Ereignis vom 1. Januar 1656

Die Kapitulation der Stadt Dorpat und deren Einnahme durch Russen

Dorpat (auch Tartu), 1866

Nachdem die Schweden unter König Karl X. Gustav seit 1655 in Polen und Litauen erfolgreiche Feldzüge unternahmen, griff auch Rußland 1656 in den Ersten Nordischen Krieg ein. Die Stadt Dorpat besaß als wichtiger militärischer Stützpunkt große strategische Bedeutung, bildete sie doch – sozusagen vorgescho­ben mitten im Land – eine Basis für Truppenbewegungen in den Norden nach Estland und in den Südwesten nach Livland und Kurland. Trotz stets wiederkehrender Warnungen vor dem russischen Eingreifen traf der Angriff das alte Livland und speziell Dorpat weitgehend unvorbereitet. Noch Anfang 1653 waren die Festungswerke so verfallen, daß die Umgänge an den Mauern Lücken aufwiesen und die Wachtposten oft nicht ihre Runde gehen konnten. Die unter Leitung des Dorpater Kommandanten Andreas Koskull aufgenommenen Arbeiten wurden dann durch unzureichende Finanzierung und bürokratische Hindernisse gehemmt. Im Oktober des Jahres waren die Umgänge nur unter Lebensgefahr zu betreten, geschweige denn die dortigen Kanonen zu benutzen, von denen manche bereits hinuntergestürzt waren. Erst in den beiden folgenden Jahren konnte der Ausbau – wenn auch immer noch schleppend – vorangetrieben werden.

Schlecht stand es ebenfalls um die Garnison. 1655 litten die Soldaten aufgrund unzureichender Versorgung Hunger und drohten zu meutern. Der Vorrat an Munition war gleichfalls vernachlässigt worden. Unter dem Landeshauptmann und Gouverneur Lars Flemming (1621-1699), der seit 1654 im Dorpater Schloß die Verantwortung trug, nahmen die Dinge ihren Lauf. Mit seinem Verhältnis zur Stadt war es nicht zum Besten bestellt, immer wieder kam es zu Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen mit den städtischen Bürgermeistern und Ratsherren, die ihre Privilegien und althergebrachten Rechte verletzt sahen. Auf hilfloses Entsetzen stieß die herrische und oft barsche Art Flemmings, die mit der her­aufziehenden Gefahr heftiger wurde, wie den Aufzeichnungen des Bürgermeisters Bartholomäus Wybers zu entnehmen ist. Angesichts der vom Gouverneur befohlenen Schleifung der Vorstadt heißt es nur noch resignierend „Hic silent leges inter arma“. Aus den überlieferten Dokumenten ergibt sich ein Bild, das Flemming schaltend und waltend zeigt, während der Rat zunächst eigenständig, aber in Absprache mit dem Gouverneur handelnd erscheint, dann jedoch immer mehr als von diesem dominiert.

Flemming unterstand dem in Riga ansässigen Generalgouverneur Livlands, Magnus Gabriel De la Gardie (1622-1686). An diesen sind seine Bittgesuche um Unterstützung gerichtet; so noch im April und im Mai 1656, als immer mehr Soldaten aufgrund des schon 15 Monate ausbleibenden Soldes fortliefen. Zu Beginn des Sommers 1656 überstürzten sich die Ereignisse. Am 20. Juni verlangte Flemming die Musterung der Bürgerwehr, die die städtischen Vertreter jedoch gerne noch verschoben hätten; acht Tage darauf wurde der Abriß aller Gebäude und Zäune in der Vorstadt auf Weite eines Musketenschusses befohlen. Fast täglich gab es nun Konsultationen mit dem Rat und der Bürgerschaft, dessen Vertreter hierzu auf das Schloß kommen mußten. Am 30. Juni wurden 200 Piken aus der Schloßartillerie für die Bürgerwehr ausgegeben. Dies war auch die Anzahl „bewehrter Männer“, die der Gouverneur unter den Bürgern ausgemacht hatte. Nachdem am 26. Juli die Reste der Vorstadt niedergebrannt worden waren, zählte man 293 männliche Bürger in Dorpat. Flemming beklagte am 28. Juli, sie seien „schwach von Volk“, und berichtete von insgesamt 470 brauchbaren Kämpfern: 200 Bürger, 220 Soldaten zu Fuß (davon 50 Kranke) und 100 Reiter mit schlechten Pferden. Die russischen Truppen waren bereits von der Stadt aus zu sehen, die man nur noch auf Weite eines Kanonenschusses sicher verlassen konnte. Noch am gleichen Tag gelangte die ganze feindliche Armee vor die Stadt, stark an Kavallerie und weniger Infanterie, wie Flemming im Postscriptum angibt. Sie kam bereits so nahe, daß mit Kanonen geschossen wurde. So begann die Belagerung.

Der Generalgouverneur sagte nun zwar 100 Reiter zu, doch waren zuvor Teile der Dorpater Truppen nach Polen beordert worden, so daß Livland im Wesentlichen auf sich gestellt war. De la Gardie war völlig unzureichend informiert: Noch 14 Tage bevor die russische Armee mit 18.000 Mann vor Dorpat erschien, hatte er keine Ahnung von dem bevorstehenden Angriff auf Dorpat. Dabei war der direkte Befehl des Zaren zum Marsch auf Dorpat schon am 29. April erfolgt. Seitdem zogen sich die Truppen von Novgorod aus mithin unbemerkt an der livländischen Grenze zusammen. Einer gedruckten „Relation von der Belagerung der königlichen Stadt Riga“ (Riga 1657) zufolge handelte es sich bei der vor Dorpat liegenden Armee um „6000 Mann moskowitische Bojaren und einige von denen formirten Regimentern; 2000 Mann Polnische aus Littauen; 4000 Mann Tataren; 6000 Mann Fußvölker = 18000 Mann ,ohne Goloppen, deren noch wol einmahl so viel.‘“ Es kann daher nicht verwundern, daß Generalgouverneur De la Gardie sich Ende Juli dem Vorwurf des Königs ausgesetzt sah, er hätte die Absicht der Russen erkennen müssen. Generalmajor Streif und der estländische Gouverneur Horn eilten nun zwar zu Hilfe, hatten aber zusammen lediglich ca. 3.000 Mann und waren daher ohne große Bedeutung. Selbst der errungene Sieg über eine russische Truppe von 3.500 Reitern bei Wolmar unter Streifs Kommando veränderte die Lage nicht.

In Dorpat erging am ersten August der Befehl Flemmings, alle Hunde zu töten, weil diese nachts die Bewegungen in der Stadt verrieten und Soldaten daran hinderten, Bewegungen außerhalb der Mauern zu hören. Weil glühende Kugeln hereingeschossen wurden, sollten Stroh- und Holzdecken sowie Holzverhaue niedergerissen und Eimer mit Wasser sowie nasse Säcke bereitgehalten werden. Bei Nichtbefolgung drohte eine empfindli­che Strafe von 50 Reichstalern. Nach fast zwei Wochen Belage­rung gelangte am 6. August eine schriftliche Aufforderung zur Kapitulation in die Stadt, die jedoch nur Flemming erhielt. Bür­germeister Warneke war zum Zeitpunkt des Briefeingangs auf dem Schloß anwesend und stand im Vorsaal, doch entgegen sonstiger Gepflogenheiten wurde das Schreiben dem Rat nicht mitgeteilt und auch kein Übereinkommen angestrebt. Die ver­ständliche Entrüstung über das selbstherrliche Vorgehen des Gouverneurs wurde am Tag darauf schriftlich überbracht; eben­falls wurde kritisiert, daß Soldatenfrauen und -kinder, die bei Bürgern einquartiert waren, nicht arbeiten müßten, aber die Mägde und Frauen der Bürger zur Arbeit aus den Häusern getrieben würden. Daraufhin ließ Flemming am 8. August den Bürgermeister Joachim Warneke und den Ratsherrn Hans Schlottmann auf dem Schloß gefangen setzen. Was genau Flem­­ming ihnen vorwarf, ist nicht bekannt; gegenüber den anderen Bürgermeistern und Ratsherren, die sich am folgenden Tag um Freilassung bemühten, entrüstete er sich lediglich und beschimpfte sie als „Schelme und Verräter“. Auch weitere Versuche zur Freilassung, ebenso die Vermittlung durch adelige Offiziere, blieben erfolglos. So verblieben die beiden bis zur Kapitulation der Stadt in Haft. Ein Verrat jedenfalls konnte ihnen später nicht nachgewiesen werden – und schon gar keiner, der zur Kapitulation führte.

Einen freundlicheren Ton schlug der Gouverneur am 21. September an, als Brot und Heu unter den in der Stadt aufgenommenen Vorstädtern knapp wurden. Die Bürger sollten von ihren Vorräten etwas herausgeben, wofür jedoch der König um spätere Bezahlung gebeten werden sollte. Am selben Tag ging erneut eine schriftliche Aufforderung zur Kapitulation ein, die nun jedoch von Flemming an den Rat weitergeleitet wurde. Dieser beschloß, dem Druck nicht nachzugeben, sondern bis zum Sturm zu kämpfen. Allerdings beschloß Flemming einige Tage darauf – ohne Absprache mit der Stadt – die Kapitulation, die dann am 12. Oktober vollzogen wurde. Auch unter hochrangigen Offizieren gab es offensichtlich Widerstände gegen das eigenmächtige Vorgehen des Gouverneurs. So wandte sich der Baron und Oberstlieutnant über die Kavallerie in Dorpat Wolmar von Ungern am 11. Oktober in einem Schreiben mit Beschwerden über Flemming an den Rat und bat um Bestätigung, daß – da sein Rat vom Gouverneur oft nicht gehört oder befolgt wurde – er selbst gegenüber der Stadt untadelig gehandelt habe.

In der von Flemming aufgesetzten Generalkapitulation wurde unter anderem den Schweden der freie Abzug für Gouverneur samt Soldaten zugesichert. Die Akten des königlichen Hofgerichts, die akademische Bibliothek und die Druckerei sowie die Oberkonsistorialakten durften abgeführt werden, wie auch Warneke und Schlottmann mit nach Reval geführt werden durften, um sich dort vor Gericht wegen Hochverrats zu verantworten. Dem Rat und der Bürgerschaft wurden Erhalt und Schutz von Privilegien, Gericht und Gerechtigkeit, Statuten, Handel und Wandel, Besitz von Landgütern und ,Intraden‘, Religion, Kirchen und Schulen zugesichert. Am 12. Oktober zu Mittag sollten die Schweden zur Stadtpforte hinaus, die Russen aber zur Dompforte hineinziehen. Mit einer Spezialkapitulation seitens der Stadt bemühten sich die Ratsherren und Bürgermeister in der Folge, weitere Einzelheiten zu regeln. Abgesehen von dem Versuch, die wirtschaftlichen Privilegien zu bewahren, war insbesondere die Bewegungsfreiheit der Bürger und Einwohner, das Wegziehen wie auch das Herziehen mit allem Besitz und das Studium an deutschen Hochschulen ein Anliegen. Der Wegzug aus Dorpat wurde jedoch bereits am 12. Dezember 1656 vom russischen Wojewoden und dann 1657 auch vom Zaren untersagt. Die Einwohnerzahl Dorpats wird zu dieser Zeit auf ingesamt ca. 1.200-1.500 geschätzt. Eine vom Bürgermeister zusammengestellte Liste weist 292 Hausväter und Männer aus, darunter 8 Ratsherren und Bürgermeister, 50 deutsche Kaufleute, 57 deutsche Handwerker, 27 estnische Bür­ger und 89 Esten aus der Vorstadt.

Die Universität hatte mit der Belagerung ihre Arbeit eingestellt, Studenten und Professoren waren wohl schon frühzeitig nach Reval geflohen, manche auch von dort weiter nach Stockholm oder an andere Orte. Die letzte gedruckte Disputation ist für den 14. Mai 1656 nachweisbar. Eine Abführung der Bibliothek und der Druckerei geschah jedoch nicht, obwohl der Unterrichtsbetrieb in Reval bis 1665 mit Privatvorlesungen ein kümmerliches Dasein fristete und dann einging. Bibliothek und Druckerei der Dorpater Akademie hat man später in der Dorpater Marienkirche in der Nähe des Altars unter dem Gewölbe eingemauert, um sie zu bewahren. Im Oktober 1657 erteilte Zar Alexej Michailowitsch der Stadt Dorpat noch die Privilegien, aber nach schwedischen Siegen und dem Waffenstillstand zu Vallisaar bei Narva (1658) wurde im Frieden zu Kardis (1661) die Rückgabe Dorpats an die Schweden besiegelt. Die Stadt war insgesamt zwar glimpflich davongekommen, doch hatte sie für Jahrzehnte die Universität und damit die Bedeutung als geistiges Zentrum Altlivlands verloren.

Lit.: F. K. Gadebusch, Livländische Jahrbücher, Theil I-IV in 9 Bdn., Riga 1779-1783. – F. Bienemann, Briefe und Aktenstücke zur Geschichte der Verteidigung und Kapitulation Dorpats 1656. Die Kapitulation Dorpats 1704. Separatabdruck aus den Mittheilungen der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Russlands, Band XVI, Heft 2, Riga 1896. – R. A. von Lemm, Dorpater Ratslinie 1319-1889 und das Dorpater Stadtamt 1878-1918, Marburg/Lahn 1960. – H. Piirimäe/C. Sommerhage (Hrsg.), Zur Geschichte der Deutschen in Dorpat, Tartu 1998. – E.-L. Jaanson, Tartu Ülikooli trükikoda 1632–1710. Ajalugu ja trükiste bibliograafia/Druckerei der Universität Dorpat 1632–1710. Geschichte und Bibliographie der Druckschriften. Toimetanud/Redaktion Mare Rand, Tartu 2000.

Bild: Dorpat (auch Tartu), 1866 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Martin Klöker (OGT 2006, 219)