Ereignis vom 1. Januar 1908

Die Gründung des Germanistik-Lehrstuhls Jassy

Jassys Lage

Die Stadt Jassy (rumän. Iaşi) war bis 1859, als die Fürstentümer Moldau und Walachei zum nachmaligen Königreich Rumänien zusammen gelegt wurden, Hauptstadt der Moldau, zu der auch die heutige Bukowina und das östlich vom Pruth gelegene Bessarabien (heute zum Teil: Moldawien) gehörten. In zahlreichen moldauischen Städten lebten deutsche Minderheiten, auch in Jassy. Dennoch kann man erst seit dem 19. Jahrhundert ein steigendes Interesse an deutscher Kultur und Sprache feststellen. Bojarenfamilien hielten sich zwar seit Ende des 18. Jahrhunderts deutsche Hauslehrer, aber erst 1830 wurde Deutsch Pflichtfach an Gymnasien in Jassy. An der Michaels-Akademie (Academia Mihăileană), die über zwei Fakultäten (Jura, Philosophie) verfügte, hielt der siebenbürgische Jurist Christian Flechtenmacher Vorlesungen über deutsche Literatur. 1860 erhielt Jassy die erste rumänische Universität an der zahlreiche Professoren tätig waren, die an deutschen und österreichischen Universitäten ausgebildet worden waren.

Erst 1905 wurde in Jassy, zeitgleich mit Bukarest, ein Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur gegründet. Während in Bukarest aber Simeon Mândrescu (1868-1947), zuvor Gymnasiallehrer in Jassy, den Ruf erhielt, wurde der Lehrstuhl in Jassy erst im Jahre 1907 von Traian Bratu – er war ebenso wie Mândrescu Siebenbürger – als außerordentlicher Professor betreut. 1916 wurde Bratu Ordinarius und leitete den Lehrstuhl bis zu seinem frühen Tod 1940. Danach gab es bis 1945 nur Vertretungen (Virgil Tempeanu, 1888-1984).

Bis zur Lehrstuhlgründung hatte es in Jassy unter den zahlreichen Deutschlehrern zahlreiche gute Lehrbuchautoren gegeben, zum Beispiel Zaharia Columb (1816-1878), der schon 1855 eine kontrastive deutsch-rumänische Grammatik herausgegeben hatte. Außerdem waren Lexikographen am Werk (Theodor Stamati, der 1852 ein Fremdwörterbuch nach deutschen Vorlagen erarbeitete, Hariton Tiktin, dessen rumänisches Wörterbuch 1986-1989 neu herausgegeben wurde, weil es sich als Grundlagenwerk erwiesen hatte). Außerdem betätigten sich die Deutschlehrer publizistisch und als Übersetzer. Damit hatten sie auch für die Hochschulgermanisten Vorarbeiten geleistet: Traian Bratu promovierte in Berlin bei Erich Schmidt über Fouqués Lyrik (1908), übersetzte Goethes Clavigo und Stella, setzte sich mit der Frage der deutschen Minderheiten in Großrumänien (1918-1940) auseinander und war als Amtswalter der Universität – er war mehrmals Dekan der Philosophischen Fakultät, ebenso Rektor der Universität Jassy und Präsident der rumänischen Abgeordnetenkammer – im Kulturleben der Stadt eine wichtige Persönlichkeit. Da er gegen den aufkommenden Rechtsextremismus aktiv wurde und jegliche politischen Kundgebungen innerhalb der Universität untersagte (Jassy war ein Zentrum der profaschistischen Bewegung in Rumänien), wurde Bratu 1938 Opfer eines Attentats, an dessen Folgen er zwei Jahre später starb. Er war – wie seine Vorgänger unter den Deutschlehrern (Botezatu, Meissner) – politisch aktiv und festigte das Ansehen des Germanistiklehrstuhls.

Ein Glücksfall war es, dass Bratu 1923 den jungen Karl Kurt Klein (1897-1971) als Wissenschaftlichen Assistenten nach Jassy berief, ihn 1932 auch zum Direktor der Universitätsbibliothek ernannte. Klein und Bratu förderten das Interesse des Lehrstuhls an deutscher Regionalliteratur (und -kultur), und während Bratu neue Methoden zum Unterricht des Deutschen als Fremdsprache (vor allem zur Vermittlung der Wortfolge, der deutschen Deklination) entwarf, die auch in München anerkannt wurden, ging es Klein einerseits um die Bedeutung deutscher Kultur in den einzelnen Gebieten Rumäniens, um siebenbürgisch-sächsische Dialektologie, um die Geschichte der Ger­ma­­nistik in Rumänien (1943 erschien sein Buch über die so ge­nannte Nösner Germanistenschule). Schließlich fasste Klein, der sich auch komparatistisch betätigte (1929 erschien in Heidelberg sein Buch über deutsch-rumänische Literaturbeziehungen), seine literaturhistorischen Untersuchungen zur ersten Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland zusammen (Leipzig 1939), die bis heute ein Grundlagenwerk geblieben ist. Die Infrastruktur für ein Germanistikstudium und für komparatistische und historische Recherchen verbesserte Klein als Direktor der Universitätsbibliothek (1932-1937). Die Jassyer Universitätsbibliothek wurde nach dem Modell der Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel neu organisiert und in das europäische Bibliotheksnetz eingebunden, das auch in den Jahren des Eisernen Vorhangs wohltuend neutral funktionierte.

Die Schüler und Mitarbeiter von Bratu und Klein setzten fort, was diese begonnen hatten, als Klein 1939 Jassy verließ, nachdem er den Ruf nach Klausenburg erhalten hatte (nach 1945 übernahm Klein eine Professur in Innsbruck) und Bratu 1940 starb. Die Bibliothek betreute ab 1938 Bronsilaus Irion, ein Bukowiner Rumäne, der sich eingehend mit den deutschen Dialekten seiner Heimatregion beschäftigt hatte. Alexandru Ivănescu, der dem Krieg zu Opfer fiel, setzte sich mit deutsch-rumänischen Literaturbeziehungen auseinander, und Virgil Tem­pe­anu, ein Moldauer, der den Lehrstuhl betreute, übersetzte aus dem Deutschen (Thomas Mann, das Nibelungenlied, Grimmelshausen), verfasste – wie Bratu/Klein 1935 – Deutschlehrbücher für Gymnasien. Es kam allerdings nicht mehr dazu – wie in der Zeit von 1931 bis 1939, als Klein die Siebenbürgische Vierteljahresschrift in Jassy herausgegeben hatte –, dass eine eigene Publikation der Germanisten erschien. Auch die von Bratu angeregten, äußerst informativen Jahrbücher der Universität wurden nicht fortgesetzt.

1945 stand der Lehrstuhl vor großen Schwierigkeiten, obwohl Romanisten wie Iorgu Iordan, die in Deutschland studiert hatten, sich bemühten, die Traditionen fortzusetzen. Nachdem aber Bronislaus Irion als Rechtsextremer desavouiert worden war und 1952 als politischer Häftling starb, beerbten ihn die Diffamierer, Grigore Botez als Bibliotheksdirektor, Jean Livescu als Lehrstuhlinhaber (später auch war er bis 1955 Rektor der Universität). Es ging um die Umpolung der Germanistik, wie des gesamten Universitätswesens, zu einer Instanz der Ideologievermittlung. Livescu publizierte Aufsätze, die Herder, Schiller, Lenau als „fortschrittliche“ Autoren präsentierten, verfasste ein Deutschlehrbuch (Limba Germană, 1952), das sowjetische Modelle anbot. 1955 musste Livescu aufgrund eines Sittenskandals Jassy verlassen und wurde in Bukarest stellvertretender Unterrichtsminister. Seine Anfänge – er hatte 1943 in Straßburg mit einer Arbeit über den deutschen Petrarkismus promoviert, hatte sich mit dem Entwicklungsroman und mit Grimmelshausen beschäftigt – waren damals längst vergessen.

Bis 1964 gab es Deutsch nur noch im Nebenfach, und der Lehrstuhl war – wie alle anderen im Land mit Ausnahme Bukarests – still gelegt. Bei seiner Neugründung war er Teil des Anglistik-Lehrstuhls. Zwei Schülerinnen von Livescu, Cornelia Andriescu und Herta Perez, übernahmen die Aufgabe, neue Impulse zu setzen. Cornelia Andriescu, die mit einer Arbeit über Robert Musil promovierte, war stellvertretende Leiterin des Lehrstuhls für Germanische Sprachen (Anglistik, Germanistik) bis 1967, als durch Zuzüge junger Absolventen aus Temeswar und Klausenburg eine neue Personalpolitik möglich geworden war. Herta Perez (geb. 1926), die 1961 mit einer Arbeit über die Erzählkunst von Thomas Mann promoviert wurde und zuvor am Komparatistiklehrstuhl tätig war, wurde 1967 Leiterin des wieder selbständigen Germanistiklehrstuhls. Bis 1981 gab es jährlich 20-40 Germanistikabsolventen im Hauptfach und zahlreiche im Nebenfach, außerdem seit 1968 im Abend- und Fernstudium.

Ein Schwerpunkt der Lehrstuhltätigkeit bis 1981, als sich die Lehrstuhlinhaberin in Stuttgart niederließ, war die Erarbeitung von Arbeitsbüchern für den Gebrauch der Germanistikstudenten im Haupt- und Nebenfach ein wichtiges Anliegen. Die Bemühungen führten zu Angeboten für Übersetzungen, Textinterpretationen, Sprachübungen, wurden allerdings in den siebziger Jahren durch die Öffnung Rumäniens nach Westeuropa überrundet: seit 1968 – Rumänien hatte 1967 diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik aufgenommen – gab es einen DAAD-Lektor in Jassy, der die bundesdeutschen Buchangebote nach Jassy brachte. Die Umorientierung auf die deutsche Regionalliteratur auf Rezeptionsuntersuchungen nahm zu. Herta Perez publizierte mit ihren Mitarbeitern eine Anthologie deutscher Texte des 20. Jahrhunderts, 1973-1977, die bei Lehrveranstaltungen verwendet wurden. Für den Lehrbetrieb gedacht waren Vorlesungen über deutsche Literaturgeschichte (eine Überblicksdarstellung von Perez/Paulini für das Nebenfach 1976 und die heute noch verwendete Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1770, 1977, I-II). Durch Vortragsreihen, durch die Tätigkeit des Literaturkreises (1970 wurden Handkes Publikumsbeschimpfung und Hildesheimers Opfer Helena aufgeführt, auch gab es – durch Mithilfe des DAAD-Lektors seit 1969 literarisch-musikalische Abende der Germanistikstudenten) versuchte man, die Öffentlichkeit zu erreichen. Dies geschah auch durch eine zunehmende Übersetzertätigkeit, für die vor allem Hertha Perez (Clemens Brentano, Lyrik der Romantik, Joseph Roth), Octavian Nicolae (Christa Wolf, Doderer) und Horst Fassel (Zuckmayer, Hacks, außerdem Übersetzungen rumänischer Lyriker ins Deutsche: Corneliu Sturzu, Mihai Ursachi). Der Popularisierung dienten auch Über­blicksdarstellungen der Lehrstuhlinhaberin in rumänischer Spra­che (Tradition und Neuerung im deutschen Roman, 1974; Erscheinungsformen der Romanfiguren, 1979). 1975 versuchte man, durch eine Tagung über Traian Bratu das Interesse an der eigenen Geschichte zu wecken, der Tagungsband – ergänzt durch zusätzliche Beiträge – konnte allerdings erst 1981 erscheinen.

Als Hertha Perez 1981 Jassy verließ und Horst Fassel aufgrund seines Ausreiseantrags Unterrichtsverbot erhalten hatte, wurde der Lehrstuhl von einem Anglisten geleitet (wie schon vor 1967 waren Germanisten und Anglisten unter der Leitung von Perez 1974 zusammen gelegt worden). Fassel koordinierte 1982 die einzige Germanistikzeitschrift Rumäniens – die getarnt als Übungsbroschüre erschien –: Jassyer Beiträge zur Germanistik/Contribuţii ieşene de germanistică, die mit einer Goethe-Nummer begann, 1983 ein Themenheft Bukowina folgen ließ, ebenso eine Promotionsschrift: Die deutsche Reisebeschreibung und ihre Form in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Zeitschrift sollte Tagungen des Lehrstuhls, ebenso die Arbeiten der einzelnen Lehrstuhlmitglieder publizieren, eventuell auch Beiträge ausländischer Partner. Die 1982 ins Auge gefasste Kafka-Nummer erschien aber erst 1988 als Nummer 8.

Verantwortlicher für die Germanistik war seit 1986 Andrei Hoişie-Corbea, der den Themenschwerpunkt Bukowina für sich selbst und seine Mitarbeiter wählte, zeitbedingt die rumänische Sprache (auch bei Lehrveranstaltungen) bevorzugt verwenden ließ und ab 1986 die Zeitschrift fortführte, allerdings nicht als Publikationsorgan der Lehrstuhlmitarbeiter sondern in Form von Tagungsbänden, die meist von den DAAD-Lektoren herausgebracht wurden. Hoişie-Corbea hatte 1974 in Jassy absolviert und war danach als Deutschlehrer und KP-Sekretär an einem Jassyer Gymnasium tätig. Eigentlich war sein Wechsel an den Lehrstuhl aufgrund seiner Leistungen längst fällig, und ab 1990 war Hoişie-Corbea Leiter des erneut autonomen Lehrstuhls, bis er 2005 als rumänischer Botschafter nach Wien wechselte. Er lud nach der Wende zahlreiche namhafte Germanisten und Komparatisten nach Jassy ein, baute die Partnerschaft mit der Universität Konstanz aus, organisierte zahlreiche Tagungen. Für seine Kontaktfreudigkeit erhielt er im Jahre 2000 den Grimm-Preis des DAAD. In Jassy hatte er sich seit den frühen achtziger Jahren für die Konstanzer-Schule (Jauss, Iser) engagiert, hatte Hans Robert Jauss rezeptionsästhetische Beiträge übersetzt (später auch Autoren wie Adorno, Ernst Jünger). Sein Interesse galt den kultursoziologischen Aspekten der Bukowina, Paul Celan, Rose Ausländer, ebenso Minderheitenfragen und dem Stellenwert jüdischer Kultur in Rumänien und Deutschland. Den gleichen Fragestellungen widmeten sich seine Schüler und seine Mitarbeiterinnen, von denen Cornelia Cujbă sich den deutsch-rumänischen Kulturbeziehungen, As­trid Agachi sich der Geschichte der moldauischen Germanistik (dem Gesamtwerk Karl Kurt Kleins) widmeten, Ion Lihaciu aber vor allem die deutschsprachige Presse der Bukowina untersuchte.

Seit 1990 hat Jassy, wie andere ausländische Lehrstühle, mit einem Schwund der Studentenzahlen zu kämpfen, ebenso mit der größeren Konkurrenz, die mit den über hundert Privatuniversitäten aufkam, die nach der Wende in Rumänien – auch in der Moldau – entstanden. Die Übersetzertätigkeit, die Lehrbuchproduktion, die Tagungen nahmen beträchtlich zu, die Beziehungen der einzelnen Germanistikstandorte wurde durch die wieder gegründete Gesellschaft der rumänischen Germanisten gefördert, aber die Zielgruppe nahm ständig ab, weil sich Englisch zuungunsten des Deutschen auch in Rumänien durchsetzte.

Wenn man deutsch-rumänische Sprach- und Literaturbeziehun­gen bis 1945 untersuchte und Vorreiter in der Geschichte der Germanistik in Rumänien war, dann gab es nach 1945 zunächst den Versuch, die Deutschkenntnisse in den sechziger und siebziger Jahren zu fördern, die Studenten, die meist aus Siebenbürgen kamen, mit ausgezeichneten methodischen und Sachkenntnissen in den Beruf zu entlassen (das hieß vor der Wende: in Verlage, in die Industrie als Übersetzer, in Schulen – allein in Jassy gab es in den siebziger Jahren 36 Deutschlehrer an Mittelschulen und Gymnasien) und gleichzeitig die regionalen Besonderheiten zu beachten. Nach der Wende konnte man dies noch ausgiebiger tun, vermochte auch die Verbundenheit der deutschen und der deutschsprachigen jüdischen Minderheiten herauszustellen, suchte den eigenen Standort innerhalb des internationalen Wissenschaftsbetriebes und versucht heute, sich zum Jubiläum selbst Mut zuzusprechen, weil die Zukunft des Deutschunterrichts an Schulen und Universitäten Rumäniens ungewiss ist. Wie sehr politische Ereignisse sich auf die Ger­manistik auswirkten, ist zum Tiel angedeutet worden.

Lit.: Horst Fassel (Hrsg.), Traian Bratu şi germanistica ieşeană (Traian Bratu und die Jassyer Germanistik), Iaşi 1981, 125 S. – Ders., Deutschunterricht in Jassy (1830-1992). Wissenschaftler und Lehrer als Vermittler im West-Ost-Dialog, Tübingen 1993, 152 S. – Jassyer Beiträge zur Germanistik/Contribuţii ieşene de germanistică. Jassy 1982ff. – Andrei Corbea-Hoişie, Für eine richtige Auslandsgermanistik: Die Lage des Faches in Rumänien, in: Germanistik in Mittel- und Osteuropa, hrsg. von Christoph König, Berlin 1995, S. 168-182. – Autorenartikel in: Internationales Germanistenlexikon 1800-1950, hrsg. und eingeleitet von Christoph König. Berlin/New York 2003.

Bild: Yassys Lage / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Horst Fassel (OGT 2008, 251)