Leider bedarf es beim Namen Viadrina immer noch einer geografischen Nachhilfe: gemeint ist die in Frankfurt „an der Oder gelegene“ (lateinisch: viadrina), an der Grenze zu Polen befindliche heutige Europa-Universität. In Wirklichkeit feiert die Hochschule einen doppelten Geburtstag: 1506 wurde sie gegründet (und 1811 in das damalige preußische Breslau verlegt); ihre Wiedergründung in Frankfurt (Oder) erfolgte 1991 im Zuge der friedlichen Revolution als eine am zusammenwachsenden Europa orientierte Universität; die Lage am Grenzfluß Oder ist diesbezüglich ein hervorragender Standort. Bemerkenswert ist, daß diese „Auferstehung“ das Ergebnis einer breiten Bürgerinitiative der Frankfurter gewesen war. Die damals politisch Verantwortlichen im neugegründeten Land Brandenburg – unter ihnen Ministerpräsident Manfred Stolpe und Kultusminister Hinrich Enderlein – haben das Projekt vorbehaltlos unterstützt.
Zur Historie: Am 26. April 1506 gründete Kurfürst Joachim I. die erste brandenburgische Landesuniversität in Frankfurt, damals eine der größten und wirtschaftlich stärksten Städte in der Region, denn die Oder war eine bedeutende Verkehrsader. Ein weiterer wichtiger Grund war die Überlegung des Kurfürsten, zum Auf- und Ausbau der Landesherrschaft qualifiziertes Personal zu benötigen; die Universität wurde nicht nur eine Stätte der Wissenschaft, sondern auch eine Staatsdienerschule. Mit 950 Studenten war sie anfangs die größte deutsche Hochschule. Berühmte Absolventen in der ersten Phase ihrer Existenz waren unter anderen Ulrich von Hutten, Thomas Müntzer, Christian Thomasius, Carl Philipp Emanuel Bach, Samuel von Cocceji, Carl Gottlieb Svarez, Wilhelm und Alexander von Humboldt, Heinrich von Kleist. Allein diese Aufzählung zeigt die Bedeutung der Universität vom 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts weit über Grenzen Brandenburgs und Preußens hinaus. Schon damals besuchten viele Studenten aus Polen, Rußland und den baltischen Ländern die Viadrina.
Durch eine Kabinettsorder wurde am 3. August 1811 das Ende der Universität in Frankfurt und ihre Überführung nach Breslau verfügt. Ein Grund dafür war offensichtlich die Konkurrenz zur neugegründeten Berliner Universität in der nahe gelegenen preußischen Hauptstadt. Alle Proteste von Hochschullehrern, Studenten und Bürgern der Stadt Frankfurt waren vergebens.
Unter völlig anderen politischen Rahmenbedingungen, Deutschland hatte im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges seine Ostprovinzen verloren, die Oder wurde zum Grenzfluß zu Polen, konnte die Viadrina – als Europa-Universität – wiederentstehen. Zum 15. Geburtstag der Wiedergeburt schreibt die Märkische Oderzeitung am 21. April 2006: „Die erneute Gründung der Viadrina wäre ohne die Bürgerbewegung 1989 undenkbar gewesen.“ Die Universität wurde am 6. September 1991 feierlich eröffnet. Ihr Profil orientiert sich an der reichen Tradition der alten Viadrina und an den Entwicklungen und Herausforderungen im zusammenwachsenden Europa. Die Lehrangebote in den drei Fakultäten Rechts-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften folgen diesen Zielen. In den Kulturwissenschaften müssen die Studenten drei der vier Fremdsprachen Deutsch, Französisch, Polnisch und Englisch obligatorisch belegen. Das ist bisher einmalig in Deutschland. Die Brückenfunktion zu Polen wird durch das Collegium Polonicum (gegründet 1992) dokumentiert. Es ist eine gemeinsame wissenschaftliche Einrichtung der Viadrina und der Adam-Mickiewicz-Universität Posen. Es liegt unübersehbar an der Stadtbrücke, die Frankfurt mit Słubice verbindet. Die Brücke ist ein wichtiger Übergang von Polen nach Deutschland und umgekehrt. Słubice hieß in deutscher Zeit Dammvorstadt und war ein Stadtteil von Frankfurt. Die Zusammenarbeit zwischen der Viadrina, dem Collegium Polonicum und der Posener Universität erfüllt in besonderer Weise den Gründungsauftrag und Schwerpunkt der Frankfurter Hochschule, nämlich die deutsch-polnische Zusammenarbeit in einem zusammenwachsenden Europa. Hier wurde der 1. Mai 2004, der Beitritt Polens zur EU, zu einem Schlüsseldatum.
Das Festprogramm zum 500. Jubiläum begann am 26. April 2006, am Gründungstag des Jahres 1506. Das gesamte Sommersemester bietet als Festsemester unter dem Motto „Universität und Stadt“ zahlreiche Veranstaltungen und Projekte an, auch um die Menschen in und um Frankfurt noch näher an ihre Universität heranzuführen. Hier besteht durchaus Nachholbedarf. Positiv kann allerdings registriert werden, daß etwa ein Drittel der Studierenden aus dem Land Brandenburg kommt.
Zweifellose Höhepunkte dieses Festtages waren die Überreichung der Ehrendoktorwürden an den ehemaligen polnischen Außenminister Bronisław Geremek und den namhaften deutschen Historiker Fritz Stern, der seit seiner Emigration in den USA lebt. Beide sind Juden, deren Lebensläufe wesentlich durch die Ära des Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit bestimmt wurden. Geremek stand im aktiven Widerstand gegen die Nazis im besetzten Polen, wurde Mitglied der kommunistischen Partei, lehnte als Historiker aber schon bald die „politisch verseuchte Zeitgeschichte“ mit ihrer geistigen Atmosphäre ab. Als Refugium wählte er die zeitlich entfernte mittelalterliche Geschichte; Geremek wuchs schrittweise „aus der offiziellen Diskussionswelt des Ostblocks hinaus“, wie Laudator Rudolf von Thadden es formulierte. Geremek unterstützte zusammen mit Tadeusz Mazowiecki von Anbeginn an die Gewerkschaftsbewegung der Solidarność. Mit Fug und Recht darf behauptet werden: ohne 1980 kein 1989. Seine große Vision war und ist Europa. Bewegend waren seine Dankesworte: „In meiner Jugend hatte ich kaum Gründe, Deutschland zu lieben. Denn Auschwitz wurde zum Grab meiner Familie. Heute aber sind die Deutschen unsere Freunde. Und für die Zukunft meines Landes Polen sind gute Beziehungen zu Deutschland besonders wichtig.“
Fritz Stern, in Breslau geboren, mußte 1938 mit seinen Eltern nach New York fliehen. Stern zählt zu den namhaftesten deutschen Historikern, sein bekanntestes Werk ist „Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder“ (1977). 2005 erhielt er den Deutschen Nationalpreis, das Preisgeld stiftete er für die Zusammenarbeit der Viadrina mit dem Willy-Brandt-Zentrum in Breslau. Daraus wurde ein „Fritz-Stern-Studienprogramm“ zum Austausch von Nachwuchswissenschaftlern. Stern fühlt sich als Kind des Oderstroms, er ist hier zu Hause. In der Viadrina sieht er ein ganz wichtiges Element für eine Verständigung zwischen Deutschland und Polen in Europa.
In der Frankfurter Universität sind gegenwärtig 4.879 Studierende immatrikuliert, davon kommen 1.227 aus Polen; insgesamt studieren hier Angehörige von siebzig Nationalitäten. Relativ wenige polnische Studenten wohnen wegen des Preisniveaus auf der deutschen Seite der Oder, die polnischen Wohnheime sind deutlich billiger. Zahlreiche Studenten pendeln zwischen Frankfurt und Berlin. Im benachbarten Collegium Polonicum lernen etwa 1.300 Studierende, davon 250 Deutsche. Diese Zahlen zeigen ganz deutlich, daß die Viadrina alles andere als eine Massenuniversität ist, hier wird – und das ist für die Studierenden von außerordentlicher Bedeutung – eine persönliche Betreuung und Beratung durch die Hochschullehrer praktiziert. In den letzten Jahren wurde der Ausbau der Universität durch das Auditorium Maximum und das Gräfin-Dönhoff-Gebäude weiter vorangetrieben. Eine ständige Sorge der Präsidentin Gesine Schwan sind die Finanzen; gern vergleicht sie ihre Hochschule mit fast fünftausend Studierenden und einem jährlichen Etat von 19,5 Millionen Euro mit der Universität Erfurt – ebenfalls Neugründung einer mittelalterlichen Universität – mit viertausend Studierenden und 24 Millionen Euro. Hier scheint aber Land in Sicht zu sein; der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte nicht nur fünfzig Millionen Euro, sondern auch Unterstützung bei der Umwandlung in Stiftungsuniversität zugesagt, dies würde der Hochschule mehr Freiräume ermöglichen. Die Brandenburger Kultusministerin Johanna Wanka kündigte in ihrer Begrüßung die konkrete Umsetzung an. Damit ist der Weg frei für die weitere positive Entwicklung der Europa-Universität, die – so hofft der Bürgermeister Martin Patzelt – Frankfurt jünger, lebendiger und attraktiver macht. Nötig hat es die Stadt, die immerhin mit Bahn und Straße über die wichtigsten Verkehrsverbindungen von Mittel- und Westeuropa nach Ostmitteleuropa und Osteuropa verfügt.
Bild: Siegel der Viadrina / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.
Karlheinz Lau (OGT 2006, 214)