Ereignis vom 1. Januar 1907

Die Gründung des „Bundes der Christlichen Deutschen“ in Ganzen

Deutsche Siedlungen in Galizien 1913

Nach der ersten Teilung Polens und dem Anschluss Galiziens an Österreich rief Kaiserin Maria Theresia „Handelsleute, Künst­ler, Professionisten und Handwerker“ in die Städte des Landes. In diesem siedelten später die Kaiser Josef II. und Franz II. Bauern aus Südwestdeutschland an. Noch später führten polnische Großgrundbesitzer einige Privatkolonisationen mit Deutschen aus dem Böhmerwald durch. Von den österreichischen Ansiedlungsbehörden wurden die deutschen Kolonisten über das riesengroße Land verteilt, um die dort herrschenden schlechten Verhältnisse zu bessern. Der großen Entfernun­gen wegen entwickelte sich zwischen den Kolonisten kein Ge­meinschafts- und Volksgruppensinn, zumal sie konfessionell in Lutheraner, Kalvinisten und Katholiken gespalten und stammesmäßig und mundartlich unterschiedlich waren. Sie wurden bald von den Österreichern ihrem Schicksal überlassen und entbehrten lange einer sich um ihre Anliegen kümmernden galiziendeutschen Führung.

Die Kolonisten waren meist auf kleinen Höfen angesiedelt, die für ihren Nachwuchs nicht geteilt werden durften, und die Dörfer verfügten über wenig Raum zur Errichtung neuer Wirt­schaften. Die Bauern mussten Land dazu kaufen, Tochtersiedlungen anlegen oder in umliegende slawische Dörfer einsiedeln. Nach und nach wurde ihnen auch das erschwert durch zunehmende Landpreise und wirtschaftliche Nöte, besonders in Gegenden mit schlechtem Ackerboden. Der Geld- und Warenwucher erfasste fast jedes Dorf, brachte Teile der bäuerlichen Bevölkerung in Bedrängnis und erschütterte die Stabilität vieler deutscher Dörfer.

Zu diesen wirtschaftlichen Sorgen gesellten sich bald politische, als Galizien im Zuge der österreichisch-ungarischen Ausgleichsverhandlungen 1867 die Landesautonomie erhielt. Nun wurde den Polen die Führung des Landes übertragen. Sie nutzten sie in jeder Beziehung zu ihrem Vorteil und zum Nachteil der nichtpolnischen Bevölkerung. Sie verstanden es, dem Lande die Stellung eines fast unabhängigen polnischen Staates zu verschaffen und den Einfluss der Wiener Zentralregierung auf ein Mindestmaß zu beschränken. Sie begannen mit der Verdrängung der deutschen Sprache in den Behörden, in den deutschen Schulen und in den Kirchen der deutschen Katholiken. Ziel der polnischen Politik war die Assimilierung der deutschen Minderheit, d.h. ihr Aufgehen im polnischen Volkstum, wie dies ja einst im Mittelalter auch gelang. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verfiel auch der größte Teil der im Lande verbliebenen deutschen Beamten- und Bürgerschicht der Polonisierung. Ausgesetzt waren ihr die meisten deutschen Schulen und Kirchen in den katholischen Dörfern. Auch ein Großteil der deutschen Jugend, die nach der Stadt gezogen war, wurde polonisiert. In den Städten machten sich die ersten evangelischen Polen bemerkbar, die fast durchwegs deutscher Abstammung waren. Deutsch blieb im wesentlichen nur die ländliche Bevölkerung, vor allem ihr evangelischer Teil, der durch die deutsche evangelische Kirche geschützt war, die auch das evangelische Schulwesen betreute und von ausländischen evangelischen Hilfseinrichtungen wie dem Gustav Adolf-Ver­ein finanziell unterstützt wurde.

Der wirtschaftliche Niedergang einerseits und der politische Druck der Polen andererseits erzeugten unter den Deutschen eine um sich greifende Unzufriedenheit mit ihren Lebensverhältnissen. Viele resignierten und begannen, Auswanderungspläne zu schmieden. Durch Verkauf ihrer Anwesen auf dem Lande öffneten sie dadurch auch den ersten Nichtdeutschen den Zuzug in zahlreiche damals noch rein deutsche Dörfer. Die ersten Auswanderer zogen in kleineren und größeren Gruppen ab 1861 weiter nach Russland, ab 1864 nach Kongresspolen bzw. Wolhynien, andere in der gleichen Zeit nach der Bukowina, nach Bessarabien und der Dobrudscha, ab 1878 auch nach Bosnien. Die Familie des Bundespräsidenten Köhler ist dafür ein Beispiel: Seine Vorfahren siedelten nach gegenwärtigem Erkenntnisstand ursprünglich in Galizien und zogen später von dort weiter in die 1865 gegründete bessarabiendeutsche Siedlung Ryschkanowka (oder Rischkani-Kolonie), 38 km nordwestlich der Kreisstadt Beltz (Bălti). Als sich in den achtziger Jahren die Vereinigten Staaten als Einwanderungsland öffneten, setzte eine starke Auswanderung aus den evangelischen und katholischen Kolonien nach Amerika ein, der auch in den folgenden Jahrzehnten nicht aufhörte. So wanderte 1896 Anton Schreyer aus dem katholischen Beckersdorf Nr. 46 nach Kanada aus. Sein Enkel „Ed“ Schreyer, geboren 1936, war 1969-1977 Ministerpräsident von Manitoba und danach Generalgouverneur von Kanada. Bei seinem Staatsbesuch in Deutschland 1983 nahm er auch Kontakte zu Landsleuten aus Beckersdorf und Verwandten aus Bruckenthal auf.

Einen dramatischen Höhepunkt erlebte die Auswanderung, als die 1885 gegründete Königlich-Preußische Ansiedlungskommission und die 1903 gegründete Centralstelle zur Beschaffung deutscher Ansiedler unter ihrem Geschäftsführer von Pilis Werber nach Galizien sandte und hauptsächlich evangelische Siedler in das Posensche Land lockte. Nach Walter Kuhn verließen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etwa 14.000 evangelische Deutsche Galizien, also ein Drittel des Ausgangsbestandes. Davon zogen etwa 10.000 nach Posen-Westpreußen. Die Gesamtsumme der deutschen Abwanderung beiden Bekenntnisses bezifferte er auf 42.000 bis 45.000 Personen. Die wirtschaftlichen und politischen Nöte jener Jahrzehnte hatten die Bodenständigkeit der Bauern bereits so stark unterhöhlt, dass sie jede Gelegenheit wahrnahmen, sich nach besseren Siedlungs- und Lebensbedingungen umzusehen. Ganze deut­sche Dörfer verschwanden damals von der Landkarte, die Existenz anderer wurde durch den Wegzug von Bauern und den Verkauf ihrer Wirtschaften an Polen und Ukrainer im Hinblick auf die Bewahrung ihres evangelischen Glaubens, ihrer evangelischen Schulen und ihres deutschen Volkstums stark gefährdet. Beispielsweise gingen in Landestreu, einst eine wahre Perle unter den evangelischen Siedlungen Galiziens, 36 von 66 deutschen Wirtschaften in polnischen Besitz über, Siedlungen wie Gillershof, Deutschbach, Kuttenberg und Moosberg verloren ihre gesamte deutsche Bevölkerung.

Die evangelischen Pfarrer Galiziens erschraken über das Auswanderungsfieber, das sich ihrer Pfarrkinder bemächtigte und sannen auf Abhilfe, denn bei einem weiteren ungehemmten Fortgang wären fast alle deutschen Siedlungen auf diese Weise eingegangen. Doch gerade diese „drohende Gefahr erweckte Besinnung und Abwehr“ (Kuhn). Der Selbstbehauptungswille und das Nationalgefühl der Galiziendeutschen waren erwacht. Theodor Zöckler, Pfarrer in Stanislau, berief 1903 eine Vertrauensmännerversammlung nach Lemberg ein, die sich einstimmig gegen die Auswanderung aussprach. Er erkannte die Gefahren, die sich aus dem Schrumpfen der deutschen Bevölkerungszahl und des deutschen Besitzstandes sowie aus dem Einzug von Nichtdeutschen in die deutschen Dörfer für den Bestand der evangelischen Kirchen- und Schulgemeinden und somit auch für die kirchliche und schulische Betreuung der Zurückleibenden ergaben und suchte sie zu bannen. Zuvor berieten die Theologen über die Frage, ob ein gläubiger Christ sich auch mit Volk und Vaterland verbunden fühlen darf und „ob wir uns als Pfarrer nach Luthers Verständnis an völkischen und wirtschaftlichen Bestrebungen beteiligen dürfen“. Unter keinen Umständen dürfte die erste Aufgabe, die Verkündigung des Evangeliums, darunter leiden, lautete die Antwort. Daraufhin wurde ein Aktionskomitee gegründet, dessen Ziel es war, den Exodus der Galiziendeutschen einzudämmen. Die evangelische Kirchenleitung gründete dazu 1904 als Presseorgan das Evangelische Gemeindeblatt für Galizien und die Bukowina, das bis 1939 Bestand hatte und in dem gegen die wilde Auswanderung Stellung bezogen wurde.

Auch führende deutsche Katholiken erkannten, in welcher Gefahr das kleine und zersplitterte Häuflein Deutscher in Galizien schwebte. Besonders in dem aus dem Egerland stammenden Militärtierarzt Josef Schmidt erwuchs den Galiziendeutschen neben Zöckler eine weitere Führungspersönlichkeit, dessen Wort, „die Galiziendeutschen können sich nur als Deutsche behaupten, wenn sie sich ohne Rücksicht auf Stand und Religion zusammenschlössen“, zündete. Schmidt nahm Verbindung zu Pfarrer Zöckler auf, und beide Männer waren sich bald einig, dass ein Schutzverein nötig sei, um den „Deutschtumsgedanken“ wieder Allgemeingut werden zu lassen. Sie beschlossen, einen überkonfessionellen „Bund“ der evangelischen und katholischen Galiziendeutschen nach dem Vorbild der in anderen Regionen Österreichs bereits bestehenden Schutzvereine zu gründen. Seine Aufgabe sollte darin bestehen, das völkische, wirtschaftliche und geistige Wohl aller Deutschen in Galizien zu fördern.

Diese Gründung unter dem Namen Bund der christlichen Deutschen in Galizien erfolgte am 8. Juli 1907 durch 400 geladene evangelische und katholische Vertrauensmänner. Es war eine denkwürdige Versammlung, weil zum ersten Mal die bisher getrennt lebenden katholischen und evangelischen Deutschen zusammenkamen, um auf völkisch-wirtschaftlicher Grundlage ein Werk zu schaffen, das allen gleich großen Nutzen bringen sollte. Als Spachrohr des Bundes wurde eine eigene Zeitung gegründet, das Deutsche Volksblatt für Galizien. Außerdem entstand zur Wahrnehmung der politischen Interessen der Galiziendeutschen Der deutsche Volksrat für Galizien. Unsere Vätergeneration wertete diese Gründungen im Jahre 1907 als einen Wendepunkt in der Geschichte der Deutschen in Galizien. Diese waren erwacht, ihr Leben hatte ein neues Ziel und einen neuen Inhalt erhalten, die Zeit war vorbei, in der sie sich mit der Rolle eines zum Untergang bestimmten, gefügigen Elements zufrieden gaben, es begann die Zeit des Kampfes um die völkische Selbstbehauptung (Sepp Müller). Ein Jahr später wurden Raiffeisenkassen gegründet und mit ihnen dem Geld- und Warenwucher der Kampf angesagt.

Der Bund bemühte sich sogleich um die Zusammenführung der sich im Wesentlichen fremd gegenüber stehenden deutschen Bevölkerung durch Aufbau von Ortsgruppen. Tatsächlich entstanden in kaum sieben Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 108 solcher Ortsgruppen. Es wurden – teils mit eingestellten Wanderlehrern – Versammlungen und Vorträge abgehalten, Familienabende veranstaltet, Büchereien angelegt, Lesevereine gegründet, Deutsche Häuser als Mittelpunkte des deutschen Lebens geschaffen und Spar- und Darlehenskassen ins Leben gerufen. 41 solcher Kassen entstanden bis 1914. Sie befreiten einen Großteil der deutschen Bevölkerung aus den Händen des Wuchers und verhalfen zum Ankauf von tausenden Morgen bäuerlichen Grundes sowie von zahlreichen städtischen Wirtschaftseinrichtungen. Besonders kümmerte sich der Bund um das galiziendeutsche Schulwesen. Schon 1907 führte er Beschwerde beim Wiener Unterrichtsministerium über die Polonisierung der deutschen katholischen Schulen durch die Landesschulbehörden. Er bewog den Wiener Deutschen Schulverein und auch den Verein für das Deutschtum im Ausland, sich mit Spenden für das galiziendeutsche Schulwesen zu engagieren mit dem Ergebnis, dass bis zum Weltkriegsausbruch in sieben katholischen Gemeinden deutsche Privatschulen gegründet und mit dem Ausbau und den Neugründungen evangelischer Schulen insgesamt 25 neue Schulen bzw. Schulklassen entstehen konnten.

Der Bund gab ab 1909 jährlich einen Zeitweiser der Galiziendeutschen heraus, den das Hilfskomitee der Galiziendeutschen ab 1954 wieder ins Leben rief und von dem es gegenwärtig 47 Jahrgänge gibt. Er schuf drei deutsche Siedlungskarten von Galizien und 1914 ein Sammelwerk Das Deutschtum in Galizien. Seine geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Lage. Er schuf den Verein deutscher Lehrer in Galizien und bereitete mit dem Verein deutsche Mittelschule die 1918 erfolgte Gründung des deutschen Lemberger Privatgymnasiums vor. Er kümmerte sich um den Erhalt des deutschen Kulturerbes und nahm auch Einfluss auf anstehende Parlamentswahlen.

Leider zerstörten der baldige Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Okkupation Galiziens durch die russischen Truppen, die hinterlassenen schweren Zerstörungen und Menschenverluste, die Niederlage und Aufsplitterung Österreichs, der anschließende polnisch-ukrainische Krieg auf diesem Territorium und die Inbesitznahme Galiziens durch Polen viele dieser hoffnungsvollen Ansätze. Nachdem seine segensreiche Arbeit im Ersten Weltkrieg eingeschränkt und im polnisch-ukrainischen Krieg ganz unterbrochen werden musste, reaktivierte sich der Bund 1922 und organisierte die nächste Jahreshauptversammlung am 17. März 1923 in Lemberg als Großveranstaltung mit 700 Teilnehmern, herausragenden deutschen Beiträgen und zahlreichen auswärtigen Delegierten, darunter deutschen Sejm­abgeordneten und anderen führenden Persönlichkeiten aus den westpolnischen Gebieten. Die Kundgebungen und die Demonstration der neuen Verbindung zu deutschen Institutionen im westpolnischen Raum missfielen den polnischen Behörden. Kurzerhand lösten sie im April 1923 den Bund auf und zerschlugen damit die junge Gemeinschaft der deutschen Evangelischen und Katholiken. Die Evangelischen scharten sich fortan erneut um ihre deutschgeprägte evangelische Kirche, die deutschen Katholiken fanden ab 1925 Anlehnung an den Verband deutscher Katholiken. Obwohl nun die lenkende Zentralstelle mit ihren Ortsgruppen als Träger der praktischen Arbeit fehlte, hatten die Galiziendeutschen inzwischen doch so viel Erfahrung gesammelt, dass sie sich nicht mehr einschüchtern ließen, sich gegen polnische Restriktionen zu wehren wussten und die frühere Bundesarbeit im Grundsatz bis zu ihrer Umsiedlung 1939/40 fortzusetzen verstanden.

Bild: Deutsche Siedlungen in Galizien 1913 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Erich Müller (OGT 2007, 362)