Ereignis vom 1. Januar 1675

Erlöschen der Piastendynastie in Schlesien

Herzog Georg Wilhelm

Mit dem fünfzehnjährigen Herzog Georg Wilhelm von Liegnitz, Brieg und Wohlau starb am 21. November 1675 der letzte männliche Piast in Schlesien – acht Monate nur, nachdem ihn Kaiser Leopold I. in Wien mit den genannten niederschlesischen Herzogtümern belehnt hatte. Die letzte Piastin, Georg Wilhelms ältere Schwester Charlotte, starb drei Jahrzehnte später, am 24. Dezember 1707, im Kloster Trebnitz. Mit ihnen endete das seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Schlesien herrschende einheimische Fürstengeschlecht der Piasten, das mehr als ein halbes Jahrtausend hindurch wie kein anderes Herrscherhaus die Geschicke des Oderlandes bestimmte und nicht nur dessen politisches, sondern auch dessen kirchliches und kulturelles Schicksal widerspiegelt.

Das Entstehen einer selbständigen schlesischen Linie der polnischen Herrscherdynastie der Piasten geht auf die beim Tod Boleslaws III. Krzywousty (Schiefmund) 1138 testamentarisch festgelegte Senioratsverfassung zurück, nach der das Reich unter seine vier ältesten Söhne aufgeteilt wurde. Ein fünftes Teilgebiet, Krakau, war zusätzlich für den jeweils ältesten Piastenherrscher vorgesehen, der zugleich die landesherrlichen Prärogativen ausüben sollte. Auf diese Weise hoffte man die einzelnen Teilgebiete des polnischen Piastenstaates zusammenzuhalten, in den Schlesien im letzten Jahrzehnt des 10. Jahrhunderts einbezogen worden war. Tatsächlich aber wurde die Senioratsverfassung zum Ausgangspunkt langwieriger Erbstreitigkeiten, und der Kampf der Teilfürsten um das Seniorat führte zu schweren inneren Auseinandersetzungen. Schon unter Wladislaw (1138-1146), der als erster schlesischer Herzog der Stammvater des schlesischen Piastenzweiges wurde, zeichnete sich ab, dass Schlesien als eines der Teilgebiete einen eigenen Weg einschlagen würde. Dieser führte zwei Jahrhunderte später (1348, vgl. OGT 1998, S. 311f.) schließlich zur vollständigen Lösung des Landes aus dem polnischen Staatswesen.

Die von Wladislaw und dessen Gemahlin Agnes von Österreich begründete Linie, von der alle späteren schlesischen Piasten abstammen, überlebte die anderen Zweige: 1370 starben die polnischen Piasten mit König Kasimir dem Großen im Mannes-stamm aus, 1526 die masowischen. Das Prinzip der Teilung, dem Schlesien seine Selbständigkeit verdankte, war schon in der zweiten schlesischen Piastengeneration erneut angewendet worden – dieses Mal freilich zum Nachteil des Landes.¬ Nach dem Ende der Senioratsverfassung 1202 kam es unter den Nachfolgern Wladislaws zu einem Teilungsvertrag, der das gegenseitige Erbrecht zwischen der Breslauer und der Ratiborer Fürstenlinie ausschloss und damit zum Grundstein für eine eigenständige Entwicklung des oberschlesischen Raumes wurde. Dessen Fürsten, die sich bis in das 14. Jahrhundert hinein Herzöge von Oppeln („ducatus Opoloniensis“) nannten, blieben dem angrenzenden slawischen Osten und Süden politisch, kulturell und familiär stärker verhaftet und entwickelten ein eigenes Zusammengehörigkeitsgefühl. Von den in Mittel- und Niederschlesien regierenden Piasten, die den Titel Herzöge von Schlesien („ducatus Silesiae“) führten und sich mehr und mehr zum deutschen Kulturraum im Westen orientierten, grenzten sie sich deutlich ab. Erst die Abwehrmaßnahmen gegen die böhmischen Hussiten im 15. Jahrhundert begannen das Gefühl für die Gemeinsamkeit der schlesischen Interessen zu stärken.

Das Prinzip der Herrschafts- und Dynastieteilung führte im 13. und 14. Jahrhundert zu einer immer stärkeren territorialen Zersplitterung des Landes und Auffächerung der in ihm herrschenden Piastenlinien. In den Jahren 1248 bis 1251 kam es zu einer Erbteilung unter den Söhnen des in der Mongolenschlacht gefallenen Heinrich II., der schon bald weitere folgten. Konrad I. und Boleslaw II. der Kahle zum Beispiel – sie begründeten das Herzogtum Glogau bzw. das Herzogtum Liegnitz – hinter-ließen bei ihrem Tod je drei Söhne, die dann als Herzöge von Sagan, Glogau, Steinau und Sprottau, Liegnitz und als Herren von Löwenberg urkundeten. Im bisher ungeteilten Herzogtum Oppeln setzte 1281, etwa eine Generation später als in Nieder-schlesien, mit dem Tod Wladislaws I. ein machtpolitischer Zerfall ein, der zur Aufsplitterung des Landes in die Herzogtümer Oppeln, Ratibor, Teschen und Cosel-Beuthen führte. Im Jahre 1320, als Polen – ohne Masowien und Schlesien – als Gesamtstaat wiedererstand, zählte man in Schlesien 17 piastische Teilfürstentümer. Damit bekam ein ständig kleiner werdendes Gebiet einen eigenen Fürsten, der mitsamt seinem Hof, Gefolge und Beamten unterhalten werden musste. Die Zahl der piastischen Residenzen stieg im Spätmittelalter, bezieht man auch Nebenresidenzen und kurzzeitige Fürstensitze mit ein, sogar auf mehr als zwei Dutzend an.

Die anfangs bedeutende Stellung der zwischen Polen und Böhmen eingekeilten schlesischen Piasten, die zunächst die Unabhängigkeit des Landes ermöglicht hatten, war angesichts dieser Entwicklung im Innern nicht aufrechtzuerhalten. So gelangten alle schlesischen Herzogtümer um die Mitte des 14. Jahrhunderts unter die Lehenshoheit oder in den direkten Besitz des Königs von Böhmen. Im Gegensatz zum äußeren Rechtsstatus, der bis zum Anfall des größten Teils von Schlesien an Preußen 1742 erhalten blieb, sollten sich die inneren Herrschaftsstrukturen des Landes in dieser Zeit erheblich verändern. Schon im Mittelalter hatte es im Rahmen des piastischen Erbrechts auch Zusammenlegungen von Besitz, Aus-tausch von Gebieten sowie Verpfändungen und Verkäufe an nichtpiastische Fürsten gegeben. Zu dem Besiedlungsrückgang und den wirtschaftlichen Einbußen infolge der Hussitenkriege kamen empfindliche Gebietsverluste, die auf die Kurzsichtigkeit einzelner Fürstenhäuser, aber auch auf die kaum noch zu überschauende Vernetzung dynastischer Interessen zurückzuführen sind. Die Jahrzehnte nach 1420 waren eine Zeit des Niedergangs der Piasten. In Münsterberg erlosch deren Linie 1428 mit Herzog Johannes; in Oels, Liegnitz, Glogau und Teschen kam es ebenfalls zu dynastischen Krisen; bei den Piasten in Teschen-Auschwitz erwies sich dagegen die hohe Zahl der Familienmitglieder als nachteilig, da nun zähe Verteilungskämpfe um die vergleichsweise kleinen Besitztümer auf-traten. Andere Linien waren gezwungen, ihr Land zu verkaufen oder zu verpfänden. Auf diese Weise kamen landfremde Adelshäuser: Wettiner, Hohenzollern, Württemberger und andere, ebenso wie nichtfürstliche Familien in den Besitz schlesischer Territorien. Das Aussterben schlesischer Fürstendynastien förderte zwangsläufig das Erstarken der königlichen Zentral-gewalt. Die Piasten, einst die einzigen Landesherren von Schlesien, wurden so politisch und wirtschaftlich immer stärker in die Defensive gedrängt.

Die beiden noch bestehenden Piastenlinien – die Oppelner starb 1532 aus – wandten sich im 16. Jahrhundert der Wittenberger Reformation zu, die Liegnitzer als erstes schlesisches Fürstenhaus schon 1524, die Teschener um 1540. Die schon bestehenden Beziehungen zwischen einzelnen schlesischen Herzögen und Fürstenhäusern im Reich – Schlesien war seit der In-korporation seiner einzelnen Fürstentümer 1348 in die Krone Böhmen rechtlich mittelbar, d.h. über das unmittelbare Reichs-lehen Böhmen, mit dem römisch-deutschen Reich verbunden – wurden seit der Reformation noch enger. Vor allem die Piastenherzöge von Liegnitz, Brieg und Wohlau bemühten sich, die Reichsstandschaft zu erhalten. Über ihre Beziehungen zu reichsfürstlichen protestantischen Familien wollten sie zum einen ihre politische Handlungsfreiheit gegenüber den Habsburgern erweitern, die auf den Abbau lokaler Sonderrechte in Schlesien drängten; zum anderen suchten sie in konfessioneller Hinsicht Rückhalt gegen die katholische Landesherrschaft zu gewinnen. Die in dieser Zeit entstandenen erbrechtlichen Ver-träge zwischen den Piasten in Liegnitz, Brieg und Wohlau und den Hohenzollern sollten Friedrich II. von Preußen 1740 bei seinem Einmarsch in Schlesien der nachträglichen Rechtfertigung seines Vorgehens dienen. Waren die Liegnitzer Herzöge im gesamten konfessionellen Zeitalter das Rückgrat des schlesischen Protestantismus – die Anfang des 17. Jahrhunderts zur katholischen Kirche zurückgekehrten Teschener Piasten starben 1625 im Mannesstamm und 1653 in weiblicher Linie aus –, so übernahm diese, propagandistisch im Umfeld der Schlesischen Kriege geschickt in den Vordergrund gerückte Rolle später der Preußenkönig, der in Publizistik, Dichtung und Theater enthusiastisch als „neuer Piastus“ gefeiert wurde.

Trotz Abstammung aus demselben Haus, verwandtschaftlicher Beziehungen und räumlicher Nachbarschaft hatten sich polnische und schlesische Piasten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auseinandergelebt. Dessen ungeachtet förderten die schlesischen Herzöge, vor allem die Piasten in Brieg, lebhaft die Darstellung und Verherrlichung ihrer eigenen piastischen Tradition. Je mehr ihr Bedeutungsverlust in Schlesien und ihre landesherrliche Ohnmacht offenbar wurden, desto stärker stellten sie als Anspruch ihrer Unabhängigkeit gegenüber dem habsburgischen Kaiserhaus ihre Abkunft von königlichem Geschlecht heraus. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gab es wohl keinen schlesischen Dichter und Gelehrten, der nicht in das Lob des piastischen Hauses eingestimmt hätte. In diesen Traditionsstrang gehören Genealogien des Liegnitz-Brieger Fürstenhauses wie Daniel Czepkos „Gynaeceum Silesiacum Ligio-Bregense“ von 1626 oder die verschollene „Genealogia durch die 13. Fürstliche Häuser, welche alle von Piasto herkommen“ von Wenzel Scherffer von Scherfferstein, die stolz die Herkunft der schlesischen Herzöge vom legendären Piast ableiteten. Das im Frühjahr 1660 von Andreas Gryphius verfasste Lust- und Gesang-Spiel „Piastus“ war nicht nur als eine generelle Huldigung für das Piastenhaus und als Verherrlichung des Stammvaters des alten Königsgeschlechts gedacht, sondern diente auch dazu, die Identität von dessen schlesischen Nachfahren im Bild ihres Ursprungs festzuhalten. In der 1685 erschienenen „Schlesischen Fürsten-Krone“ des schlesischen Chronisten und letzten reformierten Predigers an den Höfen in Liegnitz und Brieg, Friedrich Lucae, bildet das Frontispiz eine repräsentative Darstellung, die vom legendären Piast auf der linken und dem letzten Piasten auf der rechten Seite flankiert wird.

Auch in den Schloßbauten, in den Hauptresidenzen Liegnitz und Brieg wie in den Nebenresidenzen Haynau und Wohlau, kam die sorgfältig gepflegte, bewusst politisch eingesetzte dynastische Herkunftsidee zum Ausdruck. Einen Höhepunkt er-reichte der Piastenkult nach dem Tod des jungen Herzogs Georg Wilhelm, des letzten schlesischen Piasten, im Jahre 1675: vom prunkvollen Zinn-Sarkophag über Erinnerungsmedaillen, vom „castrum doloris“, der Trauerausstattung der Brieger Schlosskirche für den Trauerakt, bis zur steinernen Fürstengruft. Die großartigste Schöpfung dieser Memorialkunst ist das 1677-78 im Hochchor der fürstlichen Hof- und Begräbniskirche St. Johannis zu Liegnitz vermutlich durch Carlo Rossi gestaltete Piastenmausoleum, in dem die Prunksärge der letzten Piasten Aufstellung fanden; das Gesamtprogramm, ein nachsinnender Rückblick auf die gesamte piastische Geschichte, entwarf der schlesische Dichter Daniel Casper von Lohenstein, der seine Empfindungen auch in einer 1676 publizierten „Lob-Schrifft“ zusammenfasste: „Mit Unserm Fürsten aber/ leider! ist die Wurtzel des ganzen Fürstlichen Stamm-Baums ausgerissen! Das ganze Pyastische Fürsten-Haus ist in Staub verfallen/ und auß Dieses Phönixes Asche vermögen alle Kräfte der Welt keinen neuen Brutt ausszuhecken. Dieser Neun Hundert Jahr gewachsene/ und ein gut Theil Europens annemlich über-schattende Baum ist… umbgehauen. Das Königliche Geschlechte ist ausgestorben/welches denen/ Könige zu wählen/ nicht zu empfangen gewohnten Sarmatern/SechsHundert Jahr fürtreffliche Könige/dem Lande Schlesien über Acht Hundert Jahr Lob-würdige Fürsten gegeben. Das Pyastische Geschlechte ist vergangen/welches die unbändigen Sitten der gefrornen Nord-Welt in den Stand wolgesitteter Völcker gesetzt… Das Geschlechte ist außgerottet/welches die Wüsteneyen der unwirthbaren Sarmatischen Wälder in fruchtbarte Länder und Volckreiche Städte verwandelt hat. Das Haus ist verfinstert/ welches Polen/ Schlesien/ Pommern/ Preussen und das gröste Theil der kalten Mitternacht zu dem Lichte deß Christenthums/ und in das Hauß des wahren GOttes geleitet. Dieses Geschlecht ist hin/ das durch Außrottung der Heydnischen Abgötter/ des todten Unglaubens/ in Polen und Schlesien/ mehr Ungeheuer/ als Tausend Hercules/ außgetilget; das in Polen und Schlesien die ersten und meisten Kirchen gebauet/ die gebauten mit reichen Stiftungen versorget; das fast alle Städte in Grund geleget/ selbte nicht minder mit heilsamen Ordnungen/ als Mauern/ befestigt/ und durchgehends durch Seine Wohltaten Schlesien Ihm zu einem so großen Schuldner gemacht hat: Dass weder wir noch der langsamen Nachkommen Danckmaale sich ihrer Verbindlichkeit werden entbrechen können“.

Lit.: A. Burzec: Rola Piastów legnicko-brzeskich w rozwoju kultury na Śląsku, in: E. Maleczyńska (Hg.), Z dziejów postępowej ideologii na Śląsku w XIV-XVI, Warszawa 1956, 188-225. – N. Conrads: Abstammungssage und dynastische Tradition der schlesischen Piasten, in: Schlesien 20 (1975), S. 213-218. – D. Großmann: Die Piasten und die Kunst, in: Schlesien 21 (1976), S. 65-76. – R. Heck (Hg.): Piastowie w dziejach Polski, Wrocław u.a. 1975. – G. Jaeckel: Geschichte der Liegnitz-Brieger Piasten, Bde. 1-2, Lorch/Württ. 1980-1982. – Ders.: Die schlesischen Piasten (1138-1675). Ein Fürstenhaus zwischen West und Ost, in: Schlesien. Land zwischen West und Ost, Weinsberg 1985, S. 13-50. – K. Jasiński: Rodowód Piastów śląskich, Bde. 1-3, Wrocław 1973-1977. – K. Kalinowski: Gloryfikacja panującego i dynastii w sztuce Śląska XVII i XVIII wieku, Warszawa-Poznań 1973. – Mauzolea piastowskie na Śląsku, Wrocław 1993. – J. J. Menzel: Die Piasten. Ein deutsches Fürstengeschlecht polnischer Herkunft, in: F. Kusch (Hg.), Eisen ist nicht nur hart. Begegnungen und Wiederbegegnungen mit dem deutschen Osten, Stuttgart 1990, S. 11-19. – E. Pietrz-ak: Andreas Gryphius und die schlesischen Piasten, in: Weltgeschichte und Lebenszeit. Andreas Gryphius, ein schlesischer Barockdichter aus deutscher und polnischer Sicht, Düsseldorf 1993, S. 229-242. – Piastowie leksykon biograficzny, Kraków 1999. – M. Weber: Das Verhältnis Schlesiens zum Alten Reich in der Frühen Neuzeit, Köln-Weimar-Wien 1992. – H. Weczerka: Die Residenzen der schlesischen Piasten, in: H. Patze-W. Paravicini (Hg.), Fürstliche Residenzen im spätmittelalterlichen Europa, Sigmaringen 1991, S. 311-347.

Bild: Herzog Georg Wilhelm / Quelle: Von Johann Tscherning – Royal Collection RCIN 608970, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10869873

Joachim Bahlcke