Ereignis vom 1. Januar 1457

Die Verlegung des Hochmeistersitzes von der Marienburg nach Königsberg

Hochmeisterpalast der Marienburg

Wenn deutsche und polnische Historiker über Schlüsselereignisse der gemeinsamen Beziehungsgeschichte nachdenken, spielt ohne Zweifel der Deutsche Ordensstaat in Ostpreußen eine Rolle; allerdings sind Sichtweisen und Deutungen seit eh unterschiedlich und auch konträr, und das wird mit Sicherheit in der Zukunft so bleiben. Nationale Geschichtsbilder werden in einem zusammenwachsenden Europa nicht verschwinden, das müssen Befürworter eines europäischen oder eines deutsch-polnischen Geschichtsbuches einkalkulieren. Bestes Beispiel da­für bietet das 2006 erschienene deutsch-französische Geschichtsbuch.

Zur deutschen Ostsiedlung im Mittelalter, ein überwiegend fried­licher, zivilisatorischer Prozess, zählen auch die Ausbreitung der Hansestädte am Südrand der Ostsee von Lübeck bis Reval, heute Tallinn, sowie die Gründung des Deutschen Ordensstaates durch die Ritter des Deutschen Ordens. Dieser war ursprünglich ein Krankenpflegeorden für deutsche Kreuzzugsteilnehmer im Heiligen Land. Nach dem Vorbild der Templer und Johanniter wurde er 1198 in einen geistlichen Ritterorden umgewandelt. Seine Mitglieder waren zum einen Mönche, den Gelübden Armut, Keuschheit, Gehorsam verpflichtet, zum anderen Ritter, die aus deutschen und westeuropäischen Adelsfamilien stammten. Aufgabe und Berufung des Ordens wurde der Kampf gegen die Heiden. Ihre Tracht war ein weißer Mantel mit schwarzem Kreuz, an der Spitze des Ordens stand der Hochmeister. Schwarz-Weiß wurden später die Farben Preußens.

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wirkte der Orden in Ungarn zur Abwehr heidnischer Turkvölker, wurde aber bald wegen grund­sätzlicher Differenzen mit der ungarischen Krone des Landes verwiesen. Für seine weitere Geschichte wurde das Jahr 1226 von entscheidender Bedeutung: der polnische Fürst Konrad von Masowien mit Sitz an der unteren Weichsel rief den Orden zum Schutz gegen Einfälle heidnischer Pruzzen aus den Gebieten des heutigen Ostpreußen. Gleichzeitig hatte sich der Hochmeister, Heinrich von Salza, von Kaiser Friedrich II. in der Goldenen Bulle von Rimini Souveränitätsrechte für die vom Orden zu erobernden Gebiete ausstellen lassen. Der Hoch­meister wurde gleichzeitig in den Stand eines Reichsfürsten erhoben. Zum Ausgangspunkt der Unterwerfung und Christianisierung der heidnischen Pruzzen wurde 1230 die Burg Thorn. Von der Weichsel und entlang der Ostseeküste eroberte der Orden in Etappen das Land und sicherte es durch ein Netzwerk von 120 Burgen. 1255 errichtete er an der Pregelmündung eine Burg, die den Namen Königsberg erhielt, benannt zu Ehren des Böhmenkönigs Ottokar II., der mit seinen Ritterheeren den Orden unterstützte. Bis 1283 hatte der Orden das gesamte von den Pruzzen besiedelte Gebiet, d.h. das nachmalige Ostpreußen, unterworfen. Um 1270 wurde der Grundstein zur Marienburg gelegt, seit 1308/09 Sitz des Hochmeisters des Deutschen Ordens.

Die im 14./15. Jahrhundert großartigste Ritterburg – heute UNESCO-Weltkulturerbe – dokumentierte nicht nur die Backsteingotik zur prägenden Signatur der nordosteuropäischen Kulturlandschaft, sondern sie symbolisierte noch die Kraft und Macht des Deutschen Ordens mit einer für damalige Verhältnisse modernen Infrastruktur. Der bekannte polnische Publizist Adam Krzeminski beschrieb 2002 sehr plastisch die Wirkung der Marienburg auf die einheimische Bevölkerung: „Die Marienburg und die Burgen des Deutschen Ordens waren für die polnischen Bauern und Adligen damals wie Wolkenkratzer aus der heutigen Perspektive“ (Polnische Geschichte, hg. vom Cor­nelsen Verlag Berlin 2007, S. 31). Diese Etablierung der Machtzentrale des Ordens an der Nogat muss im Zusammenhang mit der Eroberung Pommerellens mit dem Hafen Danzig gesehen werden; Polen war damit von der Ostsee abgeschnitten. Seine bedeutende zivilisatorische und kulturelle Leistung war die Schaffung eines straff organisierten Staatswesens. Aus deutschen Landen gerufene Siedler kultivierten das Land, in den städtischen Siedlungen, in der Regel an Ordensburgen angelehnt, siedelten überwiegend ethnisch deutsche Kaufleute und Handwerker; zu Beginn des 15. Jahrhunderts gab es 90 Städte im Ordensstaat. Die einheimischen Pruzzen wurden zum Teil grausam unter­drückt, gingen aber auch in der zugewanderten Bevölkerung auf. Die Landbevölkerung bestand neben Deutschen aus eingewanderten Polen, Litauern und Letten. Unter dem Hochmeister Winrich von Kniprode (1351-1382) erreichte der Orden den Höhepunkt seiner Machtentfaltung, die bald mit Polen und Litauen zu Konflikten führte. Der zum Christentum übergetretene litauische Großfürst Jagiello heiratete die polnische Erbprinzessin Hedwig; damit entfiel für den Orden der Hauptanlass für den Heidenkampf, Litauen war christlich geworden. Aber der Orden hatte auch innere Probleme: der in den Jahrzehnten entstandene Landadel sowie die Städte wandten sich immer stärker gegen das als autorit­är empfundene Regiment der Ordensritter.

1409 kam es zum Krieg zwischen Polen-Litauen und dem Orden, und am 15. Juli 1410 erlitt der Orden in der Schlacht von Tannenberg, in Polen als Schlacht von Grunwald bezeichnet, eine vernichtende Niederlage. Im Frieden von Thorn 1411 behielt der Orden bis auf geringere Gebietsverluste und nach der Zahlung von Kontributionen seine Besitzstände, die Marienburg konnte durch die Polen und Litauer nicht erobert werden. Tannenberg leitete den Niedergang des Ordensstaates ein. 1440 schlossen sich der Landadel und die Städte zum Preußischen Bund zusammen, der sich 1454 mit der polnischen Krone verband. Es brach ein dreizehnjähriger Krieg zwischen dem Orden und Polen aus, der 1466 mit dem zweiten Thorner Frieden endete. Der wirtschaftliche und politische Niedergang des Ordens zeig­te sich auch in der Tatsache, dass er ein eigenes Söldnerheer mit einer Soldateska aus allen Teilen Europas unterhalten musste. 1454 konnte er seine Söldner nicht mehr bezahlen und verpfändete an sie die Marienburg – für das Selbstverständnis der Ordensritter ein unerhörter Vorgang. 1457 fiel die Burg durch Bestechung an die polnische Krone, der Hochmeister war gezwungen, seine Residenz nach Königs­berg zu verlegen. Das Jahr 1457 muss also als eine wichtige Etappe zum Machtverlust des Ordens angesehen wer­den.

Der Friedensschluss von 1466 brachte einschneidende territoriale Verände­rungen: der Orden verlor Pommerellen mit Danzig, das Kulmer Land, Elbing, die Marienburg und das Erm­land. Für den Reststaat musste die Lehnshoheit der polnischen Krone anerkannt werden. 1525 trat der letzte Hochmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach aus dem Hause Hohenzollern zur Reformation über und machte sich zum Herzog in Preußen. Der Ordensstaat wurde ein weltliches Herzogtum. Ab 1611 wurde Ostpreußen in Personalunion vom Kurfürsten von Brandenburg regiert.

Die mächtige Marienburg am Ufer der Nogat besitzt bis in unsere Gegenwart eine hohe symbolische Bedeutung für das polnische und deutsche Geschichtsbewusstsein. Für Polen ist sie Ausdruck des deutschen Eroberungsdranges nach Osten, der 1410 bei Tannenberg gestoppt wurde und – im Zuge nationalistischer Erhöhung – 1945 endgültig vernichtet wurde. Jahrestage der Schlacht von Tannenberg/Grunwald besitzen für das polnische Volk nach wie vor eine große Identikation. Für Deutschland war der Orden Missionar und Kulturträger im wilden slawischen Osten. Heinrich von Treitschkes Aufsatz Das deutsche Ordensland Preußen gilt als wichtiges Beispiel für die im 19. Jahrhundert entwickelte Deutung im nationalistischen Sinne. Die Schlacht von Tannenberg bedeutete für die Deutschen eine tiefe nationale Schmach, die erst durch Hindenburgs Sieg 1914 über die Russen = Slawen gelöscht wurde. Für die heutigen Deutschen sind die Ereignisse um den Deutschen Orden eher eine Fußnote in der eigenen Geschichte, die Marienburg hingegen wird jenseits nationalen Überschwanges als ein großartiges Bauwerk des ausgehenden Mittelalters gesehen. Das betrifft auch erhaltene Bauten aus der Ordenszeit im heute polnischen und russischen Teil Ostpreußens. Wie unterschiedlich in Polen und in Deutschland der Deutsche Orden gesehen wird, zeigt die Num­mer 6 der gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchem­pfeh­lungen von 1976: „In den polnischen Schulbüchern wird vor allem die säkulär-staatliche und militärisch-expansive Rolle des Ordens hervorgehoben, in den westdeutschen seine zivilisatorische und missionarische Aufgabe betont. … Dieser Problemkreis bedarf weiterer gründlicher Behandlung.“ An der Substanz dieser Feststellungen hat sich bis heute nicht viel geändert.

Lit.: Peter Mast, Ost-und Westpreußen und die Deutschen aus Litauen, Studienbuchreihe des OKR, Verlag Langen Müller München 2000. – Marek Stokowski, Marienburg – Die Welt des Deutschen Ritterordens, TopSpot Guides Hamburg o.J. – Manfred Scheuch, Historischer Atlas Deutschland, Weltbildverlag Augsburg 2001. – Andreas Kossert, Ostpreußen, Siedler Verlag München 2005. – Heinrich von Treitschke, Das deutsche Ordensland Preußen. Historische und politische Aufsätze, Leipzig 1865. – Henryk Sienkiewicz, Die Kreuzritter, Berlin o.J. (vermutlich vor 1914). – Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Empfehlungen für Schulbücher der Ge­schichte und Geographie in der Bundesrepublik Deutschland (alt) und in der VR Polen, Braunschweig 1995 (Neuauflage).

Bild: Hochmeisterpalast der Marienburg, Kulturstiftung.

Karlheinz Lau (OGT 2007, 233)