Ereignis vom 1. Januar 1956

Die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Tragödie „Magnus Garbe“

Die Uraufführung „Magnus Garbe“ von Gerhart Hauptmann.

Gerhart Hauptmann, der am 6. Juni 1946 in seinem „Wiesenstein“ in Agnetendorf verstorben ist, erlebte nicht mehr die Aufführung der Tragödie „Magnus Garbe“. Erst ein Jahrzehnt später hat sie stattgefunden und wurde als ein Ereignis in der Geschichte des neuen deutschen Dramas, als „ein deutlicher Einschnitt“ angesehen (Gerhard F. Hering). Zu einer weiteren Aufführung kam es noch am Rostocker Theater; dann wurde es merklich still um das Stück, über das der Dichter an C.F.W. Behl am 9. Januar 1939 aus Rapallo schrieb: „,Magnus Garbe‘ wird nur ein einziges Mal gespielt, und zwar in Baden-Baden und vor geladenem Publikum. Ich werde mich nicht entschließen, das Stück für das allgemeine Bühnenrepertoire freizugeben …“

Erhart Kästner, Sekretär beim Dichter in den Jahren 1936/37, las das Stück aus dem Typoskript und konstatierte, daß es „eins der stärksten Stücke Hauptmanns“ sei und zitiert den Dichter selber: „,Wenn es aufgeführt würde, das würde so etwas geben wie bei den Webern‘. – Heute zeigt das Werk … in einem gewissen Sinn Hauptmanns hauptmannsches Werk, weil es den Zusammenbruch seines Jahrhunderts, den Zusammenbruch des Idealismus, des Humanismus hinstellt, und auch, weil es darauf keine Antwort weiß als die Verzweiflung. Wenn der alte Herr in späteren Jahren eines Abends quer über das Titelblatt des Typoskripts schrieb ,Die bitterste Tragödie der Menschheit‘, so dachte er nicht an die Inquisition … sondern an die Verzweiflung. Soviel war von Anfang an klar: es ist kein historisches Stück und es ist kein psychologisches Stück … Es ist ein prophetisches Stück, und man müßte es spielen wie man sich drei Kapitel des Jesaias, zu seiner Zeit dem Volk vorgeschleudert, vorstellen muß: das ist der Raum und das sind die Maße.“

Das Stück wurde in der „Ausgabe letzter Hand“ (Band 8) erstmals veröffentlicht; begonnen wurde es im Februar 1914 in Santa Margherita, dann fortgeführt im Frühjahr und im Sommer 1914 in Agnetendorf und Bayreuth, im Juli 1915 wieder518 um im „Wiesenstein“ und im September daselbst auch beendet. „Ich hätte das Stück nicht schreiben können, wenn nicht die schwere Krankheit Margarethes und das Kesseltreiben gegen mich während der Breslauer Festspiele vorausgegangen wären. In diesem Stück waltet ein tiefer Pessimismus. Meine innere Heiterkeit steht auf einem anderen Blatt.“ (Behl, Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann, S. 92).

Seine Tagebuchnotiz von 1898 und ein „Entwurf“ von 1909 zeigen freilich, daß der Dichter sich mit diesem Stoff schon früher befaßt hat: Da ist von einem Dramenplan „Bürgermeister Schulle“ die Rede, und da seine Motive weitgehend in den „Magnus Garbe“ aufgingen, sind wohl diese Anmerkungen „als eine Vorstufe des späteren Dramas“ anzusehen, obwohl der Dichter 1937 auf den ursprünglichen Ansatz zurückkam.

Hauptmann hat den Namen „Magnus Garbe“ während einer Autofahrt in Deutschland gefunden: Der Ort, wo sich das Geschehen ereignet, ist wohl in einer fränkischen Reichsstadt zu suchen, geprägt von Bürgerfleiß und selbstbewußter Ordnung des Standes. An der Spitze der Stadt residiert der Bürgermeister Magnus Garbe – das „allseits geehrte Stadtoberhaupt, ein Mann ohne Tadel, exemplarischer Bürger“. Seine Frau Felicia steht vor der Niederkunft ihres ersten Kindes. „In diesem glücklichen Paar sind zwei Menschenbilder gelungen, die zu dem besten zählen, was aus der großen Schöpferhand Hauptmanns hervorging; die beiden Porträts könnten vom jungen Cranach gemalt sein.“

Als Zeitpunkt für dieses Geschehen darf wohl die Reformation verstanden werden – oder auch schon die gegenreformatorische Entwicklung, die verbunden war mit den furchtbaren Auswüchsen, die gekennzeichnet sind von den Praktiken der Inquisition. „Das Werk schildert die blutige Verblendung des furchtbaren Hexenwahns und eine Beule am Körper der Kirche: die Inquisition. Gegen diese beiden Dinge wendet er sich, nicht gegen die Kirche. Der Bürgermeister und die Bürgermeisterin sind selbst fromme Katholiken. Ihr Beichtvater ist ein Augustinermönch, der den Übergriffen der Inquisition ebenso fern steht, wie der ohnmächtige lokale Bischof. Also eine Tendenz gegen die Kirche selbst enthält das Werk nicht“, wie Gerhart Hauptmann in einem Schreiben an Peter Suhrkamp vom 6. Januar 1939 erklärt.

Vergeblich hat der Bürgermeister Magnus Garbe das Eindringen der Dominikaner, die mit der Praxis der Inquisition beauftragt sind, in seine Stadt zu verhindern gesucht – und ihr Opfer wird seine Frau, die, als man Hexe verleumdet. „Felicia ist das Vollkommenste, was Gerhart Hauptmann in seinen zahllosen Frauengestalten schuf. Wie auf Bildern von Ysenbrant und Lucas von Leyden, wohl auch des Gossaert selbst, liegt ein lichter Schimmer um sie. Wir sehen sie nur zweimal: einmal in ihrem größten Glück … und völlig unkund der Gefahr, die ringsum brandet, und dann einmal in ihrer größten Not, gequält, gefoltert, getrennt von ihrem Kindchen, das sie im Kerker geboren, und verwirrten Geistes, Heiligtum und Hexentum in furchtbarer Weise in ihren Phantasien vermengend. Die Saat … ist aufgegangen. Aber seit Gretchens Kerkereszene ist eine größere nicht geschrieben worden. Alles was dieses wunderbare Stück noch an Geist und düsterer Kraft birgt, verblaßt vor dieser Szene … ,Der große florentinische Ghibellino hat die Welt eine Hölle genannt‘, meint der Arzt und Ratsherr Doktor Ansolo warnend zu Garbe schon im ersten Akte. ,Man tut gut, nicht anders mit ihr zu rechnen.‘ Wenngleich noch andere Einbrüche des Pessimismus folgen sollten, wagte der Dichter doch nicht, das Stück, das in so furchtbarer Weise mit der Welt abrechnete, zu veröffentlichen, da von den Hexenprozessen sehr leicht auf jede Art Menschenverfolgung geschlossen werden kann. Das Schicksal von Magnus Garbe und Felicia Garbe hatte sich so ungeheuer in der Welt erhoben, daß, wie es ihnen geschieht, der Himmel nicht mehr erblickt werden konnte.“ (Joseph Gregor).

Im Hinblick auf die Düsseldorfer Uraufführung drängte sich eine beklemmende Analogie einer solchen dramatischen Botschaft auf, und wir danken sie Erhart Kästner, der sie als Zuschauer erlebt hat. Und – mit der Anfrage auch an Karl Heinz Stroux, der dieses Hauptmann-Drama inszeniert hat: „Was aber hat sich Karl Heinz Stroux in Düsseldorf gedacht? Nicht hat er gedacht – daß in der Kunst, wenn es nicht die ganz billige sein soll, die Konfektion, das nackte Geschäft, das es nur lohnt, etwas aus tiefer Sammlung … und daß alles Halbe, Ungefähre und … im tieferen Sinn und nicht einmal der platten Rechnung nach lohnt?“ Es sei freilich nur Halbfertiges und Viertelfertiges, Grobes und Vordergründiges, als schlechter Rohstoff bei dieser Düsseldorfer Uraufführung herausgekommen – „dieses kostbaren, unvergleichlichen Bühnenstückes, dieses Gewissensstücks …“. So Erhart Kästner.

Ist das nur ein Gemälde, das hier vom sogenannten „finsteren Mittelalter“ entrollt wird, das wir vielleicht sehen möchten … Und wenn – dann wohl aber im Sinne dieses Dichters, der da Gerhart Hauptmann heißt, und die Schrecken kommender Zeiten anklingen läßt … im Gewande des Vergangenen die Zukunft zu beschwören: „Im Sinnbild eines grauenhaften Massenwahns, der Hexenverfolgung, erahnt der Dichter seherisch genau die Bestialisierungen des Menschen, die mit dem ersten Weltgemetzel angefangen haben …“ (Gerhard F. Hering). Und: „Die Inquisition, das ist nur die Chiffre, das Kennwort für das, was in immer anderen Masken auf uns zukommt: SS-Terror und Judenverfolgung und Bombenterror und Austreibung von Millionen bald ostwärts, bald westwärts, Gefangenenprozesse mit vorgeschobenen Gründen … und über allem die Schreckensherrschaft der Angst, mit der alles beginnt“, wie Erhart Kästner diese Aufführung von Hauptmanns Tragödie „von der Angst als Weltmacht“ beschrieben hat.

Bild: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen.

Günter Gerstmann (OGT 2006, 517)