Es war ein internationaler Großversuch am lebenden Objekt: Vor einhundert Jahren, am 20. März 1921, durften rund 1,2 Millionen Menschen in einer freien und geheimen Abstimmung entscheiden, in welchem Land sie künftig leben wollten: in Deutschland oder in Polen.
Was bei den anderen Grenzabstimmungen in Schleswig, Allenstein und Marienwerder trotz punktueller Störungen und Gewaltakte insgesamt reibungslos ablief, geriet im hart umkämpften oberschlesischen Industriegebiet – dem wirtschaftlich wichtigen „zweiten Ruhrgebiet“ des Deutschen Reiches – zum blutigen Debakel, zu einer dunklen Stunde im deutsch-polnischen Nachbarschaftsverhältnis. Denn trotz alliierter Militärpräsenz kam es zu zahlreichen Gewaltakten und bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Dass es so weit kommen konnte, lag auch an den höchst gegensätzlichen Mitteleuropa-Interessen der beiden alliierten Siegermächte Frankreich und Großbritannien: In London, das die Volksabstimmung überhaupt erst politisch möglich gemacht hatte und im Versailler Vertrag verbriefen ließ, hoffte man darauf, im Falle eines deutschen Abstimmungssiegs die Wirtschaftskraft des Reiches für die anstehenden Reparationszahlungen zu erhalten. Zugleich sollte die „Balance of Power“ auf dem Kontinent gewahrt bleiben – so das Kalkül von Premierminister David Lloyd George.
In Paris sah man die Sache völlig anders: Oberschlesien sollte den gerade erst neu geschaffenen polnischen Staat wirtschaftlich stützen, denn dieser war als Kernstück eines „Cordon sanitaire“ mittelosteuropäischer Staaten vorgesehen. Dementsprechend propolnisch war die französische Politik, sowohl auf dem diplomatischen Parkett als auch vor Ort in Oberschlesien.
Auch dort zeigte sich, dass ein von London erhofftes „Fair Play“ letztlich ein Wunschdenken blieb, denn die Stimmung wurde – angeheizt von entsprechender Abstimmungspropaganda – von Tag zu Tag explosiver. Während die deutsche Seite vor allem die nationale Karte zog, lockte die polnische mit wirtschaftlichen Versprechungen. Der Riss zwischen prodeutsch und propolnisch gesinnten Oberschlesiern ging mitunter mitten durch die Familien, politische Gewalt war an der Tagesordnung. Die wenigen Mitarbeiter der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission unter ihrem Präsidenten, dem französischen General Henri Le Rond, sowie die viel zu knapp bemessenen französischen und italienischen Truppen hatten so von Beginn an einen schweren Stand. Großbritannien hatte wider Erwarten zunächst überhaupt kein Militär geschickt, die USA hatten sich mittlerweile ganz aus Europa zurückgezogen.
Die Vorbereitungen zur Abstimmung dauerten in der unruhigen Region folglich länger als ein Jahr. Erst am 20. März 1921 konnten endlich die rund 1,2 Millionen Wahlberechtigten – darunter knapp 200.000 so genannte „Outvoter“ aus dem Reich – ihre Stimme abgeben. Das mit Spannung erwartete Ergebnis: Knapp 60 Prozent entschieden sich für Deutschland, gut 40 Prozent für Polen, allerdings regional höchst unterschiedlich verteilt. Insbesondere das Industriegebiet – das ja der eigentliche Zankapfel war – glich einem Flickenteppich: Einer deutschen Stimmenmehrheit in den großen Städten standen polnische Mehrheiten in den vielen umliegenden kleinen Landgemeinden entgegen.
Folglich sahen sich beide Seiten als Sieger: Während Deutschland aufgrund der 60-Prozent-Mehrheit das Gebiet in Gänze forderte, reklamierte der polnische Plebiszitkommissar Wojciech Korfanty aufgrund der Gemeinde-Ergebnisse weite Teile Oberschlesiens inklusive des Industriegebiets für Polen. Ähnlich verliefen die Bruchlinien zwischen den Alliierten. Der Versailler Vertrag gab hier keine klare Regelung vor.
In dieser verzwickten Situation versuchte Korfanty, mit Waffengewalt Fakten zu schaffen: Im mittlerweile dritten Aufstand in Oberschlesien besetzten Anfang Mai 1921 Freischärler, unterstützt durch reguläres polnisches Militär, innerhalb weniger Tage diejenigen Teile Oberschlesiens, die sie für Polen beanspruchten. Da die französischen Truppen sie nicht daran hinderten und die italienischen Kräfte allein zu schwach waren, griffen eilig aufgestellte deutsche Freikorps-Verbände in die Kampfhandlungen ein. Eine militärische Intervention der regulären Reichswehr schied hingegen aus, da dies den casus belli mit Frankreich bedeutet hätte.
Die folgende Pattsituation öffnete mühsam den Weg für neue Verhandlungen. Nun schlug erneut die Stunde der Politiker, und einmal mehr wurde Oberschlesien zum Spielball europäischer Großmachtinteressen. Da sich die Siegermächte des Ersten Weltkriegs wiederum auf keine gemeinsame Linie verständigen konnten, wurde als letztes Mittel schließlich der Völkerbund eingeschaltet. Dessen Kommission erarbeitete am grünen Tisch eine Kompromisslösung, die das Industriegebiet zerschnitt und den wirtschaftlich wichtigeren Teil rund um Kattowitz (Katowice) Polen zusprach.
Zwar regelten bilaterale Verträge wirtschaftliche Fragen ebenso wie den Minderheitenschutz. Dennoch waren letztlich beide Seiten unzufrieden und die gesamte Grenzziehung einschließlich des Korridors und der Danzig-Frage blieb in der Zwischenkriegszeit ein wunder Punkt in den deutsch-polnischen Beziehungen.
Lit.: Karsten Eichner, Briten, Franzosen und Italiener in Oberschlesien 1920-1922. Die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission im Spiegel der britischen Akten, St. Katharinen 2002 (Beihefte zum Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau, Bd. XIII). – Waldemar Grosch, Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien 1919-1921, Dortmund 2003. – Guido Hitze, Carl Ulitzka (1873-1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002. – Andreas Kiesewetter, Die italienische Politik in der Frage des Plebiszits in Oberschlesien 1919-1921, in: Dokumente zur italienischen Politik in der oberschlesischen Frage 1919-1921, hrsg. v. Andreas Kiesewetter. Würzburg 2001, S. 1-90 (Schlesische Forschungen 8).
Bild: Landmannschaft Schlesien.