Ereignis vom 1. Januar 1952

Die „Mutter der Vertriebenen“ in Königstein

Mutter der Vertriebenen

Seit 1952 steht in Königstein im Taunus in der dortigen Kollegskirche eine Schutzmantelmadonna aus Lindenholz, zu der seitdem von den Vertriebenen gewallfahrt wird. Das 1,80 m hohe Gnadenbild wird als „Mutter der Vertriebenen“ verehrt und wurde unter diesem Stichwort auch in das sechsbändige „Marienlexikon“ des Regensburger Institutum Marianum auf­genommen.

Die volkskundliche Wallfahrtsforschung hatte sich nach dem Kriege auch der Vertriebenenwallfahrten angenommen und die Beziehungen zwischen Wallfahrt und Heimatverlust untersucht.

Unmittelbar nach der Vertreibung setzten die ersten Wallfahrten katholischer Vertriebener ein. Schon 1946 trafen sich Tausende, oft Zehntausende in Altötting, Werl, Andechs und anderen Orten. Neben bestehenden großen Pilgerzielen wurden später auch kleinere Orte aufgesucht, wo man zum Teil auch Ersatzwallfahrtsstätten für die verlorenen Pilgerorte der alten Heimat schuf. Dies geschah auch in Königstein, wo bereits 1946 durch die in den Räumen ehemaliger Kasernen gegründeten Königsteiner Anstalten „das vielleicht wichtigste religiöse Zentrum der heimatvertriebenen Katholiken“ entstand. Sie be­her­bergten u.a. eine Philosophisch-Theologische Hochschule mit Priesterseminar (bis 1977), ein Gymnasium mit Schülerkonvikt, das Priesterreferat für den Vertriebenenklerus, Prie­sterwerke für die sudetendeutschen, schlesischen und nordostdeutschen Priester, die Ostpriesterhilfe und verschiedene Institute. Königstein wurde allgemein als das „Vaterhaus der Vertriebenen“ bezeichnet.

Später kam auch das „Haus der Begegnung“ dazu, eine „über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannte Tagungsstätte“, und 1952 die Kongresse „Kirche in Not“, von denen insgesamt 45 abgehalten wurden.

Auf Anregung des Leiters der Königsteiner Anstalten, Prälat und seit 1966 Weihbischof Prof. Dr. Adolf Kindermann, wurden seit 1950 Marienwallfahrten in der Kollegskirche durchgeführt, die aus einer verwüsteten Sporthalle der ehemaligen Kasernen umgebaut worden war. Kindermann, selber ein großer Marienverehrer aus dem nordböhmischen Niederland, hatte bereits 1950 zur ersten Marienwallfahrt nach Königstein eingeladen und nahm selbst bis zu seinem Tode 1974 alljährlich an zahlreichen Wallfahrten der Heimatvertriebenen nach Altötting, Werl, Mariazell u.a. teil.

Auf seine Anregung geht auch die vierbändige Bestands­auf­nahme „Sudetenland – Marianisches Land“ zurück, in der seit dem Marianischen Jahr 1954 die deutschen Wallfahrtsorte Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens vorgestellt wurden, als der Eiserne Vorhang Besuche dort noch erschwerte oder gar unmöglich machte.

Die 1952 in der Kollegskirche aufgestellte Schutzmantelmadonna aus Lindenholz wird seitdem als „Mutter der Vertriebenen“ verehrt. Die Statue ist das Werk des schlesischen Bildhauers Erich Jaekel, der 1903 in Glogau geboren wurde und der als Kriegsgefangener in Stalingrad gelobt hatte, ein großes Marienbild zu schaffen, falls er die Heimkehr erlebte. 1948 kehrte er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück und erfüllte bald sein Gelübde. Schon 1951 schuf er die sogenannte „Theologenmadonna“ für die Kapelle des Königsteiner Prie­sterseminars, ein Jahr später entstand dann die majestätische „Königsteiner Schutzmantelmadonna“, die am Fest Mariä Heimsuchung 1952 geweihte „Mutter der Vertriebenen“.

Jaekel schuf in enger Absprache mit Prälat Kindermann bewußt das Motiv der beschirmenden Muttergottes, das in der Kirchengeschichte mit dem Hymnus „Unter Deinen Schutz und Schirm fliehen wir “ bis ins 4. Jahrhundert zurückreicht.

Während dieses Marienmotiv im Osten meist nur im Hymnus, seltener in der Ikonographie dargestellt wird, finden wir in der abendländischen Kunst zahlreiche Bilder und Statuen, wobei auch der Rechtsbrauch des Mantelschutzes und Adoptionsgedankens von Asylsuchenden einbezogen ist. So wie im Mittelalter die Künstler ganze Volksmengen unter dem Gewand Mariens versammeln, Ständevertreter von Papst und Kaiser bis zum einfachen Volk, so hat Jaekel drei Generationen einer heimatvertriebenen Familie unter den Schutz Mariens aus Holz gehauen: Großeltern, Eltern und Kinder.

Die Statue wurde von den Gläubigen gerne angenommen. Bilder davon wurden nicht nur bei den Wallfahrten in Königstein verbreitet, sondern überall, wo sich Prälat Kindermann mit seinen Gläubigen traf.

Die Hauptwallfahrt zu diesem neuen Gnadenbild war ursprünglich am 1. Sonntag im Juli, kurz nach Mariä Heimsuchung, später dann am 2. Sonntag im September, also um Mariä Geburt. Die 1957 ins Leben gerufene Königsteiner Anna-Wall­fahrt der Schlesier am 3. Sonntag im August galt neben einer Nachbildung des Wallfahrtsbildes vom schlesischen Annaberg auch der „Mutter der Vertriebenen“. Neben den Sudetendeutschen und den Schlesiern waren es vor allem die Ermländer und Ungarndeutschen, die regelmäßig nach Königstein wallfahrteten. Es gab im Rahmen solcher Wallfahrten auch schlesische Hedwigsfeiern, während die Sudetendeutschen vor allem des heiligen Johannes Nepomuk (16. Mai) gedachten. Seit Anfang der sechziger Jahre entstanden auch Wallfahrten der vertriebenen Katholiken der Diözese Königgrätz im Frankfurter Raum, wo man bei den Predigten und in den nachmittäglichen Heimatstunden an die heimatlichen Wallfahrtsorte im Bistum Königgrätz, vor allem an den Muttergottesberg bei Grulich erinnerte.

Schon früh erbrachten die einzelnen landsmannschaftlichen Gruppen ihren Beitrag zur Ausgestaltung der Königsteiner Kollegskirche. Die Sudetendeutschen schmückten die Beichtkapelle und erinnerten neben Johannes Nepomuk auch an einen anderen hl. Johannes, den 1963 selig- und 1977 heiliggesprochenen Bischof Johann Nepomuk Neumann aus dem Böhmerwald, nach dem 1966 die neu erbaute Schule den Namen Bischof-Neumann-Schule erhielt. Schlesier, Ungarndeutsche und Ermländer richteten eigene Seitenaltäre ein, wobei die Schlesier neben einer Darstellung der hl. Anna auch Erde vom oberschlesischen Annaberg in einer Glas-Urne aufstellten. Die Ungarndeutschen stifteten eine Holzstatue des hl. Königs Stephan und die Ermländer ein Mosaik, das neben der hl. Dorothea von Montau auch Szenen eines ostpreußischen Flüchtlingszuges darstellt.

Besonders die schlesischen Priester Prälat Oskar Golombek und Msgr. Franz Ganse bemühten sich um die seelsorgerliche Betreuung bei den Wallfahrten ihrer Landsleute, eine Tradition, die Prälat Winfried König als Visitator für die Gläubigen aus der Erzdiözese Breslau bis heute aufrecht erhält. Es gelang ihm dabei, auch die Spätaussiedler einzubeziehen. So ist auch heute, nach der Auflösung des Albertus-Magnus-Kollegs, diese schlesische Wallfahrt noch eine Erinnerung an das ehemalige Zentrum der katholischen Vertriebenen.

Bild: Abbildung „Mutter der Vertriebene“n Institut für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien, Haus Königstein

Rudolf Grulich (OGT 2002, 405)