Bis zum österreichisch-ungarischen „Ausgleich“ von 1867 waren die Siebenbürger Sachsen eine konfessionell geschlossene Rechtsgemeinschaft und in der Lage, zugewanderte Personen in ihre Gesellschaft zu integrieren. Obwohl immer wieder vereinzelt siebenbürgisch-sächsische Akademiker oder Handwerksgesellen aus Siebenbürgen auch abgewandert waren, hatte die im Ausland erworbene Qualifikation für die allermeisten Sachsen allerdings die Selbstverpflichtung eingeschlossen, zugunsten und zugleich in der Heimat selbst das berufliche und persönliche Fortkommen zu suchen. Insbesondere seit 1867 begann sich allmählich, aber zunehmend dynamisch die Gesamtsituation zu verändern. Siebenbürgen hatte aufgehört eine eigenständige politische Landschaft zu sein und war zum Landesteil Ungarns geworden. Ökonomisch waren die „Gründerjahre“ sehr wechselhaft, es kam sogar zu einem Zollkrieg Österreich-Ungarns mit Rumänien (1886-1893), was Handwerk und Handel in Siebenbürgen stark beeinträchtigte. Infolge von Binnenmigration innerhalb Siebenbürgens und Ungarns vollzogen sich Urbanisierungsprozesse auch auf Grund entstehender Montan- und Petrol-Industrien und Anfänge anderer Industriezweige. Zugleich boten sich auch Chancen für risikobereite Unternehmer außerhalb der traditionellen sächsischen Siedlungsgebiete, sogar im Königreich Rumänien (so zum Beispiel in Buşteni, in der grenznahen Karpatenregion, wo die Papierfabrik des Kronstädter Unternehmers Samuel Schiel florierte).
Seit 1890 verstärkte sich die Wirtschaftsmigration, um vornehmlich in Nordamerika – zunächst eher zeitweise – Verdienstmöglichkeiten zu suchen. Ziel vieler Arbeitsmigranten war es, mit dem auswärts erworbenen Kapital in Siebenbürgen investieren zu können.
Die Krise zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Grund der Rebenkrankheiten (Peronospora) und des Totalausfalls fast aller Rebkulturen verstärkte die ansatzweise vorhandene Landflucht. So war mancherorts zeitweilig zwischen einem Drittel und der Hälfte der meist männlichen Erwerbsbevölkerung ortsabwesend. Ab 1910 war dann ein neuer Trend festzustellen: Wer fortzog, wollte definitiv – vor allem, wenn das Ziel die USA darstellte – auswandern. Dies betraf nicht nur die siebenbürgisch-sächsische Bevölkerung, sondern in noch größerem Ausmaß die rumänische und zum Teil auch die ungarische Ethnie.
Die evangelische Landeskirche A.B. in Siebenbürgen beziehungsweise „in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns“ reagierte relativ früh auf diese neuen Migrationsphänomene und deren Folgen. Die Gefahr schien groß, dass durch Assimilationsprozesse außerhalb der kompakten sächsischen Siedlungsgebiete die zahlenmäßig kleine evangelisch-sächsische Minorität weiter marginalisiert und nachhaltig geschwächt würde, sofern die Intensität der Gruppenidentität in der Fremde nachließe oder dieselbe ganz aufgegeben würde.
Superintendent G. P. Binder (1783-1867) wies deshalb bereits 1856 die Pfarrämter an, die Kirchengemeinden sollten die abgewanderten evangelisch-sächsischen Diaspora-Christen in der Ferne und Vereinzelung nach Möglichkeit weiterhin betreuen (Buchalla 1923, 43). Wenn diesen Versuchen auch kein durchschlagender Erfolg gegönnt war, so unternahm das Landeskonsistorium ab dem Jahr 1889 den systematischen Vorstoß, die Diasporaarbeit als eigenständiges Arbeitsfeld auch professionell auszustatten. Dabei ging es der Landeskirchenleitung um ein doppeltes, miteinander verschränktes Ziel: einerseits die evangelischen Glaubensgenossen in der Zerstreuung zu betreuen, andererseits aber auch deren deutsch-sächsische Identität und somit deren ethnische Zugehörigkeit zu erhalten und folgerichtig die gesamte Minderheit zu stärken. Diese meist unwidersprochene Verschränkung von religiöser und deutschnationaler Perspektive gehörte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dauerhaft zur kirchlichen, kulturprotestantisch geprägten Grundeinstellung der Siebenbürger Sachsen und der Kirchenpolitik der Kirchenleitung in Hermannstadt.
Nachdem zunächst der Stadtpfarrer von Broos, Friedrich Wilhelm Schuster (Amtszeit 1869-1905), nebenamtlich die regional erreichbare Diaspora im siebenbürgischen Erzgebirge nach besten Kräften pastoral mitversorgt hatte, beschloss die 13. Landeskirchenversammlung 1887 (Verhandlungsbericht 1887, 39-42) die Errichtung der Reisepredigerstelle. Nach verschiedentlich relativ kurzzeitiger Besetzung übernahm ab 1909 bis 1948 der gebürtige Zipser Sachse Berthold Buchalla (1886-1959) die erste Reisepredigerstelle (in Hermannstadt). Am 9. November 1911 trat Géza Adrianyi die neu errichtete zweite Reisepredigerstelle mit Sitz in Oderhellen (Székelyudvarhely/ Odorheiu Secuiesc) an (Buchalla, Diaspora, 50f.).
Flächenmäßig stellte der Amtsbereich des Diasporapfarramtes den größten Gemeindebezirk innerhalb der Landeskirche dar. 1922 existierten ungefähr 50 nichtorganisierte Diasporagemeinden, und in rund 300 Ortschaften lebten vereinzelt Glieder der Landeskirche. 15 organisierte Gemeinden hatten keine Schule. Dagegen konnten sich nur fünf eine Schule leisten. Der Diasporapfarrer oder „Reiseprediger“ versuchte auf Anforderung bei Kasualien oder bei Bedarf den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Er besuchte, sooft er konnte, die ihm anvertrauten Gemeindeglieder, hielt Gottesdienste, übernahm die Kasualien, reichte das Abendmahl, vermittelte Unterstützung und leistete Seelsorge – in vielen Fällen auch Alltagsbewältigung. Die Situation unterschied sich von Ort zu Ort. Organisatorisch, aber auch religiös war die Lage äußerst unterschiedlich, und keine der Herausforderungen gestalteten sich gleich.
Das Diasporaheim in Hermannstadt: Einer Anregung des von 1895-1903 amtierenden Reisepredigers Ernst Bardy folgend befürwortete am 18. November 1899 das Landeskonsistorium den Plan der Gründung eines Diasporaheims. Am 1. September 1900 wurde es zunächst in einer Mietwohnung in Hermannstadt eröffnet und 12 bis 14 Kinder aufgenommen. 1901 waren es bereits 18. Bis zum 1. April 1908 überlebte es den Weggang von Bardy: Insgesamt 137 Kinder und Jugendliche waren dort aufgenommen worden. Übergangs Weise leitete das Heim Viktor Gellner, der es „vermöge seiner pädagogischen Kenntnisse zu einer Musteranstalt machte, er war den Kindern nicht bloß der Leiter, der Direktor, nein ihr Vater, Erzieher und Freund.“ (Bericht 1914, 7) Aber die persönliche Verbindung in die Familien der siebenbürgischen Diaspora fehlte, und der Nachzug von Kindern blieb aus. Als 1909 das jung verheiratete, aber dauerhaft kinderlos gebliebene Ehepaar Käthe und Berthold Buchalla die Diasporaarbeit übernahm (Bericht 1914, 8), eröffnete Bischof Dr. Friedrich Teutsch (1852-1933) bereits am 1. September 1909 das Heim mit 25 Zöglingen am Hundsrücken 19 erneut. Die ständig steigende Belegung führte 1912/13 zu einem Neubau auf dem Gelände des sogenannten „Meisterische Garten“. In diesem Gebäude fanden bis zu 82 Kinder gleichzeitig Aufnahme (Buchalla 1923, 58). Nach Geschlechtern getrennt wohnten die Kinder in modern ausgestatteten Räumen (bericht 1914, 13). Der Wunsch nach einer Erweiterung konnte erst 1939/40 realisiert werden. Dieses kirchliche Internat hat vielen Kindern aus Gemeinden und Regionen ohne deutschsprachige, evangelische Schule auf Grund der vielseitig diversifizierten Schulsituation in Hermannstadt optimale Bildungschancen ermöglicht.
Ein Großteil der Heimkosten für die Kinder und Jugendlichen wurde aus Spenden und Unterstützungsleistungen ausländischer Geldgeber getragen. Absicht war es, „Männer und Frauen zu erziehen, wie sie unsere Kirche insbesondere in der Zerstreuung benötigt, die mit einem Herzen voll Liebe und Hingebung stets für ihr Volkstum und ihren Glauben eintreten.“ (Buchalla 1923, 56) In Bardys zweitem Jahresbericht formulierte der Reiseprediger seine persönliche Einschätzung: „und jedes Mal, so oft der Leiter des Heimes in die Diaspora kommt, werden immer wieder Bitten laut um Aufnahme kirchlich und national gefährdeter Kinder in das Diasporaheim. Und wenn irgendwo, so tut hier Hilfe, dringende Hilfe not, wenn wir nicht unsere Brüder und Schwestern verlorengehen lassen wollen.“ (Buchalla 1923, 56f.) Wenngleich auch einige Kinder das Gymnasium oder die Realschule besuchten, so lag insbesondere Berthold Buchalla eine am Herkunftsmilieu orientierte Bildung der Kinder am Herzen: „so will auch hier das Diasporaheim tatkräftig mithelfen, indem es sich zum Ziele gesetzt hat, starke, gesunde, gesinnungstüchtige Kinder für das Gewerbe großzuziehen.“ (Buchalla 1923, 58)
Kollektenreise in die USA: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde Siebenbürgen – gemäß den Forderungen des US-Präsidenten Wilson nach Selbstbestimmung der Völker und völkerrechtlich verbindlich im Vertrag von St. Germain – mit dem Königreich Rumänien zusammengeschlossen (Wien 2021, 345f.). Massive ökonomische Probleme kennzeichneten die Lage: Auch die Situation der Ev. Landeskirche war äußerst prekär; sie stand vor dem „Bankerott“ (Teutsch 1920). Die Landeskirche griff in der Verzweiflung nach jedem sich bietenden Strohhalm. Dazu zählte auch die Überlegung einer Solidar-Aktion der in Übersee lebenden, ausgewanderten Siebenbürger Sachsen zugunsten der Notlage der Evangelischen Kirche in Siebenbürgen. Generalkonsul Hermann Hann von Hannenheim stellte am 5. Januar 1920 die Idee dem Landeskonsistorium vor, das sie sich umgehend in seiner Sitzung am 24. Januar 1920 zueigen machte (Urkundenbuch 4/1, 92). In Bankdirektor Dr. Friedrich Krauß und Diasporapfarrer Berthold Buchalla wurden zwei Emissäre beauftragt und für deren nötige – auch staatliche – Legitimation gesorgt. Die Reise dauerte vom 6. April 1920 bis etwa zum 10. August 1920. Der Diasporapfarrer legte ein mehrteiliges Reisetagebuch im Oktavformat an. Die zwei ersten Büchlein sind erhalten und geben einen Einblick in die Beziehungen, Gespräche, Konflikte, Seelenlage, Beobachtungen, Reiseroute und Ergebnisse der Reise.
Zeitgleich sah sich der National Lutheran Council (NLC), das Lutherische Nationalkomitee in den USA, verpflichtet, die notleidenden Lutheraner Europas zu unterstützen. Bereits am 16. Januar 1920 reiste der Vorsitzende der Europakommission des NLC, Dr. John A. Morehead (1867-1936) nach Europa ab, um sich persönlich ein Bild von den oft verheerenden Zuständen in Mittel- und Osteuropa zu machen. Seine Berichte zeichnen ein detailliertes, sehr scharfsinnige Beobachtungen enthaltendes und in weiten Teilen zutreffendes Bild der jeweiligen Länder sowie der kirchlichen und kirchenpolitischen Lage der dort lebenden Protestanten, insbesondere der Lutheraner. „I was able to establish contact of an oficial kind with every group of Protestants in Transylvania – Hungarian Lutherans, Saxons, and Hungarian Reformed.“ (ELCA-Archives PA 141/1, NLC, Larsen Files 1920-04-02) Dabei sah Morehead in der Zersplitterung der Protestanten des neu formierten Rumäniens eine Schwäche, weswegen er für eine gemeinsame organisatorische Zukunft der Lutheraner oder gar der Protestanten des Landes plädierte (Ebenda). Der NLC müsse diesen noch unverbundenen und verwaisten Gruppen übergangsweise helfen, in einem merkwürdigen Land zu leben (Ebenda, Morehead Reports 1920, 1). Über die Siebenbürger Sachsen vermerkte Morehead, es sei ein „ein kleines Deutschland“ umgeben von Bergen (Ebenda, 3). Stärke und Schwäche der deutschen Mutterkirche spiegelten sich auch in Siebenbürgen, verdoppelten sich aber in besonderer Weise. Über die theologische Ausrichtung der Pfarrer meinte Morehead auf Grund seiner Informationen berichten zu können, dass – trotz früherer liberaler und rationalistischer Ausrichtung – die überwiegende Mehrheit nun „positive in tendency and teaching“ (Ebenda, 5) sei, was wohl meinte, sie vertrete eine an der Confessio Augustana invariata orientierte konservativ lutherische Einstellung. Der von Morehead nicht positiv geschätzte Gustav-Adolf-Verein habe zwar im praktischen Leben der Landeskirche großen Einfluss ausgeübt, und sein programmatisches Ideal einer Bewahrung bzw. Förderung der deutschen Kultur sei einem nationalistischen Geist entsprungen und habe diesen gefördert. Deswegen hätten die in Siebenbürgen unterstützten Kirchen sich dem praktischen Christentum zugewandt und seien „self-sacrifizing“ (Ebenda, 6), also sich selbst-aufopfernd geworden. Umso mehr müsse der NLC auch der Landeskirche bei ihren enormen Schwierigkeiten vorübergehend aushelfen, um das Schulwesen, aber auch die Witwen und Waisen zu unterstützen (Ebenda, 7). Trotz aller durchaus kritischen Distanz befürwortete Morehead eine substantielle Unterstützung, insbesondere auch im Blick auf die konservativ-lutherischen Kirchengebiete in Bessarabien, der Bukowina und im Banat (Ebenda, 8).
Vor diesem Hintergrund war der NLC bereit, mit nicht unbeträchtlichen Summen sofort, aber auch kontinuierlich zu helfen. Allerdings bestanden die Verantwortlichen Dr. Larsen, Knubel und Stough gegenüber den Emissären Dr. Friedrich Krauß und Berthold Buchalla darauf, dass die materielle Abwicklung der eingehenden Spendengelder über die Konten des NLC laufen müsse. Um – auch für den NLC – Transparenz zu schaffen, schien dies auch Buchalla und Dr. Krauß die sinnvollste Lösung zu sein. Abgesehen davon stärkte es auch die kirchenpolitische Position des erst 1918 begründeten, noch jungen NLC in den USA.
Die kritischen Fragen der NLC-Leitung richteten sich auf Divergenzen bei statistischen Angaben, die Buchalla auf Grund aktueller, offizieller statistischer Angaben der Landeskirche leicht ausräumen konnte. Heikle Nachfragen parierte Buchalla geschickt. (Ebenda, Buchalla vom 10.6.1920, in Relief Southeastern Europe)
Buchalla notierte durchaus auch eigene Beobachtungen über Verhaltensformen und Grundeinstellungen einiger US-Pfarrer, denen er begegnete, und ihrer materiellen Praktiken, die ihn sehr kritisch zeigen gegenüber der kirchlich verbreiteten amerikanischen Geldakquisitions-Strategie.
Im Frühjahr 1920 fungierte Buchalla bei der Durchreise durch Deutschland als Bote bei verschiedenen reichsdeutschen Institutionen, wo er auf großes Entgegenkommen traf. Aber auch die Lutheraner in den USA waren sehr hilfsbereit, allerdings ging die etwas belehrende Beredsamkeit und nationalistische Grundeinstellung Buchallas unter anderem dem Generalsekretär des National Lutheran Council, Lauritz Larsen (1870-1923) zunehmend auf die Nerven (ELCA-Archives, PA 141/1, Larsen Diary, 16). In Erie trafen Buchalla und Krauß einen zentralen Ausschuss, dem der Großpräsident des Zentralvorstandes der sächsischen Vereine, Karl Konnerth, der Groß-Sekretär Georg Schneider und der Groß-Schatzmeister Johann Häner angehörten. Auf deren briefliche Aufforderung wurden entsprechende Ortsausschüsse gebildet. Für die beiden Emissäre wurde eine „Propaganda-Reiseroute festgelegt“ (ZAEKR 103: Z. 524/ 1922, in GZ 620/1925). Alle Verantwortlichen vor Ort wurden postalisch benachrichtigt und die Route im „Siebenbürgisch-Amerikanischen Volksblatt“ veröffentlicht. Perforierte Blocks wurden verschickt, um den Spendern je eine Quittung und dem Vorstand je einen Gegenbeleg zur Erstellung von Spender-Listen zu liefern. Acht Wochen lang waren die beiden Emissäre ständig unterwegs. Buchalla und der Direktor der Transsylvania-Bank, Dr. Fritz Krauß, besuchten die Gemeinden und siebenbürgisch-sächsischen Lokalvereine in Erie, Buffalo, Willkesbarre, Philadelphia, Cleveland, Lorain, Pittsburgh, Homestead, Monaca, Youngstown, New Castle, Farrell, Salem und Alliance und wohl auch noch weitere Gemeinden. Außerdem beabsichtigten sie, noch Columbus (Ohio), St. Louis, Chicago und Cinncinati aufzusuchen. In Washington und New York standen Behördengänge, Koordinierungs- und Finanzfragen sowie Pressebegegnungen auf dem Programm. Wenngleich die Erwartungen Buchallas, dass der NLC 30.000 US-Dollars gäbe, enttäuscht wurden, weil dieser die für 1920 gewährte Hilfe auf 18.000 US-Dollars begrenzte, so ging Buchalla in einem Privatbrief an seine Frau trotzdem davon aus, „dass wir das 10fache unserer Ausgaben zusammenbringen werden. […] Ganz abgesehen von dem Materiellen war unsere Reise eine unbedingte Notwendigkeit. Der moralische Erfolg kann mit Zahlen gar nicht ausgedrü[c]kt werden.“ (ZAEKR 525, Tagebuch Buchalla) Beide Emissäre ertrugen die Strapazen der Reise, die sie als „unsagbar beschwerlich und bis zur Erschöpfung ermüdend“ (Ebenda) empfanden. Nach Beendigung dieser Kollektenreise fanden sich beide Emissäre wieder in New York ein. Dr. Krauß und Buchalla reisten allerdings nicht allein nach Europa. Der NLC-Generalsekretär Dr. Lauritz Larsen reiste am 21. Juli 1920 von New York (Larsen-Diary, 1-3) nach Europa, traf den Vorsitzenden des Europa-Komitees des NLC, Dr. John A. Morehead und anschließend den Verantwortlichen für Soldaten- und Seemanns-Wohlfahrt, Prof. Michael J. Stolee (1871-1946) in Berlin (Larsen-Diary, 20 und 25). Alle drei offiziellen US-Kirchenrepräsentanten bereisten auf getrennten Routen Mittel- und Südosteuropa, um eine kirchliche (lutherische) „Hilfsaktion“ vorzubereiten beziehungsweise zu koordinieren. Larsen besuchte auf seiner Tour auch Rumänien und Siebenbürgen und überbrachte persönlich 20.000 US-Dollars.
Der Besuch Buchallas und Krauß’ bei den Landsleuten in den USA hatte kurzfristig einen emotional tief aufwühlenden und mobilisierenden Effekt: Es kamen beträchtliche Spendensummen zusammen. Die mittelfristig versprochenen und beschlossenen Hilfszusagen, die die beiden Vertreter der Heimatkirche erreichten und Buchalla mit Begeisterung notieren konnte, hatten merkwürdiger Weise keine nachhaltige Wirkung. Obwohl es unter den ausgewanderten Sachsen – wie man dem Tagebuch mehrfach entnehmen kann – einen nicht unbeträchtlichen, wohlhabenden und gesellschaftlich arrivierten Teil gab, der zu bedeutenden Spendensummen bereit war, außerdem auch ein Großteil der angesprochenen Menschen zu einer dauerhaften Jahresabgabe bereit gewesen war, scheint es durch den (insbesondere in der Nachkriegszeit) gestörten Kapitalverkehr zu Vertrauensverlusten bei den Spendern gekommen zu sein. Verunsicherung, Intransparenz und Gerüchte ließen die Spendenwilligkeit rasch erlahmen. Die Leitung der Landeskirche in Hermannstadt hat – laut Ein- und Ausgangsprotokoll der Kanzlei – umgehend die eintreffenden Briefe beantwortet, die durch die Banken allerdings oft mit großer Verzögerung überwiesenen Summen durch Dankschreiben bestätigt und anschließend die Verwendung zweckentsprechend verwendet. Allerdings war die Briefzustellung unzuverlässig, was Verunsicherung hervorrief. Die Kooperation mit der Südosteuropäische Handelsgesellschaft in Berlin wurde allerdings auf Grund hoher Unzufriedenheit durch das Landeskonsistorium gekündigt. Es lief also nicht alles rund!
Die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Kontaktpflege, die Diasporapfarrer Buchalla erkannt hatte, wäre hilfreich gewesen und hätte den nachhaltigen Erfolg wohl stabilisieren können; aber das Landeskonsistorium hat sich zu einer solchen „Auswandererseelsorge“ – wohl auch aus prinzipiellen Erwägungen gegen die Emigration – nicht entschließen wollen. In der Situation, in der die antideutsche Stimmung in USA von den eingewanderten Deutschen sowie von den Siebenbürger Sachsen massiv erlitten wurde, bedeutete die Abstinenz und Distanz der Landeskirche indirekt eine Verstärkung der Assimilationstendenz im „melting pot“ der USA, besonders in der zweiten Generation.
Kurzfristig stellten die Siebenbürger Sachsen in USA der Landeskirche 30.000 US-Dollars zur Verfügung, die als einmalige Zuwendung allerdings nur eine geringe Entlastung für den landeskirchlichen Haushalt erbrachte.
Leider fehlen die Schlusspassagen der Tagebuchaufzeichnungen, in denen wohl eine Bilanz, die Rückkehr nach Europa und die Kontakte sowie Finanzangelegenheiten in Berlin geschildert worden sind. Trotz dieser bedauerlichen Verluste stellt das Tagebuch eine unschätzbare Quelle im Blick auf die Mentalitätsgeschichte sowohl der Ausgewanderten als auch der Emissäre und ihrer Auftraggeber dar.
Ungedruckte Quellen: ELCA-Archives PA 141/1, NLC, Larsen Files, Relief-European, Commissioner, Morehead, January-July 1920, 1920: Brief Moreheads vom 2. April 1920 aus Wien an Dr. Larsen. – ELCA-Archives: National Lutheran Council, Lauritz Larsen Files, Relief-European, Commissioner, Morehead, Reports 1920: The Lutherans in Great Roumania (10. April 1920). – ELCA-Archives: National Lutheran Council, Lauritz Larsen Files, Relief Southeastern Europe. A-H, 1920. Typoskript des Schreibens von Buchalla an Dr. Larsen vom 10. Juni aus Cleveland. – ELCA Archives, PA 141/1: Lauritz Larsen: Diary of European Trip 1920, 16. – ZAEKR 103: Z. 524/1922, in: GZ. 620/1925. – ZAEKR 525: Tagebuch Buchalla. (Die Transkription des Tagebuchs ist kritisch ediert, in: Ulrich A. Wien, Resonanz und Widerspruch. Von der siebenbürgischen Diaspora-Volkskirche zur Diaspora in Rumänien. Erlangen 2014, S. 145-223. – Eine kurze Auswahl in englischer Sprache ist jüngst erschienen: Berthold Buchalla, A Saxon-Romanian Lutheran Pastor’s Journey to the USA to Collect Funds, 1920, introduction by Ulrich Wien, translation by Alexander Fisher, in The Journal of the Lutheran Historical Conference, Volume 8, 2018, pp. 107-129.)
Lit.: Bericht über das Diasporaheim in der evang. Landeskirche A.B. in Hermannstadt im Schuljahr 1912/13, Hermannstadt 1914. – Berthold Buchalla, Die Diaspora der evangelischen Landeskirche A.B. in Siebenbürgen und in Nordamerika, in: Die evang. Landeskirche A.B. in Siebenbürgen mit den angeschlossenen evang. Kirchenverbänden Altrumänien, Banat, Beßarabien, Bukowina, Ungarisches Dekanat. Festschrift herausgegeben vom Institut für Grenz- und Auslandsdeutschtum an der Universität Marburg 1922, Jena 1923, 37-59. – Ulrich A. Wien/ Dirk Schuster, Sitzungsprotokolle des Landeskonsistoriums der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien 1919-1944. – (Urkundenbuch der Evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien, Band 4/1-2: 1919-1932), Hermannstadt 2020. – Verhandlungsbericht der Dreizehnten Landeskirchenversammlung 1887, hrsg. vom Landesconsistorium der evangelischen Landeskirche A.B. in Siebenbürgen. Hermannstadt 1887. – Ulrich A.Wien, „Man wechselt sein Vaterland doch nicht wie ein Hemd“, in: Die Evangelische Landeskirche in Rumänien nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in: Herbergen der Christenheit 2021, S. 345-366.
Bild: Zentralarchiv der Landeskirche in Hermannstadt
Ulrich A. Wien