Ereignis vom 1. Januar 1916

Die Proklamation des Regentschaftskönigreichs Polen

Mitglieder des Regentschaftsrates des Regentschaftskönigreichs Polen

Die Proklamation des Regentschaftskönigreichs Polen steht im engen Zusammenhang mit den deutschen Kriegszielen des Ersten Weltkriegs. Bei Kriegsbeginn herrschte noch die Auffassung vor, dass der Krieg einen reinen Verteidigungscharakter hatte. Doch die raschen militärischen Erfolge weckten Expansionsbegehrlichkeiten. Ziel wurde eine Hegemonialstellung des Deutschen Reiches auf dem europäischen Festland. Die als Bedrohung empfundene Mittellage Deutschlands führte dazu, dass man diese durch Annexionen und absichernde Vasallenstaaten ausgleichen wollte. Im sog. „Septemberprogramm“ legte Reichskanzler Bethmann Hollweg am 9. September 1914 die deutschen Kriegsziele fest. Die Sicherung des Deutschen Reichs nach West und Ost auf lange Zeit war das Hauptziel. Um Frankreich als Großmacht auszuschalten, war die Beherrschung Belgiens eine zentrale Forderung.

Im Osten wollte man Russland von der deutschen Grenze fernhalten und sich mit Vasallenstaaten umgeben. Die Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker sollte gebrochen werden und diese Völker möglichst als deutsche Vasallenstaaten an das Deutsche Reich gebunden werden.

Aus diesem Grunde war die mehr oder weniger direkte Beherrschung Polens das zweite zentrale Kriegsziel. Die polnische Frage war seit den drei Teilungen Polens (1772, 1793, 1795) die wichtigste soziale und politische Frage in Ostmitteleuropa und ständiger Auslöser von Aufständen der polnischen Bevölkerung und damit von politischen Krisen im europäischen Herrschaftsgefüge der fünf führenden Großmächte, von denen drei als Teilungsmächte in diese Frage involviert waren. Verzicht auf die Teilungsgebiete zugunsten einer polnischen Autonomie kam dabei keinem der Teilungsmächte in den Sinn. Für solche Forderungen traten nur die verbleibenden Großmächte ein, die dadurch nichts verloren und politisch nur gewinnen konnten.

Das „Königreich Polen“, auch Kongresspolen genannt, wurde im Verlauf des Krieges von deutschen und österreichisch-unga­rischen Truppen weitgehend erobert und stand damit zur Disposition. Die Kriegsziele im weiteren Kriegsverlauf waren mehr utopische Gedankenspiele als realisierbar. Die Bildung von Vasallenstaaten in der Ukraine, auf der Krim bis hin in den Kaukasus wurde ins Spiel gebracht, aber nie wirklich in Angriff genommen.

Anders sah es im Baltikum und Polen aus. Das Regentschaftskönigreich Polen bildete dabei den Auftakt, doch noch weitere Vasallenreiche wurden angestoßen. Die Begehrlichkeiten im Deutschen Reich richteten sich sogar auf größere Annexionen.

Der Landesrat im von deutschen Truppen besetzten russischen Gouvernement Kurland rief am 8. März 1918, nach Abschluss des Friedensvertrags von Brest-Litowsk, das Herzogtum Kurland und Semgallen aus. Die hier dominierenden Deutsch-Balten boten Kaiser Wilhelm II. unter Umgehung der Nachkommen des letzten Herzogs des einst unabhängigen Herzogtums Kurland die Krone an. Die Verdrängung der Letten war dabei in manchen politischen Kreisen durchaus als erwünscht diskutiert.

Die Pläne wurden auf Estland und Lettland ausgedehnt, in Form eines Vereinigten Baltischen Herzogtums (22. September 1918), dessen konstitutionelles Oberhaupt der ehemalige Gouverneur der deutschen Kolonie Togo, Adolf Friedrich, Herzog zu Mecklenburg (1873-1969) werden sollte.

Weitere Vasallenreiche sollten in Litauen und Finnland entstehen. Als König des am 11. Juli 1918 gegründeten konstitutionellen Königreichs Litauen wurde der vielfach als Monarch auserkorene General der Kavallerie Wilhelm Karl von Urach (1864-1928), Graf von Württemberg, vorgeschlagen. Bereits vor dem Krieg war er im Gespräch für Monaco (1910), Albanien (1913), im Krieg auch für Polen und für ein neu zu schaffendes Großherzogtum Elsass-Lothringen. Mit der Gründung der Republik Litauen endete dieser Staatsgründungsversuch am 2. November 1918.

Der finnische Versuch mit einem Königreich Finnland mit dem Titular-Landgrafen von Hessen, Friedrich Karl (1868-1940), als König wurde bei Kriegsende am 9. Oktober 1918 gestartet und endete mit der Gründung der Republik Finnland am 17. Juli 1919.

Der zeitlich längste und dabei unausgereifteste Versuch der Gründung eines Vasallenstaates war das Regentschaftskönigreich Polen. Bereits bei Kriegsbeginn schmiedete der Kaiser Pläne das „Königreich Polen“ betreffend, das in Russland nur als Gouvernement „Weichselland“ geführt wurde. Die Verwaltung des Landes sollte in polnischen Händen liegen, doch der Kaiser sollte den militärischen Oberbefehl innehaben. Die Annexion der Region um Kalisch (Kalisz) stand zur Debatte. Als aussichtsreichste Thronkandidaten galten der österreichisch-ungarische Admiral Erzherzog Karl Stephan von Österreich (1860-1933), und dessen Sohn Karl Albrecht von Österreich (1888-1951), da beide polnisch sprachen.

Zu einer Entscheidung kam es jedoch nicht, da der österreichische Kaiser – sowohl Franz Joseph als auch sein Nachfolger Karl I. – selber die polnische Königskrone anstrebte.

Karl Stephan war im Juni 1916 von deutscher Seite als polnischer Regent vorgeschlagen worden.

Im Spätsommer 1915 hatten die Mittelmächte das russische „Weichselland“ erobert und jeweils ein ziviles Generalgouvernement gegründet, die Deutschen mit Sitz in Warschau unter Generaloberst Hans v. Beseler (1850-1921) und die Österreich-Ungarn in Lublin unter General Karl Kuk (1853-1935).

Der weitere Verlauf der Geschichte zeigte, dass die Wiedergründung des polnischen Staates nicht wirklich von Warschau ausging, sondern von Lublin durch polnische Aktivisten und nicht durch deutsch-österreichische Vasallen.

Beseler verfasste 1915 und 1916 mehrere Denkschriften über die Errichtung eines unabhängigen polnischen Staates, war aber wie auch Ludendorff für umfassende Annexionen. Die deutsche Politik richtete sich gegen die Bestrebungen des Militärs, während die Österreicher die Vereinigung des gesamten Königreichs Polen mit dem Königreich Galizien anstrebten. Aber auch hier gab es seitens der Ungarn und Deutsch-Öster­reicher eine heftige Gegnerschaft gegenüber diesen Plänen.

Die militärischen Rückschläge des Jahres 1916 sorgten für ein Umdenken und die Oberste Heeresleitung trat nun für ein unabhängiges Polen ein, um Russland so zu einem Sonderfrieden zu bewegen. Es wurde auch die Hoffnung gehegt, mit Hilfe einer polnischen Armee den Krieg im Westen zu gewinnen.

Beseler gelang es, eine größere Anzahl polnischer Unterstützer zu gewinnen. Sogar Józef Piłsudski (1867-1935) war anfangs nicht abgeneigt gegenüber der Idee eines neuen polnischen Königreichs. Im Oktober 1916 konkretisierten sich die Pläne und Absprachen.

Am 5. November verkündeten Beseler im Säulensaal des Warschauer Königsschlosses und zeitgleich Kuk in Lublin den Beschluss der beiden Kaiser, ein Königreich Polen neu zu errichten. Das Manko dieses Gründungsaktes war von Anfang an, dass es keinen König gab und auch die Reichsgrenzen nicht bestimmt wurden.

Offen gegen diese Pläne sprach sich der Führer der eher prorussischen Bewegung Endecja (Narodowa Demokracja = Nationale Demokratie), Roman Dmowski (1864-1939), in Paris aus. Dmowski, der später politisch gegen Piłsudski unterlag, wird auch als der Vater des polnischen Nationalismus bezeich­net.

Die folgenden Maßnahmen der deutschen Militärs zerstörten von Anfang an jegliche Chance, dass dieses „Regentschafts­königreich“ jemals ein Erfolg werden könnte. Die Oberste Hee­res­leitung ordnete an, dass polnische Arbeitslose in Arbeiterbataillone eingereiht und umgehend nach Deutschland gebracht werden sollten, um hier deutsche Arbeiter zu ersetzen, die zum Kriegsdienst einberufen worden waren. Die Umsetzung wurde rücksichtslos vorangetrieben. Auch die Werbung für die Armee des Regentschaftskönigreichs löste weitere große Proteste aus, denn noch gab es keine polnische Regierung und jeder konnte sehen, dass hier nur die Pläne des deutschen Militärs umgesetzt wurden.

Erst am 1. Dezember 1916 traf die 2. Brigade der sog. Pił­sudski-Legionen aus Lublin in Warschau ein, um die Basis der neuen Armee zu bilden. Erst jetzt bildet sich eine provisorische Regierung, der aus 25 Mitgliedern bestehende Staatsrat.

Inzwischen führte der Verwaltungschef der „Kaiserlich-deut­schen Zivilverwaltung beim Generalgouvernement Warschau“, Wolfgang v. Kries (1868-1945), die polnische Mark als neue Währung ein. Im Januar konstituierten sich dann die ersten Gremien des neuen Staates. Da die Zusammenarbeit funktio­nierte, gab Beseler immer mehr Kompetenzen ab. In der gespaltenen Bevölkerung kam es aber immer öfter zu Streiks und Unruhen. Piłsudski und andere linksstehende Mitglieder des Staatsrats legten daraufhin ihre Mandate nieder. Er und andere wurden dann in Wesel und Magdeburg in „Schutzhaft“ genommen.

Wegen der von Beseler und Kuk ausgearbeiteten Eidesformel für das Heer, das auch die Waffenbrüderschaft zu den Mittelmächten umfasste, kam es zu einer weiteren Krise. Viele Legionäre verweigerten den Eid und wurden interniert; die verbliebene Legion wurde an die Ostfront gebracht.

Die erste provisorische Verfassung wurde am 12. September veröffentlicht und bis zur Herrschaftsübernahme durch einen König einem Regentschaftsrat die oberste Staatsgewalt über­tragen. Ihm gehörten seit dem 18. September 1917 der Erzbischof von Warschau, Aleksander Kardinal Kakowski (1862-1938), Fürst Zdzisław v. Lubomirski (1865-1943) und Józef v. Ostrowski (1850-1923), der ehemalige Vorsitzender des Polenklubs in der Duma in Sankt Petersburg, an.

Am 26. November wurde der bisherige Kronreferendar Jan Kucharzewski (1876-1952) zum ersten Ministerpräsidenten des Königreiches ernannt.

Als kurz darauf (11. Dezember 1917) die deutschen Militärbehörden das Königreich Litauen proklamierten, löste das in Warschau heftige Proteste aus und schürte die anti­deutsche Stimmung, denn das Gebiet um Wilna (Vilnius) war mehrheitlich von ethnischen Polen bewohnt. Viele präfe­rierten nun den österreichischen Plan eines Anschlusses an das Königreich Galizien. Das deutsche Militär dachte dagegen inzwischen mehr an eine Annexion eines großen „Schutz­streifens“.

Die Verhandlungen mit dem Regentschaftsrat in Berlin (6. Januar 1918) waren dementsprechend kühl und formlos, wäh­rend der Empfang in Wien (9. Januar 1918) herzlicher, aber auch nicht ergebnisreicher, war. An dem Friedensvertrag mit der Ukraine in Brest-Litowsk (9. Februar 1918) war das Regent­schaftskönigreich auch nicht beteiligt. Das polnische Cholmer Land (Chełm), das 1913 von den Russen von Kon­gress­polen abgetrennt worden war, sollte an die Ukraine fallen. Die als antipolnisch empfundene Politik führte in Warschau zu einem politischen Generalstreik und der Ministerrat des Regentschaftskönigreichs trat zurück.

Die deutsche militärische als auch zivile Haltung richtet sich immer mehr gegen ein selbständiges Polen. Das preußische Herrenhaus verlangte das Festhalten an der polenfeindlichen Politik in Preußen und eine Vorschiebung der deutschen Ostgrenze. In diesem Annexionsgebiet sollten auf Vorschlag Ludendorffs ehemalige deutsche Kolonisten aus Russland angesiedelt werden. Die Besatzungsbehörden verweigerten dementsprechend die Abgabe von Kompetenzen an polnische Beamte.

Die Debatten um die Grenzen und die Gestaltung des Regent­schaftskönigreichs gingen den Sommer über weiter. Im Oktober 1918 wurde klar, dass sich der Krieg dem Ende zuneigte. Der Regentschaftsrat erklärte am 6. Oktober 1918 Wilsons 12-Punkte-Programm zur Grundlage der Staatsbildung in Polen und bat den Reichskanzler um die sofortige Entlassung Piłsudskis.

Damit war das Ende des Regentschaftskönigreichs endgültig ein­geleitet. Beseler, inzwischen ein moralisch gebrochener Mann, übergab jetzt die Verwaltung an polnische Beamte. Kurz darauf erklärten sich polnische Truppenteile der k.u.k. Ar­mee zum polnischen Heer und Beseler übergab deren Oberbefehl an den Regentschaftsrat.

Der Niedergang im österreichisch-ungarischen Reich war genauso rasant. Am 6. November 1918 bildete sich in Lublin eine „provisorische Volksregierung der polnischen Republik“ unter dem Sozialisten Ignacy Daszyński (1866-1936). Die deutsche Regierung entließ daraufhin Piłsudski aus der Haft, der nach Warschau reiste und hier die Macht übernahm. Der Regentschaftsrat und die Lubliner Regierung übergaben ihm die Staatsgewalt.

Am 11. November 1918 übergab das deutsche Militär, das sich weigerte, auf polnische Aufständische zu schießen, in der Woh­nung des Regentschaftsrats Ostrowski die militärische Macht an Piłsudski, drei Tage später erhielt er auch die politische Macht. Damit endete die Ära des Regentschaftskönigreichs Polen. Der 11. November ist daher bis heute Nationalfeiertag in Polen und nicht der 5. November.

Bild: Mitglieder des Regentschaftsrates des Regentschaftskönigreichs Polen, v.l.: Józef OstrowskiErzbischof Kakowski und Fürst Lubomirski (September oder Oktober 1917) / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Martin Sprungala