Ereignis vom 1. Januar 1906

Die Gründung des Lodzer Deutschen Gymnasiums

Am Haupteingang 1999 angebrachte Gedenktafel mit dem alten LDG Emblem 2015

Im Laufe seiner wechselvollen Geschichte hat Polen mehrere Teilungen und Fremdherrschaften erfahren müssen. Nach der Schlußakte des Wiener Kongresses im Jahre 1815 wurde das Land zwischen den Großmächten Rußland, Preußen und Österreich aufgeteilt. Den größten Teil erhielt Rußland, als sogenanntes „Königreich Polen“, allgemein „Russisch Polen“ oder „Kongreßpolen“ genannt. Auf diesem Territorium befand sich auch die Stadt Lodz.

Die Regierung war bestrebt, die Industrialisierung des Landes voranzutreiben. Dazu wurden Fachkräfte aus dem Ausland angeworben. Durch das Versprechen, günstige Bedingungen vorzufinden, siedelten sich Handwerker aus deutschen Landen, u. a. aus Schlesien, Sachsen und Preußen, in der Region Lodz an. Dank der starken Einwanderungswelle entwickelte sich die Stadt zu einem bedeutenden Industriestandort, dem „Manche­ster des Ostens“. Die Einwohnerzahl stieg rapide an. Hatte Lodz 1810 ca. 770 Einwohner, so waren es 1864 bereits mehr als 33.500, darunter 67,2 % Deutsche, 19,5 % Polen und 13,3 % Juden.

Das Schulwesen entwickelte sich für die deutschen Einwanderer, die ihre Kinder in der Muttersprache unterrichtet haben wollten, recht zögerlich. Höhere Schulen mit deutscher Unterrichtssprache waren erst recht nicht vorhanden. Die russischen Behörden verfolgten eine strikte Russifizierungspolitik. In Folge dieser Politik wurde das erste, 1866 entstandene „Lodzer Deutsche Realgymnasium“ nach einem Besuch des Unterrichtsministers im Jahre 1869 bereits wieder geschlossen. Stattdessen entstand ein Gymnasium mit russischer Unterrichtssprache. Die Lage besserte sich erst 1905 nach dem verlorenen Krieg gegen Japan und Unruhen im Zarenreich. Am 1. Oktober 1905 wurde von der Regierung in Petersburg ein Gesetz erlassen, das den einzelnen Volksgruppen im Land gestattete, Schulunterricht in ihrer Muttersprache zu halten. Diese Situation nutzte der aus Warschau stammende Lehrer Bogumil Braun. Er eröffnete mit Hilfe führender Männer des Lodzer Deutschtums am 29. November 1906 ein deutsches Knabengymnasium. Es bestand aus zwei Vorbereitungs- und zwei Gymnasialklassen. Der Unterricht fand in gemieteten Räumen statt. Dieses Ereignis kann als die Geburtsstunde des „Lodzer Deutschen Gymnasiums“ (LDG) angesehen werden.

Um die Schule auf eine sichere finanzielle Basis zu stellen, gründeten deutsche Fabrikanten, Geschäftsleute und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens am 7. Dezember 1907 die „Gesellschaft für ein deutsches Gymnasium“, die am 6. September 1908 das bisher private Gymnasium in Gesellschaftsbesitz übernahm. Auf dem Lehrplan stand, außer der Unterrichtssprache Deutsch, Russisch als Staatssprache und Polnisch als Sprache des Landes. Der erste Direktor, Heinrich Johannsen, wurde 1910 von Hugo von Eltz aus Riga abgelöst. Verwaltet wurde die Schule – nun „Lodzer Deutsches Gymnasium (LDG) genannt – von einem „Kuratorium“, dem namhafte Persönlichkeiten abgehörten.

Für die rasch ansteigende Schülerzahl, von 56 auf fast 200 innerhalb von zwei Jahren, erwiesen sich die gemieteten Räume bald als nicht ausreichend. Es wurde geplant, ein eigenes Schulgebäude zu errichten. Durch Spenden der Lodzer Gesellschaft stand in wenigen Wochen ein Betrag von 800.000 Goldrubel zur Verfügung, so daß 1909 mit dem Bau begonnen werden konnte. Bereits im September 1910 wurde das stattliche, nach neuesten Erkenntnissen erbaute Schulhaus eingeweiht. Der damalige Vorsitzende des Kuratoriums, Ernst Leonhardt, sagte anläßlich der Eröffnungsfeier: „Es ist das Teuerste, was wir haben, das wir Ihnen, Herr Direktor, anvertrauen – unsere Kinder. Lehren Sie, bilden Sie und erziehen Sie diese Knaben in treuem deutscheM Geist zu braven Männern, die treu bleiben ihrer Nationalität, treu ihrem Glauben und treu ihrem Lande als tüchtige Männer und Bürger. Pflanzen Sie in die Herzen der Jugend das Saatkorn der Duldung und Nachsicht mit Andersstämmigen, auf daß unsere Kinder Männer werden, streng mit sich selbst und nachsichtig gegen andere.“

Für 346 Schüler begann der Unterricht im neuen Haus. Zur Verfügung standen 22 Klassenräume, Lehrerzimmer, Direktorenzimmer, Konferenzräume, eine große Aula mit einer Bühne, auf der Theaterstücke aufgeführt werden konnten. Außerdem gab es einen Turnsaal, Physik- und Chemieräume, versehen mit den erforderlichen Apparaten und Geräten, einen Biologieraum, einen Zeichensaal und eine Bibliothek. Kurz – die Schule war auf das modernste ausgestattet und galt als die beste Schule der Stadt, nicht zuletzt wegen der kompetenten und engagierten Lehrerschaft. 1914 bestanden die ersten zehn Schüler das Abitur.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde im Schulgebäude ein russisches Lazarett eingerichtet. Der normale Schulbetrieb ruhte für ein Jahr. Teilweise wurde der Unterricht in Privatwohnungen weitergeführt. Als 1915 die deutsche Besatzung das Gebäude wieder freigab, stieg die Schülerzahl auf 545, bis zum Kriegsende sogar auf 771.

1918 erlangte Polen seine Unabhängigkeit. Für das LDG begann eine schwierige Zeit. Es mußte einen ständigen Kampf um seine Existenz führen. Die polnischen Behörden versuchten, alle Volksgruppen ihn ihrem Staat zu polonisieren und deren Schulwesen zu vernichten. Sie erzwangen die Entlassung des Direktors, Hugo von Eltz, sowie aller reichsdeutscher Lehrer. Es begann eine üble Hetze gegen das LDG, wobei man auch vor Verleumdungen nicht zurückschreckte. Die Presse behauptete, die Kinder würden staatsfeindlich, deutschnationalistisch erzogen, Gelder aus Deutschland trügen dazu bei. Gegen diese Verleumdungen ging das LDG gerichtlich vor, allerdings führte der Prozeß zu einem unbefriedigenden Ergebnis.

Am Palmsonntag 1933 drang aufgehetzter Pöbel in das Schulhaus und demolierte Einrichtung und verschiedene Geräte. Geldspenden der Lodzer Deutschen ermöglichten eine baldige Beseitigung der angerichteten Schäden.

Um die Schule vor weiteren Angriffen zu schützen, entschloß sich das Kuratorium, einen polnischen Direktor einzustellen. Die Wahl fiel auf Franciszek Michejda, den früheren Leiter des deutschen Lehrerseminars. Die öffentlichen Anfeindungen hielten sich zwar von nun an in erträglichen Grenzen, aber das gute Einvernehmen zwischen Direktor, Kuratorium, Lehrerschaft und Schülern war gestört. 1937 trat Władysław Głuchowski das Amt des Direktors an. Das Kuratorium hatte ihn durch seine Tätigkeit als Visitator der höheren Schulen kennen und schätzen gelernt. Er leitete das Gymnasium bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs mit Umsicht, wobei es ihm gelang, schlimme Angriffe polnischer Nationalisten abzuwehren.

1916 ist in Lodz ein deutsches Mädchengymnasium gegründet worden. Durch entsprechende Umbauten war es möglich, das Mädchengymnasium 1919 im Gebäude des LDG aufzunehmen. Neben den Gymnasialklassen für Jungen und Mädchen wurden 1933/34 jeweils vier Volksschulklassen eingerichtet. Außerdem gab es einen Froebel’schen Kindergarten. Unter einem Dach befanden sich demnach Kindergarten, Volksschule und Gymnasium, sie bildeten eine Einheit, eben das „Lodzer Deutsche Gymnasium“.

Obwohl Schulgeld gezahlt werden mußte, schickten Deutsche, aber auch manche Polen und Juden ihre Kinder gern in diese als Eliteschule bekannt gewordene Anstalt.

Das LDG besaß in Grotniki, eine halbe Bahnstunde von Lodz entfernt, ein Schullandheim. Es lag in einer Waldgegend an dem Flüßchen Linda, das zu einem Teich aufgestaut worden war, in dem man baden konnte, aber auch Kahnfahrten möglich waren. Auf dem Gelände befand sich ein Gebäude mit Verwaltungs- und Speiseraum, Küche und Ambulatorium, außerdem zwölf Schlafbaracken und ein Sportplatz. Schüler des LDG, auf Antrag auch andere Kinder, verlebten dort unvergeßliche Tage bei Erholung, Arbeit, Sport und Spiel.

Als weitere Besonderheit des LDG sind die Schülervereinigungen und Schülerverbände zu nennen. Es gab den „Evangelisch-Lutherischen Schülerbund“, die Musikvereinigung „Pro Artibus“ mit Schülerorchester und Schulchor. Der „Schillerkreis“ führte Dramen auf, u. a. Egmont, Don Carlos, Wilhelm Teil und Wallenstein. Die Konzerte und Theaterveranstaltungen des LDG standen im Mittelpunkt des kulturellen Lebens der Lodzer Deutschen. Es gab Wandergruppen und Sportvereinigungen. Bei sportlichen Wettkämpfen haben Schüler des LDG hervorragende Erfolge erzielt. Der „Herta-Club“ war die beste Korbballmannschaft Polens.

Als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann, ging die Ära des LDG zu Ende. Am 9. September wurde Lodz von der Deutschen Wehrmacht besetzt. Die Stadt bekam den Namen „Litzmannstadt“. Das Gymnasium wurde eine Staatliche Oberschule für Jungen unter dem Namen „General von Briesen-Schule“. Die Leitung übernahm der reichsdeutsche Oberstudiendirektor Dr. Martin Petra. Alle Volksschulklassen und alle Mädchenklassen mußten in anderen Gebäuden untergebracht werden. Die Schuluniform wurde abgeschafft und ebenso die Schulmütze, die LDG-Schüler mit Stolz getragen haben, auch wenn manch einer deswegen kurz vor Ausbruch des Krieges 1939 von polnischen Jungen verprügelt worden ist.

Seit Ende des Krieges 1945 sind die ehemaligen Schüler des LDG über ganz Deutschland verstreut oder in andere Länder ausgewandert. Eine emotionale Bindung an ihre Schule, die es nicht mehr gibt, und ein starkes Zusammenhörigkeitsgefühl sind ihnen geblieben. Daraus erwuchs der Wunsch, den 50. Gründungstag des LDG festlich zu begehen. So trafen sich zu Pfingsten 1956 ehemalige Mitglieder des Kuratoriums, Lehrer, Schülerinnen und Schüler zum ersten „Deutschlandtreffen ehemaliger deutscher Gymnasiasten und Seminaristen aus Mittelpolen“ in Weinheim an der Bergstraße. 1.200 Personen nahmen daran teil. Es wurde ein Verein, das „Kuratorium“ gegründet, der weitere Treffen organisierte sowie zweimal jährlich einen „Rundbrief“ an seine Mitglieder verschickte. Beides ist bis heute beibehalten worden.

Das Gebäude des LDG gehört jetzt zur Universität Lodz. Seit der politischen Wende in Polen bestehen freundschaftliche Kontakte zwischen Kuratorium und Vertretern der Universität. Dadurch war es möglich, im Foyer des Schulgebäudes eine Gedenktafel mit folgendem Text, in polnischer und deutscher Sprache, anzubringen: „Den Gründern des Lodzer Deutschen Gymnasiums Ernst Leonhardt und Louis Schweikert, dem Vorstand, der Lehrerschaft sowie seinem letzten Direktor Władysław Głuchowski.“

In der Stiftungsurkunde heißt es: „Die Tafel diene dem immer währenden Gedenken an die Zeitabschnitte guter Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschen in Lodz, auf daß aus diesen Zeiten Anregung erwachse zur Verständigung und Frieden zwischen den Völkern.

Am 20. September 2000 fand die feierliche Enthüllung der Gedenktafel statt.

Lit.: Otto Heike, Das deutsche Schulwesen in Mittelpolen, Dortmund 1963. – Fritz Weigelt (Hrsg), Penne, Pauker und Pennäler, Wuppertal 1972. – Fritz Weigelt (Hrsg), Das Lodzer Deutsche Gymnasium, Gedenkschrift zur Gründung des LDG 29.11.1906 und zur Feier des 50. Jubiläums in Weinheim. – Peter Nasarski (Hrsg.), Das Lodzer Deutsche Gymnasium im Spannungsfeld zwischen Schicksal und Erbe 1906-1981, Westkreuz-Verlag Berlin/Bonn. – Heimatbote 1/54. – Weg und Ziel 5/88. – Neue Lodzer Zeitung, 28. Mai 1930. – Denkschrift aus Anlaß des 20-jährigen Bestehens des Deutschen Gymnasiums zu Lodz 1908-1928.

Bild: Am Haupteingang 1999 angebrachte Gedenktafel mit dem alten LDG Emblem 2015 / Quelle: KlausMiniwolf2015-02-25 15-27-36 RX100 8577 LDG-Gedenktafel-v-Juni-1999 A10x15CC BY-SA 4.0

Ursula Mechler (OGT 2006, 246)