielfalt bis hin zur antitrinitarischen Bewegung hervorging;
- mit der osmanischen Bedrohung und der ihr folgenden gegenreformatorischen Herausforderung entwickelte sich eine Kirchenburgen-Mentalität, welche die ursprünglich vorhandene Integrationskraft der „Saxones“ minderte, zugleich aber einem historisch entwickelten, ethnischen Dünkel Vorschub leistete;
- von außen einströmender Rationalismus und Kulturprotestantismus wurden durch die gesellschaftliche und kirchliche Elite aufgesogen, vermittelt, ja endlich auch von den Gemeinden verkraftet; doch in geistlicher und religiöser Hinsicht waren dies magere Zeiten mit einer Akzentuierung von Pflichtethik und Moral. Die Nation wurde zur Religion.
- Danach wurde der Nationalsozialismus mehr oder weniger begeistert integriert und die Landeskirche von dieser Ideologie kontaminiert/verseucht und diese Verirrung im Nachhinein totgeschwiegen, was sich auch erklären lässt angesichts eines dauernd gegenwärtigen ideologischen Vorwurfs des „Hitlerismus“ durch den Geheimdienst und die Staatspartei; die Landeskirche hat den Staatssozialismus beschädigt überlebt, präsentiert sich trotz schwindender Zahl heute aber als erstaunlich vital.
Der Beitrag wird in zwei Schritten diese einhundertjährige Zeitspanne vergegenwärtigen: „Herausforderungen und Antworten“ und „Aufstehen nach den Stürzen – Aufbrüche“ das lässt sich nicht immer exakt auseinanderhalten.
Gründungsituation: Für die landeskirchliche Führung in Hermannstadt kam der ersehnte Ausgang des Ersten Weltkriegs 1918 einer Katastrophe gleich. Die Revolution brach aus – selbst auf einigen Dörfern. Das Reich der Stephanskrone brach endgültig auseinander, und dessen chauvinistische Nationalitätenpolitik hatte zuvor eine Identifikation aller Minderheiten mit dem Staat beeinträchtigt. Am Ende stand der Verlust des „Vaterlandes“.
Das deutsche Milieu Siebenbürgens, dessen Elite geistig und akademisch im wilhelminischen Kaiserreich geprägt worden war, musste den Zusammenbruch des nationalistisch profilierten, protestantisch-deutschen Sendungsbewusstseins ertragen. Bischof Teutsch schwieg lange –, auch sein Tagebuch enthält ein halbes Jahr keine Einträge.
Früher als die Landeskirche in den ehemals „siebenbürgischen Landesteilen Ungarns“ erkannte die Evangelische Kirchengemeinde Bukarest die Notwendigkeit, sich frühzeitig für das territorial wachsende Königreich Rumänien auszusprechen und drängte auf eine Entscheidung in Siebenbürgen. Schließlich beschloss der deutsch-sächsische Nationalrat am 8. Januar 1919 in Mediasch seine Anschlusserklärung. Schon im November 1918 hatten die Nationalräte in der Bukowina und Bessarabien für den Anschluss plädiert. Die Karlsburger Beschlüsse der Siebenbürger Rumänen vom 1. Dezember 1918 boten einen konkret aber erst zu füllenden Erwartungshorizont. Mit den Pariser Vorortverträgen wurden die bis dahin historisch völlig heterogen geprägten Regionen zu einem kompositen Staat fusioniert: Zusammengesetzt, aber nicht zusammengewachsen.
Um das Regat, das Altreich, herum traten die Maramureş (Marmatien), die Bukowina, Bessarabien, die Süd-Dobrudscha, Teile des Banats und – das geographisch eher als Landeszentrum zu bezeichnende – Siebenbürgen in den neuen Staatsverband. In allen Regionen lebten ethnische Minderheiten (in Siebenbürgen beispielsweise rund 40 %). Der auf die doppelte Fläche gewachsene Staat als Ganzer versammelte mehr als zehn Ethnien, die knapp 30 % der Gesamtbevölkerung ausmachten. Religiöse und konfessionelle Vielfalt stellten für die zuvor nahezu homogene rumänisch-orthodoxe Bevölkerung des Altreichs eine größere Irritation dar als für die an ethnische sowie religiöse Vielfalt gewöhnten Neubürger. Dazu kam, dass im westlichen Landesteil, „Transilvanien“ genannt, die Mehrheit der Rumänen zur griechisch-katholischen, mit Rom unierten Kirche gehörten.
Unter der deutschen Minderheit des gesamten Landes (mit rund 760.000 Angehörigen, d.h. etwa 5 % der Gesamtbevölkerung) war die Mehrheit römisch-katholisch, und nur etwa 45 % evangelisch (lutherisch). In der Bukowina, dem ehemaligen habsburgischen Kronland, gab es eine über zwei Jahrhunderte gewachsene, ausgeprägte Diaspora mit einer ökonomischen und intellektuell starken evangelischen Kirchengemeinde, nämlich Czernowitz. Hier amtierte als Stadtpfarrer Dr. Viktor Glondys, ein gebürtiger Schlesier, der außerdem einen Lehrauftrag an der dortigen Universität versah. Die deutschsprachige Kultur stand in engem, nicht immer spannungsfreien, aber fruchtbaren Zusammenhang mit dem noch größeren jüdischen Milieu.
In Bessarabien bestand eine eigene Landeskirche. In diesem bis dahin zum russischen Zarenreich gehörenden Landstrich hatten sich die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts angesiedelten, meist dem deutschen Pietismus zuzurechnenden ländlichen Gemeinden und Kirchspiele samt ihren Dorfschulen zu einer lutherischen Kirche zusammengeschlossen. In Tarutino saß das Kirchenamt der mehr als 80.000 Glieder. Nach dem Anschluss an die siebenbürgische Landeskirche befand sich dort das Dekanat, wo die Pastoren Daniel Haase und Immanuel Baumann amtierten. In Sărată gab es ein diakonisches Zentrum (Diakonisse Lina Farr). In der Dobrudscha hatten Bessarabier Filialsiedlungen begründet, und die kirchliche/geistliche Versorgung war mühsam. Neu-protestantische Sondergruppen fanden durchaus Zulauf. Lokal sehr unterschiedlich war das generell schwache Bildungsniveau, besonders weil es praktisch keine Minderheitenschulen gab.
Im Altreich hatten sich vor dem Ersten Weltkrieg die Gemeinden des „Synodalverbandes an der unteren Donau“ dem preußischen Oberkirchenrat unterstellt gehabt. Obwohl die unierte Bukarester Gemeinde dies nicht tat, wirkte sie im Synodalverband wesentlich mit. Die Fluktuation in den Gemeinden war relativ stark, wenngleich die preußische Landeskirche stetig für die Besetzung und Bezahlung der Pfarrer aus dem Deutschen Reich gesorgt hatte. Dies war nun infrage gestellt.
Auch in Bukarest versahen neben dem siebenbürgisch-sächsischen Pfarrer Rudolf Honigberger immer auch ein „reichsdeutscher“ Pfarrer, ab 1921 Hans Petri, den Dienst als Seelsorger. Kennzeichen war eine selbstbewusste Personalgemeinde (mit nur ca. 1.000 zahlenden Gemeindegliedern bei etwa 8-10.000 deutschen Protestanten am Ort), die außerdem auch für die protestantischen Ausländer (aus der Schweiz, den Niederlanden, Skandinavien und zuweilen auch für Anglikaner) Anlaufstelle wurde. Vor 1918 stand das größte auslandsdeutsche Schulzentrum mit rund 2.300 Kindern in Bukarest. In diesen Bildungsanstalten – vornehmlich in der Strada Luterana – waren mehrheitlich nicht-deutsche Kinder aufgenommen worden, was in der Zwischenkriegszeit gesetzlich ausgeschlossen war und damit zum Problem wurde. Die Leitung der Gemeinde und ihre Außenvertretung hatte ein „Gemeindepräsident“ inne, was Art. 27 der neuen Kirchenordnung, den die Kirchengemeinde Bukarest durchgesetzt hatte, den Bestandsschutz lokaler Traditionen erlaubte.
Im Banat gab es nur wenige evangelische Gemeinden, die größte deutschsprachige war Liebling. Anfänglich diente Ferdinand Szende als Dechant. Schließlich traten 1932 auch drei größere Kirchengemeinden (Mocrea, Butin und Nagylak) als slowakischer Kirchenbezirk unter Leitung von Ivan Bujna der Landeskirche bei.
In Siebenbürgen leitete Bischof Dr. Friedrich Teutsch seit 1906 die Landeskirche mit rund 250 Kirchengemeinden in zehn Kirchenbezirken. Rund 250.000 Seelen zählte sie; zu ihr gehörten traditionell auch wenige ungarischsprachige Gemeinden, eine mit bulgarischer Tradition sowie in Nordsiebenbürgen auch evangelische Roma. Vorübergehend schlossen sich im Umfeld von Kronstadt weitere ungarische Gemeinden als Ungarisches Dekanat an, die sich allerdings nach wenigen Jahren mit der neu begründeten Presbyterial-synodalen Superintendentur Arad vereinigten. Die Landeskirche mit Sitz in Hermannstadt bildete das Rückgrat und bot einen in das neue Staatswesen hinübergeretteten, gewissermaßen öffentlich-rechtlichen Rechtsstatus und beanspruchte ihre staatskirchenrechtliche Autonomie. Aus diesem Grund suchten die evangelischen Kirchengemeinden und Kirchenbezirke der anderen Regionen zunächst um bilaterale Assoziationsverträge an, die zwischen 1920 und 1922 unterzeichnet wurden. Die nun gewachsene Landeskirche gab sich 1926 eine neue Kirchenordnung, in der die neu aufgenommenen Kirchenbezirke integriert waren.
Herausforderungen und Antworten: Chronologisch lassen sich drei markant unterschiedene Phasen erkennen:
- Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs;
- von 1945-1989;
- 1990 bis heute.
Natürlich blieben Herausforderungen auch über diese jeweiligen Schwellenjahre hinaus bestehen, trotzdem gibt es deutliche Akzentverschiebung.
In der ersten Phase bis 1945 stand die Landeskirche vor einem Berg von Problemen und Herausforderungen:
- a) Die Finanzsituation war desolat, der Bischof äußerte brieflich, sie sei bankrott. Die angeschlossenen Gebiete waren teilweise ökonomisch noch schwächer, so dass unmittelbar nach dem Zusammenschluss mit diesen Kirchenbezirken um Unterstützung von außerhalb beim Gustav Adolf-Werk, aber auch beim Deutschen Evangelischen Kirchenbund in Berlin, aber auch bei diversen Reichsregierungen angesucht werden musste. Interne Finanzreformversuche scheiterten, Hilfsgelder wurden aus Verzweiflung zum Stopfen von Haushaltslöchern verwendet, was die Reputation der Landeskirche beschädigte.
- b) Neben anderen Gründen war die Hauptursache für die desaströse ökonomische Lage die Enteignung von Kirchengemeinden und Landeskirche durch die Agrarreform 1921, die Auflösung der Sächsischen Nationsuniversität inklusive der ertragreichen Waldgebiete der Sieben-Richter-Waldungen südlich von Hermannstadt. Die bis dahin aus diesen Immobilien fließenden Erträge brachen weg, außerdem waren die sächsischen Finanzinstitute nicht mehr in der Lage, hohe Renditen zu erwirtschaften, um die Bedürfnisse zu befriedigen. Das breit ausdiversifizierte, von der Kirche getragene und gegen staatliche Assimilationsbestrebungen der ehemaligen ungarischen Politik hartnäckig verteidigte Schulwesen war der Augapfel des landeskirchlichen Kulturprotestantismus. Die Verbindung von „Kirche und Schule“ war deshalb essenziell, nicht zuletzt, weil dies auch der Minderheitenschutzvertrag von 1919 garantierte. Angesichts der ebenfalls auf Assimilation zielenden Schulpolitik der in der Zwischenkriegszeit regierenden Liberalen Partei galt eine Preisgabe der Schulverantwortung an den Staat als undenkbar. Praktisch um jeden Preis sollte die Schule als Garant der ethnischen Selbstbestimmung und Kulturerhaltung verteidigt werden. In der Weltwirtschaftskrise wurde zwar ein Abbau der Mehrzügigkeit beschlossen, aber die Einzelschule musste erhalten bleiben. Zwar gelang dieses Vorhaben in Siebenbürgen, doch in der Bukowina und Bessarabien gingen viele Schulen verloren, nicht zuletzt weil über bewusst schwammig gehaltenes staatliches Schulrecht der Minderheitenschutzvertrag faktisch missachtet wurde.
- c) Mit der von Bischof Friedrich Teutsch durchgeführten Generalkirchenvisitation war die Absicht verbunden, die Verbindung der Kirchenbezirke untereinander und der Gemeindeglieder mit der gesamten Landeskirche zu intensivieren. Die Regionen hatten unterschiedliche Bedürfnisse, die vom Bischof auch wahrgenommen und nach Möglichkeit auch einer Lösung zugeführt wurden. Besonders wichtig wurde dabei die Arbeit des Diaspora-Pfarrers Berthold Buchalla, dessen besonderes Augenmerk der Jugend galt, um sie für die evangelische Kirche und das „Deutschtum“ zu erhalten. Ihnen wurden nach Möglichkeit großzügig subventionierte Schulbildung in Hermannstadt ermöglicht, die sie von dem ständig erweiterten Internat, dem Diasporaheim in der Unterstadt erreichen konnten.
- d) Es wurde ein spirituelles Vakuum in den Gemeinden, aber auch in der Pfarrerschaft diagnostiziert. Deswegen gab es Initiativen zur theologischen Fortbildung von Pfarrern, aber auch die Evangelische Gesellschaft lud zu geistlichen Rüstzeiten und einer Intensivierung der Spiritualität ein. Dazu zählten auch die Anfänge der später verstärkten volksmissionarischen Arbeit in den Ortsgemeinden, welche auch nachhaltig vom Diakonissenhaus „Bethanien“ in Kronstadt ins Zentrum seiner Arbeit gerückt wurde.
Unter Bischof Glondys und Bischofsvikar D. Friedrich Müller wurden ab 1933 besonders auch junge Pfarrer nach Berlin Spandau zur Apologetischen Centrale geschickt, um dort entsprechende Kompetenzen zu erwerben und angemessenes argumentatives Rüstzeug sich anzueignen. Nur kurz zu erwähnen sind ähnlich ausgerichtete Bemühungen des Kronstädter Stadtpfarrers Dr. Konrad Möckel, der mit dem von ihm begründeten „Frecker Kreis“ ebenfalls einen starken Akzent auf gegenseitige Seelsorge, christliche Bruderschaft und vertieftes geistliches Leben innerhalb der Pfarrerschaft legte.
- e) Die beginnende Ökumenische Bewegung wurde von der Landeskirche begrüßt, nicht zuletzt, weil es schon seit den Tagen von Bischof Georg Daniel Teutsch eine Pflege guter Nachbarschaft zu anderskonfessionellen Kirchen Siebenbürgens gab. Das galt nicht nur für die privaten Beziehungen, sondern auch – trotz der nun in der Staats-Verfassung privilegierten Rumänischen Orthodoxie, welche als „dominante Kirche“ herausgehoben war, – auch für die offiziellen Beziehungen. Mit dem deutschfreundlichen Metropoliten Nicolae Bălan pflegte Bischof Glondys bewusst einen engen Austausch und Dialog in gegenseitigem Respekt.
- f) Weil in Kürze die Edition der LK-Protokolle 1919-1944 gedruckt vorliegen wird, folgt hier nur eine knappe Skizze:
Die größte Herausforderung stellte der Nationalsozialismus dar. Die Bedingungen für dessen Aufstieg, auch in der Landeskirche, waren äußerst komplex: nicht zuletzt die landläufig weitverbreiteten Enttäuschungen über die nach außen hin wenig erfolgreichen Aktivitäten der parlamentarischen und kirchlichen Elite im Bukarester Politikbetrieb, ja, ihr angebliches Versagen, ihr angeblich mangelnder Mut, die Rechte vor dem Völkerbund einzuklagen (damit aber einen absolut kontraproduktiven, innenpolitischen Scherbenhaufen zu provozieren), die zunehmende Verarmung aufgrund der Weltwirtschafts-Depression seit 1929, die als unerträglich empfundene Belastung durch die kirchliche Schulträgerschaft sowie die Wirkung der reichsdeutschen Propaganda über den scheinbaren deutschen Wiederaufstieg. Die vermeintliche Stärkung traditioneller Werthaltungen mithilfe der Lingua Tertii Imperii (Victor Klemperer), der naiv übernommenen, vielfach missverstandenen Naziparolen im auslandsdeutschen, speziell im rumäniendeutschen Kontext führte zu einer existenziellen Krise der Landeskirche. Rassismus und nationaler Dünkel, totalitäre Entmündigung, die nicht nur von außen, sondern auch als Selbstnazifizierung von Ihnen kam, die Auflösung einer gemeinsamen Grundhaltung, die finanzielle Strangulierung, aber auch Kompetenzmangel waren äußerst bedenkliche Erscheinungsformen, auf die die Führung der Landeskirche zu antworten hatte. Zunächst verfocht Bischof Glondys eine grundsätzliche Abwehr, dann unternahm er den Versuch der Eindämmung und Erhaltung der kirchlichen Sozialformationen von Bruder- und Schwesterschaften, Nachbarschaften, Frauenverein. Der Kampf um die Köpfe der Jugend mittels einer moderaten Modernisierung sollte eine Konkurrenz erst gar nicht aufkommen lassen. Doch die nationalsozialistische Konkurrenz wollte die Kirche ausschalten, also die ersatzlose Substitution.
Mit dem Einzug einer Mehrheit von Nationalsozialisten in das Landeskonsistorium 1938 erfolgte – trotz des Widerstrebens einer Minderheit – eine Selbstnazifizierung der Landeskirche. Sie gipfelte im Sturz von Bischof Glondys. Es folgten der Parteibefehl, Wilhelm Staedel zum Nachfolger zu bestimmen. Weil Staedel sich der Politik der Deutschen Volksgruppe vollständig unterwarf, lieferte er 1942 alle sogenannten völkischen Arbeitszweige (inklusive der Schule und der Sozialformationen) an die Deutsche Volksgruppe in Rumänien durch das aufgenötigte „Gesamtabkommen“ aus. Der beauftragte Hauptanwalt Andreas Scheiner propagierte statt der Volkskirche eine germanische „Volksreligion“. Doch es regte sich eine aktive Opposition, welche organisatorisch Bischofsvikar Müller führte. Besonders aber hat Altbischof Glondys die wesentlichen theologischen Argumente gegen diesen „nationalkirchlichen Angriff auf das Dogma der evangelischen Landeskirche“ – trotz der ausgeübten Zensur der Kirchenleitung – vorgetragen.
Infolge des Hitler-Stalin-Pakts (1939) wurden große Teile der rumäniendeutschen Bevölkerung „Heim ins Reich“ geholt; die Landeskirche verlor mehr als 110.000 Gemeindeglieder. Zu Abschiedsgottesdiensten fuhr Pfarrer Hans Petri in die Gemeinden der Dobrudscha; diese verabschiedeten sich auch von ihren Toten auf den Friedhöfen. Und es mischten sich unter die christlichen Töne auch die neue Ideologie: verschleiernd berichtet der Pfarrer, dass die Menschen nicht nur die rumänische Nationalhymne, sondern auch die beiden deutschen Lieder gesungen hätten – also nacheinander nicht nur das Deutschlandlied, sondern auch das Horst-Wessel-Lied.
In der zweiten Phase nach 1945 standen völlig andere Herausforderungen im Zentrum der Gemeinden und der Landeskirche:
Dies waren die Enteignung und Verarmung, die Entrechtung, Deportation zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, zugleich aber auch das zunächst nur vorübergehende, dann seit 1969 stetig zunehmende Ausbluten der Gemeinden. Während der 1945 neu gewählte Bischof D. Friedrich Müller unmittelbar nach dem Zusammenbruch zur Buße rief, hinterher aber aus taktischen Gründen den angeblichen „Widerstand“ in der Landeskirche gegen den Nationalsozialismus hervorhob, wurde die belastende Vergangenheit am liebsten totgeschwiegen, denn sie konnte als Material zur Erpressung dienen und wurde entsprechend auch eingesetzt. Schweigen, Schadensbegrenzung, Interventionen war die eine Seite, Nachbarschaftshilfe, Solidarität und Trost eine andere, Denunziationen eine weitere. Die meisten der Alterskohorten, die nach 1900, besonders nach 1910 oder 1920 geboren worden waren, hatten eine politisch belastete Vergangenheit, und die nutzte der kommunistische Staat weidlich aus. Die ganze Bandbreite menschlicher Haltungen sind auch in den Gemeinden und in der Landeskirche vorgekommen: unvermeidliche Kontakte mit dem Geheimdienst, aber klare und standhafte Abgrenzung; notwendige Kooperation im amtlichen Bereich; aber auch Kollaboration. Wenn Bischof Albert Klein einmal gewissermaßen apodiktisch über die NS-Zeit und ihre Folgen behauptete: „Wir haben unsere Zeche bezahlt“, war das im besten Fall die halbe Wahrheit. Dennoch: Kirchengemeinden und Landeskirche boten zugleich ein letztes „Sicherheitsnetz“ und einen Freiraum für den Balanceakt über dem Abgrund.
Antworten waren in den Neuaufbrüchen zu erleben. Dazu zählt beispielsweise die Gründung der Kantorenschule in Baaßen/ Almen mit Impulsen für den Gemeindeaufbau.
Obwohl die kirchliche Schulträgerschaft, institutionelle Diakonie und die grenzüberschreitenden Kontakte in der rumänischen Volksrepublik seit 1948 aufhören mussten, die Gängelung und Einschüchterung sowie Erpressung durch den Geheimdienst sowie über das Kultusministerium auch innerkirchlich zu einem Klima der Angst beitrug, die Isolation bedrückend war, lebte die christliche Gemeinde in anderer Weise auf. Nicht zuletzt war das Vereinigte protestantisch-theologische Institut mit Universitätsgrad, das zunächst in Klausenburg begründet worden war, und dessen deutsche, profiliert lutherisch ausgerichtete Abteilung 1955 nach Hermannstadt verlegt werden konnte, eine segensreiche Einrichtung. Weil ein Auslandsstudium unterbunden worden war, wurden die angehenden Geistlichen im Land selbst ausgebildet. Zwar waren die Umstände in jeglicher Hinsicht bescheiden, doch die Gemeinden standen hinter diesem Institut (im Bischofshaus)! Die Studierenden (bis 1958 auch Frauen) waren mit Ernst und Eifer dabei, und aus der Vergangenheit bekannte Defizite, besonders hinsichtlich der spirituellen und seelsorglichen Akzente, im Lebensstil und liturgischen Einübung wurden nun in der Hausgemeinschaft von Lehrenden und Lernenden vielfach überwunden. Bis etwa 1960 konnten die bestehenden Vakanzen praktisch alle besetzt werden, und die Gemeinden hatten alle ihren Pfarrer. Dies stärkte die Gemeinden innerlich und äußerlich.
Kasualien wurden zu fast 100 % begehrt, trotz zeitweiliger Behinderung konnten Konfirmandenunterricht und Konfirmationen nicht nur als Tradition gelebt, sondern zu einer intensiven Stärkung des Glaubens und zur Bindung an die Gemeinde werden. Jugendrüstzeiten im Gebirge waren legendär, und auch eine von Ort zu Ort verschiedene Retraditionalisierung war zu beobachten. Trotz der Überwachung bzw. Berichtspflicht konnten ab 1961 die ökumenischen Verbindungen zum Lutherischen Weltbund und zum Ökumenischen Rat der Kirchen aufgenommen werden. Zwar fehlten keineswegs die Schikanen bei der Ausfertigung der Reisepässe oder sonstige Unannehmlichkeiten, dennoch war die Ökumene eine wichtige Horizonterweiterung, nicht zuletzt auch deshalb, weil – wie 1970 auf der Schullerau – theologische Tagungen und Begegnungen mit internationalen ökumenischen Gästen im Land selber reichhaltige Impulse freisetzten. Sogar Gruppenreisen des Martin Luther Bundes haben in den besonders schweren 1980er Jahren die wichtigen Begegnungen ermöglicht und unkonventionelle Hilfe erlaubt. Trotz vielfältiger Hindernisse konnte die Partnerschaft zwischen Martin Luther Bund und Gustav Adolf Werk seit den 1960er Jahren verstetigt werden und so geistliche und materielle Herausforderungen bestehen helfen.
Aufbrüche gelangen unter Bischof Albert Klein in der Liturgie: Agende und Gesangbuch erschienen neu. Die landeskirchliche Orgelbauwerkstatt mit Hermann Binder pflegte die historischen Orgeln. Die Restaurierung der Altarretabeln wurde systematisch durchgeführt. Eine Lebensordnung wurde erarbeitet und gedruckt. Auch durften monatlich die Kirchlichen Blätter wieder erscheinen.
Nach 1990, in der bis in die Gegenwart reichenden Phase, haben wieder andere, ungeheure Umwälzungen Gemeinden und Landeskirche herausgefordert. In der Leitung standen auf geistlicher Seite Christoph Klein, Misch Gross, Hans Klein und Reinhard Guib sowie Daniel Zikeli, daneben Horst Haldenwang, Paul Niedermaier und Friedrich Philippi als Landeskirchenkuratoren und Hans Gerald Binder sowie Friedrich Gunesch als Hauptanwälte. Sehr knapp sollen die drei Jahrzehnte, die den meisten aber bekannt sind, hier skizziert werden:
Die Gemeinden wurden aufgrund der Abwanderung ausgezehrt; eine sehr kleine Zahl von inzwischen unter 12.000 Gemeindegliedern, die mit den Abbrüchen leicht an die Grenzen und über die Grenzen der Überforderung geführt wird, muss eine Überalterung bewältigen und hat sich stark sowie vorbildlich in institutionalisierter Diakonie engagiert, auch wenn in selbstkritischer Perspektive ein gewisses „zu viel“ eingestanden wurde. Schulunterricht, besonders Religionsunterricht stellt eine alltägliche Herausforderung dar, im Schülerheim in Hermannstadt werden Jugendliche auf ihrem Bildungsweg unterstützt, zugleich der Pfarrer-Nachwuchs, nachdem die deutsche Abteilung des theologischen Instituts 2006 in die Lucian Blaga Universität inkorporiert wurde, kontinuierlich, mit unterschiedlichem Zuspruch ausgebildet.
Überaus erfreulich ist die Jugendarbeit sowohl in einzelnen Gemeinden, ganz besonders aber auch über Gemeindegrenzen hinweg auf der gesamtkirchlichen Ebene – unterstützt durch das Forum.
In einer Zeit des Umbruchs, in der die hergebrachten Ordnungen ins Rutschen gerieten, steht auch die Rechtsordnung immer wieder auf dem Prüfstand, nicht nur in den 1990er Jahren, in denen die seit 1861 geltende Grundstruktur noch einmal angepasst wurde, sondern auch aktuell wieder, wenn es um die zukunftsfähige Struktur und das verlässliche Handeln von Gemeinden, Bezirken und Landeskirche geht. Seit 1921 waren Frauen wahlberechtigt und wählbar. In der Zwischenkriegszeit spielte das bei der Zusammensetzung der Leitungsgremien kaum eine Rolle, verstärkte sich aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und heute ist es nicht nur selbstverständlich, sondern oft auch bewundernswert, wie vielseitig und vielerorts mehrheitlich sich Frauen auf allen Ebenen maßgeblich engagieren, an vorderster Stelle Verantwortung tragen, besonders in der landeskirchlichen Frauenarbeit. Nicht zuletzt sind Frauen auch – trotz geäußerter Bedenken – als Pfarrerinnen ordiniert und wirken in vielen Gemeinden segensreich.
Das materielle Kulturerbe ist Verpflichtung, Herausforderung und Last: Kirchenburgen, Rückgabe von teils ruinösen Immobilien, Verkauf von Grundstücken und Pfarrhäusern, Verantwortung für Archive, Museen aber auch lebendige Kirchenmusik samt der zu pflegenden bedeutenden Orgellandschaft. Erfreuliche Groß-Restaurierungen haben nicht nur dörfliche Kirchengemeinden mithilfe von HOGs oder Kooperationen (mit der EU im Kirchenburgenprojekt) bewältigt, sondern auch die Stadtgemeinde Schäßburg, Kronstadt, Bistritz und Hermannstadt. Die mittelalterlichen Ausstattungsreste in beachtlicher Qualität erfreuen heute Gemeinden und internationalen Besuch. Zum Kulturerbe zählt auch das Evangelische Gesangbuch, nun auch in rumänischer Sprache, das in vielerlei Weise heute nötig und in Gebrauch steht. Damit ist auch die Sprachenfrage verbunden: und dass als eine frühe Reaktion auf dieses Gesangbuch ein „satis est“ (es ist genug) laut wurde, zeigt, dass hier bei einigen ein wunder Punkt getroffen wurde. Praktisch aber wird inzwischen selbstverständlich die rumänische Sprache vor allen Dingen bei der Verkündigung verwendet, sofern dies für die anwesende Gemeinde sowie die Gäste angebracht scheint. Die Frage ist noch nicht zu Ende diskutiert.
Seit der Initiative von Gerhard Möckel soll die Evangelische Akademie Siebenbürgen im neu errichteten Hans Bernd von Haeften-Haus als zivilgesellschaftliches und theologisches Denk-Labor auch über den Rahmen der Landeskirche hinaus dienen. Selbst wenn die Diskussionskultur in der Zwischenkriegszeit entwicklungsfähig war, wurde doch heftig diskutiert. Nach 1945 wurden Entscheidungen vom Kultusdepartement vorgegeben, und Diskussionen waren oft unerwünscht, oder es drohten hinterher nachteilige Folgen. Gremiensitzungen bis hin zum Landeskonsistorium waren diskussionsarm. In einer partizipativen Demokratie, wie sich die gültige Kirchenordnung präsentiert, bedarf es einer ausgeprägten Diskussionskultur, die öffentlich Verantwortung übernimmt, zivilgesellschaftlichen Einsatz fördert, wofür beispielsweise die Diskussion um den Funpark in Schäßburg zählt oder das Bemühen um die grüne Kirchenburg in Hammersdorf. Eine entsprechende Diskussionskultur ist selbstverständlich auch erforderlich für die zwischenzeitlich regelmäßigen Kuratorentage. Aber auch bei den Visitationen besteht eine besondere Herausforderung darin, das Sprachgefälle sensibel zu berücksichtigen.
Wesentlich ist dies auch im ökumenischen Dialog, der vor dem Hintergrund der Europäischen Ökumenischen Versammlung in Hermannstadt 2007 eine besondere Herausforderung, große Chance, aber auch Verpflichtung für die siebenbürgischen Kirchen darstellt. Die Beteiligung an den Dialogen zwischen der EKD und der Rumänischen Orthodoxie erweist immer wieder, wie die hiesigen Diskutierenden dazu in der Lage sind, Brücken zu bauen.
Aufstehen nach den Stürzen – Aufbrüche: Nach den großen Umbrüchen in der Mitte und am Ende des 20. Jahrhunderts waren es besonders reformatorisch begründete Einsichten, die dabei geholfen haben, die zum Teil verheerende Vergangenheit, die Verstrickung in Unrecht und Irrtum ansatzweise zu überwinden. Insbesondere die Rechtfertigung des sündigen Menschen, also der auf dem eigenen Kerbholz verzeichneten Vergangenheit, ohne Vorleistungen und allein aus Gnade durch die Erlösung in Jesus Christus am Kreuz in Reue und im Glauben vergeben zu bekommen, war dafür entscheidend. Über die bereits gegebenen Antworten der Vergangenheit zeichnen sich Perspektiven ab, die sowohl damals als auch heute Zuversicht geben.
Diese hoffnungsreichen Perspektiven sind internationale Solidarität und Partnerschaft von Christen weltweit, mündige und selbstbewusste Kreativität im Heiligen Geist, geistliche Erneuerung, Stärkung und Revitalisierung von Verantwortung der sogenannten Laien, konfessionsübergreifender Dialog und Kooperation aus einer souveränen Haltung heraus in gegenseitiger kritischer Solidarität. Das ist in den erinnerten und vergegenwärtigten 100 Jahren, einmal mehr, und an anderen Stellen weniger gelungen oder gescheitert. Aber die Zuversicht, die Parrhesia als Wirkung des durch die Gemeinde schreitenden Christus (Bonhoeffer), als Wirkung des Heiligen Geistes eröffnet Zukunft, und zwar innerweltlich, ökumenisch und ökologisch sowie in eschatologischer Verantwortung und Erwartung, weil die mündige evangelische Gemeinde nicht einer Pflichtethik folgt, sondern – wie wir seit 500 Jahren gewiss sind – aus der rechtfertigungstheologisch begründeten Freiheit eines Christenmenschen.
Bild: Begrüßung von DEK-Auslandsbischof Dr. Theodor Heckel, Landesbischof Dr. Viktor Glondys durch den Stadtpfarrer August Schuster anlässlich der Einweihung des Lutherheims für Volksmission 1939 in Heltau (alle mit „Deutschem Gruß“). In der Mitte stehen Landeskirchenkurator Dr. Hans Otto Roth mit Gattin, die den Gruß verweigern. / aus dem Archiv des Autors.
Ulrich A. Wien