Nach dem Ersten Weltkrieg zwangen die Siegermächte der Entente den besiegten Staaten Deutschland und Österreich-Ungarn Friedensdiktate auf, die den Stoff für neue Konflikte in sich trugen. Deutschland verlor durch den Friedensvertrag von Versailles seine Kolonien und einen großen Teil seines Staatsgebietes. Es wurde gezwungen, seine angebliche alleinige Kriegsschuld anzuerkennen und ihm wurden unerträgliche und maßlose Reparationsleistungen aufgebürdet. Der Kaiser dankte ab und ging in die Emigration in die Niederlande.
Noch härter traf es die in Jahrhunderten gewachsene österreichisch-ungarische Monarchie, die nach dem Willen der Sieger völlig von der Landkarte zu verschwinden hatte. Es entstanden acht neue Staaten, darunter die Tschechoslowakei, bevölkert von Tschechen, Slowaken, Deutschen, Ungarn, Polen, Karpato-Ukrainern und Juden, die sich vorwiegend zum Deutschtum bekannten. Bei den Deutschen verfügten die Sudetendeutschen über ein nahezu geschlossenes Siedlungsgebiet. Sie hatten nicht den Wunsch, in einem slawischen Nationalstaat der Tschechen und Slowaken mit Frontstellung gegen Deutschland und Österreich (denn so war der neue Staat von Seiten der Sieger konzipiert) zu leben, sondern fühlten sich als Österreicher und letzten Endes als Deutsche. In den Sudetenländern (Deutsch-Böhmen, Sudetenland – nicht identisch mit dem späteren Reichsgau Sudetenland –, Österreichisch-Schlesien und Deutsch-Südmähren) entstanden Verwaltungsorgane, die den Anschluss an Deutsch-Österreich zum Ziele hatten, und auch die junge Republik Deutsch-Österreich betrachtete die Sudetendeutschen als ihre Staatsbürger und das spätere Sudetenland als einen integralen Bestandteil ihres Staatsgebietes. Sie wünschten die Teilnahme an den Wahlen zum österreichischen Parlament, die ihnen jedoch die durch die Regierung der Tschechoslowakei strikt verweigert wurde. Schon sehr früh hatte die tschechoslowakische Regierung in Prag versucht, vollendete Tatsachen zu schaffen. Am 14. Dezember 1918 besetzten tschechische Truppen Reichenberg (heute: Liberec), am 18. Dezember 1918 Troppau (heute: Opava). Die Regierung Deutsch-Böhmens unter dem konservativen Politiker Dr. Rudolf Lodgman von Auen emigrierte nach Wien und versuchte von dort aus vergeblich, die Rechte der Sudetendeutschen bei den Siegermächten einzufordern. Sie berief sich dabei auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der beim Kriegseintritt der USA im Jahre 1917 das Selbstbestimmungsrecht der Völker zum wichtigsten Kriegsziel der Westalliierten erklärt hatte. Auch die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika war jedoch nicht bereit, den Sudetendeutschen das Selbstbestimmungsrecht zuzugestehen.
Das „Selbstbestimmungsrecht“, dieses Wort, das damals eine geradezu magische Wirkung auf alle Nationen und nationalen Minderheiten in Europa ausübte, ist allerdings ein buntschillernder Begriff. Es konnte die völlige Losreißung eines Gebietes von einem Gesamtstaat und seinen Anschluss an einen anderen Staat bedeuten, es konnte aber auch bedeuten, dass eine nationale Minderheit innerhalb eines geschlossenen Staatsgebietes nach weitgehender Kultur- und Verwaltungsautonomie strebt und diese im günstigsten Fall von einem verständnisvollen Staatsvolk auch gewährt wird.
Von gegenseitigem Verständnis zwischen Deutschen und Tschechen konnte jedoch im Jahre 1919 keine Rede sein; die Sudetendeutschen erstrebten mehrheitlich den Anschluss an Österreich oder direkt an Deutschland. Auch der Anschluss an Österreich hätte letzten Endes den Anschluss an Deutschland bedeutet, denn ein großer Teil der Österreicher hielt Österreich nicht für einen auf die Dauer lebensfähigen Staat und wünschte seinerseits den Anschluss an Deutschland.
Zwei Schreiben Lodgmans an Präsident Wilson mit der Bitte um Errichtung einer Demarkationslinie zwischen dem deutschen und dem tschechischen Siedlungsgebiet blieben unbeantwortet. Privat vertrat der amerikanische Präsident die Ansicht, man habe die Tschechoslowakei im Vertrag von Pittsburgh 1917 als eine kriegsführende Macht im Kampf gegen Österreich-Ungarn anerkannt und ihr die neue Grenze zugesichert, daran lasse sich nun einmal nichts ändern. Im Februar 1919 entließ die österreichische Regierung in der klaren Erkenntnis, dass sich an den harten Friedensbedingungen der Alliierten für Österreich nichts ändern würde, die Sudetendeutschen aus der österreichischen Staatsbürgerschaft, obwohl der sogenannte Friedensvertrag von St. Germain noch nicht unterzeichnet war. In diesem Vertrag musste Österreich nicht nur seine deutschsprachigen Gebiete in Böhmen, Mähren und Schlesien an die Tschechoslowakei abtreten, sondern auch Südtirol wurde Italien zugesprochen. Teile Kärntens und der Steiermark mussten an den Vorläuferstaat des späteren Jugoslawien abgetreten werden. Ethnische Konflikte waren vorprogrammiert.
Es war ein feierlicher und tränenreicher Abschied, bei dem der Abgeordnete Dr. Rudolf Lodgman von Auen sinngemäß erklärte, die Sudetendeutschen fühlten sich nunmehr wie ein Sohn, der sein Vaterhaus verlässt. Der österreichische Bundespräsident Dr. Karl Renner gab der Hoffnung Ausdruck, dass dreieinhalb Millionen Deutsche eines Tages die Kraft finden würden, ihre Rechte auch in einem fremden Staat durchzusetzen. Nunmehr wussten die Tschechen, dass sie freie Hand hatten. Den tschechischen Soldaten, die im November und Dezember 1918 gekommen waren, folgten Angehörige des tschechischen nationalistischen Turnerverbandes Sokol, es kam zu antideutschen Übergriffen. Deutsche Schulen wurden geschlossen, deutschsprachige Ortsschilder und Wegweiser wurden entfernt und durch zweisprachige (wobei Tschechisch zuerst rangierte, obwohl es sich um deutsches Siedlungsgebiet handelte) oder auch durch solche nur in tschechischer Sprache ersetzt. Vor allem aber beseitigten die Tschechen die ihnen verhassten Symbole der Habsburger Monarchie, so wurde beispielsweise in Teplitz-Schönau das Denkmal des Reformkaisers Joseph II., das erst im Jahre 1911 errichtet worden war, durch tschechische Legionäre gestürzt. Die Sudetendeutschen, die zu den treuesten Anhängern der Habsburger Monarchie gehört hatten, fühlten sich durch diese Gewaltakte besonders gekränkt.
Während die sudetendeutschen Politiker noch Überlegungen anstellten, wie sie sich mit den neuen Gegebenheiten abfinden sollten, erwachte bei der deutschen Bevölkerung der Volkszorn. Nun blieb den sudetendeutschen Politikern nichts anderes mehr übrig, als sich an die Spitze dieser Bewegung zu stellen.
Am 4. März 1919 trat in Wien das österreichische Parlament zusammen, an dessen Wahl sich die Sudetendeutschen nicht hatten beteiligen dürfen. An diesem Tage kam es unter der Führung des Konservativen Dr. Rudolf Lodgman von Auen und des deutschen Sozialdemokraten Dr. Josef Seliger, der schon damals von dem noch jungen Wenzel Jaksch unterstützt wurde, zu einem Generalstreik im gesamten Gebiet des späteren Sudetenlandes. Der Aufruf zum Generalstreik und zur zeitweiligen Schließung sämtlicher deutschen Geschäfte wurde in der wichtigsten Zeitung der deutschen Sozialdemokratie, der in Teplitz-Schönau erscheinenden Freiheit, veröffentlicht.
Alle Parteien des Sudetenlandes unterstützten diesen Aufruf. Eine Delegation der Sudetendeutschen, die nach Prag gereist war, um mit Vertretern der tschechoslowakischen Regierung zu sprechen, wurde durch den tschechischen Finanzminister Alois Rasin mit den barschen Worten abgewiesen „Mit Rebellen verhandeln wir nicht“.
Rasin erklärte, das Selbstbestimmungsrecht sei eine schöne Phrase, aber die Entente hätte gesiegt, letztendlich entscheide die Macht.
In Teplitz-Schönau hielt Josef Seliger eine Rede, in der er das Selbstbestimmungsrecht für die Sudetendeutschen und den Anschluss des Sudetengebietes an Deutschland forderte.
Die tschechoslowakische Regierung reagierte hart auf die friedlichen Demonstrationen der Sudetendeutschen. Sie entsandte Militär in die „Aufstandsgebiete“. Es wurde scharf geschossen. Insgesamt waren 54 Tote und etwa 130 Verletzte zu beklagen, von denen einige später noch an ihren Verletzungen starben. Unter den Toten und Verletzten befanden sich auch Frauen und Kinder. In der Kleinstadt Kaaden (heute: Kadan) im Saazer Hopfenanbaugebiet wurden 25 Demonstranten erschossen, in Mährisch-Sternberg (heute: Sternberk) 16. Auch in Aussig (heute: Usti), Brüx (heute: Most) und Dux (heute: Duchcov) gab es Tote. Dennoch war gegenüber den 241.000 Opfern tschechischen Rachedurstes nach 1945 der Blutzoll, den die Sudetendeutschen an diesem Tage zu entrichten hatten, ein kleines Rinnsal.
Man darf allerdings auch nicht vergessen, dass dazwischen die Zeit des „Protektorats Böhmen und Mähren“ mit zahlreichen Gräueltaten der deutschen Nationalsozialisten gegenüber Tschechen und Juden liegt.
Der 4. März trug 1919 dauerhaft dazu bei, dass in der ersten Tschechoslowakei die Beziehungen zwischen Tschechen und Sudetendeutschen vergiftet blieben. Die Regierung der Tschechoslowakei tat auch in der Folgezeit wenig, um ihren deutschen Staatsbürgern entgegenzukommen und die nationalistischen Überreaktionen der Gründungsphase vergessen zu machen.
Der 4. März 1919 wirkte wie ein düsterer Auftakt für jene Entwicklung, die später durch den Anschluss des Sudetenlandes an Hitler-Deutschland und danach durch die brutale Vertreibung der Sudetendeutschen durch die Tschechen gekennzeichnet war.
Die Sudetendeutschen begehen den 4. März als Gedenk- und Trauertag. Er hat einen hohen Stellenwert für die Volksgruppe, denn an diesem Tage sind Deutschböhmen, Egerländer, Böhmerwäldler, Deutschsüdmährer und Schlesier zum ersten Male gemeinsam als Sudetendeutsche aufgetreten und erkannten, dass sie vereint einen beträchtlichen Machtfaktor darstellten, auch wenn ihre Erhebung zunächst niedergeschlagen wurde.
Lit.: Oskar Böse/ Rolf-Josef Eibicht, Die Sudetendeutschen. Eine Volksgruppe im Herzen Europas, München 1989. – Hieronymus von Clary-Aldringen, Stadt und Kreis Teplitz-Schönau. Unsere unvergessene Heimat, Frankfurt am Main 1994. – Felix Ermacora, Die sudetendeutschen Fragen. Rechtsgutachten, München 1992. – Peter Glotz, Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück, München 2003. – Jörg K. Hoensch, Geschichte der Tschechoslowakischen Republik 1918 bis 1965, Stuttgart 1966. – Almar Reitzner, Die Sudetendeutsche Frage in der Europäischen Politik, München 1968. – Hans Schenk, Die Böhmischen Länder. Ihre Geschichte, Kultur und Wirtschaft, Köln 1998. – Ernst Paul, Böhmen ist mein Heimatland, Stuttgart 1974. – Theodor Veiter, Kein Schlußstrich. Die Sudetendeutschen und die Tschechen in Geschichte und Gegenwart, Wien und München 1994. – Klaus Zeßner, Josef Seliger und die nationale Frage in Böhmen, Stuttgart 1976.
Bild: Vertriebene Sudetendeutsche aus dem Jahr 1945 / Quelle: anonym, Vertreibung, CC BY-SA 1.0
Johann Frömel (OGT 2009, 361)