Ereignis vom 1. Januar 1802

Die Universität Dorpat wird neu gegründet

Hauptgebäude der Universität von Dorpat

Die geographische Lage sowie eine Geschichte voller Kriege brachten es mit sich, daß die ehrenwerte Universität von Dorpat/Tartu dreifach gegründet werden mußte: In den Jahren 1632, 1802 und 1919. Am 30. Juni 1632 unterzeichnete der schwedische König Gustav II. Adolf im Heerlager zu Nürnberg die Gründungsakte der „Academia Dorpatiensis“. Im Jahre 1802 ließ Zar Alexander I. die damals bereits fast 100 Jahre lang geschlossene Universität wieder aufleben. Am 1. Dezember 1919 schließlich, als der estnische Unabhängigkeitskrieg noch nicht beendet war, feierte die junge Republik die Eröffnung der Universität Tartu/Dorpat. Die ersten beiden Gründungsdaten der Universität jähren sich im Jahre 2002.

Alle drei Jahreszahlen sind für die Geschichte der Universität wichtig und bleiben in deren Gedächtnis bewahrt. So erinnert an das Jahr 1632 ein Denkmal für Gustav II. Adolf, das sich hinter dem Hauptgebäude der Universität befindet – einem Gebäude, das 1802 aus Anlaß der Wiedereröffnung im klassizistischen Stil errichtet worden ist. Wie die Ruine des Domes, in der sich heute das Universitätsmuseum befindet, ist es gerade auch das Hauptgebäude, das Dorpat/Tartu eine Atmosphäre verleiht, die derjenigen Göttingens oder Heidelbergs ähnelt. Der 1. Dezember wiederum, der Geburtstag der estnischen Universität, wird heute als der wichtigste Tag im Leben einer klassischen Universität begangen: An diesem Tag findet alljährlich die festliche Verleihung der Doktortitel statt.

Nun jedoch zurück zur Geschichte. Im Jahre 1632 nahm die „Academia Gustaviana“ an der geographischen Grenze von Katholizismus und Protestantismus ihre Arbeit als zweite Universität des Schwedischen Reiches nach der 1477 begründeten Universität in Uppsala auf. Die damalige Academia war eine klassische Universität mit vier Fakultäten: Philosophie, Theologie, Jura und Medizin. Bis heute ist die Universität Dorpat/Tartu die einzige „universitas“ in Estland, also eine Universität, an der alle diese Fakultäten unter einem Dach beheimatet sind.

Die Entwicklung der Universität im 17. Jahrhundert wurde durch die Kriege zwischen Schweden, Polen und Rußland em­pfindlich gestört. Daher war die Universität seit der Jahrhundertmitte gezwungen, einige Jahre in Reval zu wirken und am Ende des Jahrhunderts nach Pernau umzuziehen. Die Aufbauarbeit dort stoppte der Nordische Krieg, so daß die Universität 1710 ihre Tätigkeit einstellen mußte. Immerhin stand die Academia somit an der Wiege zweier weiterer Universitätstädte des heutigen Estland. In Reval/Tallinn gibt es mehrere Einrichtungen, die als spezielle Universitäten wirken, ohne daß sie sich jedoch bislang zu einer gemeinsamen Hochschule vereinigt hätten. In Pernau/Pärnu folgt den alten Traditionen eine Abteilung der Universität Dorpat/Tartu, das Pernauer Kolleg.

Nachdem das Baltikum im Nordischen Krieg unter russische Herrschaft gelangt war, kam es erst in der Zeit nach der Französischen Revolution als Ausdruck der Reformbereitschaft des Zarenreiches zu einer Wiederbegründung der Universität. So wurde um die Jahrhundertwende in St. Petersburg viel darüber diskutiert, in welcher Stadt der Ostseeprovinzen eine Universität gegründet werden sollte. Schließlich entschied Zar Alexander I. diese Frage zu Gunsten von Dorpat, worauf im Frühling des Jahres 1802 die „Keyserliche Universität zu Dorpat“ ihre Tätigkeit aufnahm. Obwohl die Initiative für die Wiederherstellung der Universität von den deutschbaltischen Ritterschaften mit dem Ziel ausgegangen war, eine ständische höhere Lehranstalt zu errichten, erklärte der Zar Dorpat zur staatlichen Universität, wenngleich mit sehr weitgehenden Autonomierechten. Von besonderer Bedeutung war es, daß sie die einzige höhere Lehranstalt des Zarenreiches mit deutscher Unterrichtssprache war und so zu einer Brücke zwischen der Wissenschaftswelt in Deutschland und dem nahen St. Petersburg mit seiner Akademie der Wissenschaften werden konnte.

Die Leistungen des 19. Jahrhunderts vor allem auf den Gebieten der Medizin und der Naturwissenschaften sind bis heute der Stolz der Universität. Einen wesentlichen Platz in der russischen Bildungslandschaft nahm das von 1828–1839 in Dorpat tätige Professoreninstitut ein, an dem der Lehrkörper auch für andere Universitäten des russischen Reiches ausgebildet wurde. Von den berühmten Zöglingen und Lehrkräften Dorpats seien hier nur einige genannt: Allen voran gebührt der erste Platz dem Gründer der zeitgenössischen Embryologie, Karl Ernst von Baer. Es folgen weitere Wissenschaftler wie die Physiker Moritz Hermann Jacobi und Emil Lenz, der Chemiker Friedrich Wilhelm Ostwald, der Mediziner August Rauber, der Pharmakologe Johann Ernst Schmiedeberg, der Psychiater Emil Kraepelin, der Wirtschaftswissenschaftler Karl Bücher, der Philosoph Gottlieb Benjamin Jäsche sowie der Astronom Friedrich Wilhelm Struve.

Die Universität wurde zunächst von Deutschbalten dominiert. Es studierten hier in der Mehrzahl Deutsche, Russen, Polen, Juden sowie auch einige Letten, denn schließlich gehörte Dorpat bis 1917 zum Gouvernement Livland. Obwohl bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Esten das Studium aufnahmen, erreichten diese doch erst nach der estnischen Selbständigkeit ein zahlenmäßiges Übergewicht.

Das heutige Dorpat/Tartu ist sehr stolz auf sein Studentenleben. Bis heute bewahrt man die Erinnerung an die deutschen Traditionen der Universität im 19. Jahrhundert, deren Wurzeln bis zum Anfang dieses Jahrhunderts zurückreichen, als Göttinger Studenten landsmannschaftliche Verbindungen gründeten: die Korporationen „Curonia“, „Estonia“ und „Livonia“. 1870 entstand schließlich auch die erste estnische Studenten­verbin­dung „Eesti Üliõpilaste Selts“ (Estnische Studenten­vereini­gung). Gemäß den deutschen studentischen Traditionen trug diese Verbindung einen dreifarbigen Deckel und ein Farben­band. Die Farben waren und sind heute wieder: blau, schwarz und weiß. Es sind dies dieselben Farben, die seit 1922 auch die Staatsfahne der Republik Estland zeigt, denn im Laufe der Jahrzehnte waren sie zum Symbol des Selbständigkeitsstrebens der Esten geworden.

Obwohl die deutschbaltischen und estnischen Studentenverbindungen ihre Tätigkeit 1939 bzw. 1940 einstellen mußten, sind ihre Traditionen heute wieder lebendig. Nach der Wiederbegründung der historischen Verbindungen vor mehr als zehn Jahren im Zuge der erneuten Unabhängigkeit der Republik Estland wurden sie ein Symbol des freien Estland. Doch auch bereits in der Sowjetzeit waren manche Traditionen lebendig geblieben. Obwohl der dreifarbige Studentendeckel damals die Farben der Estnischen Sowjetrepublik – hellbau, rot und weiß – trug, hielt diese kluge Verbindung von Tradition und politischer Korrektheit das alte Dorpat im Stadtbild lebendig. Dabei war es nur ein Zufall, daß dieselbe Farbenkombination auch das Zeichen der viertältesten deutschbaltischen Studentenkorporation „Fraternitas Rigensis“ war.

In der Zeit, als in Dorpat die erste estnische Studentenverbindung gegründet wurde, entwickelte sich hier das kulturelle Zentrum der Esten. Hier fand das erste gesamtestnische Sängerfest statt, hier wurde das erste estnische Theater gegründet, hier entstand das estnische Nationalepos „Kalevipoeg“. Nicht zufällig sind die Dorpater nach wie vor der Meinung, das kulturelle Zentrum Estlands befinde sich am Embach. Den Gegensatz zur Hauptstadt Reval/Tallinn charakterisiert der bekannte Satz: „Tallinn ist die Hauptstadt (pealinn), Tartu ist die Stadt mit Köpfchen (peaga linn)“.

Der Entwicklung der Dorpater Universität brachte die Russifizierungskampagne des Zarenreiches am Ende des 19. Jahrhunderts einen schweren Rückschlag. Im Jahre 1895 wurde Russisch zur Unterrichtssprache erklärt, was viele deutsche Professoren zwang, ihre Arbeit aufzugeben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand die Universität im Zentrum von Revolution und Krieg. Während des Ersten Weltkrieges war Dorpat eine Frontstadt. Das Vermögen der Universität wurde teilweise nach Ruß­land evakuiert. So befindet sich ein Teil der Exponate des Kunst­museums noch immer in Woronesch. Bilaterale Verhandlungen in den letzten zehn Jahren haben nichts daran ändern können, daß das Schicksal dieser Kunstschätze eines der schmerz­lichsten Kapitel in der Geschichte der Universität überhaupt darstellt.

Während der deutschen Besatzung Estlands 1918 wurde für eine kurze Weile wieder eine deutsche Universität unterhalten, die „Landesuniversität in Dorpat“. Doch schon im Jahr darauf ging die Republik Estland daran, eine estnische nationale Universität aufzubauen – ein Anfang, der sich schwierig gestaltete: Die estnische Sprache war noch nicht zur Wissenschaftssprache gereift, es fehlten Professoren, die in der Lage waren, auf Estnisch zu unterrichten. So kamen viele Lehrkräfte der neuen Universität aus Finnland, Schweden und Deutschland, die Studenten hingegen waren hauptsächlich Esten. Auf der gigantischen Arbeit der akademischen Familie in den zwei Jahrzehnten der estnischen Unabhängigkeit, die in Dorpat/Tartu geboren wurde, basiert die universitäre Leistung noch heute. Damals wurde eine wissenschaftliche Fachsprache geschaffen, eigene Wörterbücher und Schulbücher herausgegeben sowie die Estnische Akademie der Wissenschaften gegründet. Zudem ging aus der Universität Dorpat/Tartu in den 1930er Jahren auch die Technische Universität Reval/Tallinn hervor. Erst zu Beginn der Sowjetzeit wurden Fakultäten ausgegliedert, die dann die Basis der Estnischen Landwirtschaftlichen Universität bildeten.

Infolge der Okkupation Estlands durch die Sowjetunion 1940 bzw. 1944 – nach dem Zwischenspiel der „Ostland-Universität zu Dorpat“ (1942–1944) unter der deutschen Besatzung – wurden die Lehrpläne der Universität mit den sowjetischen gleichge­schal­tet und enthielten nun auch ideologisch ausgerichtete Fächer. Obwohl die alte akademische Familie zum Teil den Massenrepressionen zum Opfer fiel, konnte eine ordentliche Hochschulausbildung aufrechterhalten werden: Viele Lehrkräfte behielten ihre Arbeitsplätze und die ganze Sowjetperiode hindurch blieb Estnisch die wichtigste Unterrichtssprache, ob­wohl an einigen Fakultäten auch in Russisch unterrichtet wur­de. Die Flaggschiffe der Universität, die Fakultäten für Me­dizin und Naturwissenschaften, konnten ihr Niveau halten. In­ter­nationales Renomee erlangte vor allem die Semiotikschule von Prof. Jurij M. Lotman.

Gegen Ende der 1980er Jahre gingen von der akademischen Familie in Dorpat/Tartu wegweisende Impulse für die Wiederherstellung der staatlichen Selbständigkeit aus. Hier protestierten Studenten gegen den forcierten Phosphoritabbau in Estland, hier wurde im Rahmen der Denkmalschutztage 1988 zum er­sten Mal die blau-schwarz-weiße Nationalflagge wieder gehißt. In den letzten zehn Jahren schließlich hat sich das Universitätsleben erneut völlig umgestaltet. Rasch wurde das sowjetische Kurssystem wieder durch ein Fächersystem ersetzt, die Theologische Fakultät wiederhergestellt sowie eine sozialwissenschaftliche Fakultät gegründet, die heute die populärste überhaupt ist. Ebenso wurden die alten Kontakte ins Ausland neu aufgebaut. Allein mit deutschen Universitäten verbinden Dorpat/Tartu heute sieben Kooperationsabkommen. Auch die Mög­lichkeit für ausländische Studierende – vor allem aus Finnland –, in Dorpat/Tartu zu studieren, hat das Leben der Universität verändert. Zudem hat sich die Zahl der Studierenden in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Die Wissenschaftler der Universität haben mit den raschen Veränderungen Schritt gehalten und engagieren sich in zahlreichen gemeinsamen Forschungsprojekten mit ausländischen Partnern. Vor allem ihre Arbeiten auf dem Gebiet der Genetik haben im In- und Ausland große Aufmerksamkeit erregt.

Die Universität Dorpat bzw. Tartu hat in den Jahrhunderten ihrer Existenz verschiedene Rollen gespielt und sich unterschiedlichen Aufgaben gestellt. Heute sucht sie ihren Platz unter den europäischen Universitäten und stellt sich dem Vergleich mit den Universitäten Finnlands, Schwedens, Deutschlands und anderer Länder. Aber den fast 100.000 Menschen, die in Dorpat/Tartu studiert haben, ist und bleibt die ihre Universität die allerliebteste, die eigene alma mater: „Vivat, crescat, floreat Universitas Tartuensis in aeturnum!“.

Lit.: Ilo Käbin: Die Medizinische Forschung und Lehre an der Universität Dorat/Tartu 1802–1940, in: Sydsvenska Medicinhistoriska Sällskapets Arsskrift 6 (1986). – Georg von Rauch: Die Universität Dorpat und das Eindringen der frühen Aufklärung in Livland 1690–1710, Essen 1943 (= Schweden und Nordeuropa 5). – Gert von Pistohlkors (Hg.): Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/Vilnius. 1579–1979, Beiträge zu ihrer Geschichte und ihrer Wirkung im Grenzbereich zwischen West und Ost, Köln/Wien 1987.

Bild: Hauptgebäude der Universität von Dorpat / Quelle: BigFlyingSaucerUniversity of Tartu, Main Building, April 2012CC BY-SA 3.0.

Katri Raik (OGT 2002, 377)