Ereignis vom 1. Dezember 1525

Erstes gedrucktes Buch in Estnischer, Lettischer und Livischer Sprache

Luthers Bibel 1534

Der – noch mehrheitlich katholische – Rat der Hansestadt Lübeck hatte im Jahre 1525 einen glücklichen Fang gemacht: Im Keller des Gasthauses „Zum Goldenen Horn“ auf dem Klingenberge hatte man ein Fass mit lutherischen Druckschriften, darunter auch Messen in livischer, lettischer und estnischer Sprache, beschlagnahmen können. Wie einem Bericht des Domdekans Johannes Brand vom 8. November des Jahres zu entnehmen ist, waren sie dort von einem ungenannten Kauf-mann versteckt und bereits für den Schiffsversand in ein großes Fass gepackt worden. Doch der Kaufmann missachtete die Beschlagnahme, er brach das städtische Siegel und bemühte sich mit Helfern, das Fass nach Travemünde zu schaffen, wo ein Schiff zum Aufbruch nach Riga bereitstand. Der Rat erhielt jedoch Kenntnis von dieser dreisten Tat und konnte die Männer auf dem Weg nach Travemünde stellen. Mitsamt seiner Helfer und dem Karren wurde der Kaufmann nach Lübeck zurückgeführt und landete im Stadtgefängnis. Der erboste Rat hätte die Schriften ohne Unterschied am liebsten gleich öffentlich auf dem Markt verbrannt, aber da man Tumulte befürchtete, ließ man die Schriften doch zunächst von einer Kommission prüfen. Diese jedoch sah sich gezwungen, die „undeutschen“ Schriften auszusortieren, da man über sie kein Urteil fällen konnte. Einem späteren Gutachten zufolge sollten dann alle Schriften verbrannt werden – was vermutlich auch geschehen ist. So ist heute kein Exemplar dieser Werke mehr nachweisbar.

Allerdings ist nur schwer vorstellbar, dass in diesem einen Fass sämtliche Exemplare der Drucke gewesen sein sollten. Hätte schon allein der Platz nicht ausgereicht, so war man gewiss auch nicht so töricht, beim Schmuggel der lutherischen Schriften alles auf eine Karte zu setzen, sondern ließ die Bücher von mehreren Kaufleuten über verschiedene Häfen befördern. So wurden nachweislich in Reval im Dezember 1525 lutherische Schriften beschlagnahmt, die mit den genannten identisch gewesen sein könnten. Der Komtur des Deutschen Ordens hatte die Arrestation vom Rat der Stadt Reval verlangt, doch dieser war bereits überwiegend der neuen Lehre zugetan und hatte kein Interesse an der Auslieferung lutherischer Schriften. Da das Recht auf der Seite des Komturs war, musste der Rat schließlich nachgeben und die Bücher im Juli 1526 aushändigen. Ist somit zu vermuten, dass auch diese Exemplare vernichtet wurden, so bleibt doch – wenn die Schriften immerhin nach Reval gelangen konnten – eine geringe Hoffnung, eines Tages ein Exemplar aufzufinden.

In Riga war man unter reformatorischem Einfluss bereits 1524 (vgl. OGT 1999, S. 353-358) oder noch früher zur deutschen Messe übergegangen und hatte wohl auch eine Neuregelung der Taufe angestrebt, denn unter den anderen Schriften in dem besagten Fass fanden sich solche (vermutlich niederdeutschen) lutherischen Texte. Dass für die „undeutsche“ Bevölkerung ebenfalls eigene Agenden gedruckt wurden, stellt einen bemerkenswerten Wandel in der Kulturpolitik der baltischen Lande dar, der von kaum zu unterschätzender Tragweite ist: Mit diesen Messen setzt die Literatursprache der Esten, Letten und Liven ein. Es ist vermutet worden, dass es sich um ein einziges polyglottes Werk handelte, das die verschiedenen Sprachen vereinigte, denn sonst hätten kaum alle Werke in dem Fass Platz gefunden. Da das älteste erhaltene Buch in estnischer Sprache, ein niederdeutsch-estnischer Katechismus von 1535, in Wittenberg bei Hans Lufft gedruckt wurde, stammen wahrscheinlich auch die „undeutschen“ Messen von 1525 aus dieser Offizin. Das älteste erhaltene Buch in lettischer Sprache hingegen, ein katholischer Katechismus, wurde im Jahre 1585 in Wilna/Vilnius gedruckt.

Die Übersetzungen der „undeutschen“ Messen von 1525 stammen von zwei Predigern: Ins Lettische und Livische übertrug vermutlich Nicolaus Ramm, der zu dieser Zeit lutherischer Prediger der lettischen Gemeinde zu St. Jacobi in Riga war, während die Übersetzung ins Estnische wohl von Franciscus Witte, dem Prediger an der Dorpater estnischen Gemeinde zu St. Johannis, vorgenommen wurde. Den Druck vermittelte und betreute wahrscheinlich Melchior Hofmann, der sich damals in Wittenberg bei Martin Luther aufhielt, um ein Zeugnis seiner Rechtgläubigkeit zu erhalten. Der später als Straßburger Wiedertäufer bekannt gewordene Hofmann bewegte sich zwischen 1523 und 1526 in Riga und Dorpat, schließlich auch kurz in Reval, und so besaß er gewiss die Verbindungen, die zu dieser mehrsprachigen Ausgabe notwendig waren.

Im Jahre 1588 wurde in Riga durch Niklas Mollyn die erste Druckerei (vgl. OGT 1988, S. 208-212) in den baltischen Lan-den eingerichtet, die in der Folge auch viele lettische und estnische Ausgaben druckte und dem altlivländischen Buchwesen einen merklichen Aufschwung bescherte. Die Druckerei der Universität Dorpat hingegen, die im Jahre 1631 ihre Tätigkeit aufnahm und bereits 1656 beim Einfall der Russen wieder geschlossen wurde, konnte keine estnischen oder lettischen Bücher drucken, da das Privileg hierfür im Besitz der Rigaer Druckerei lag. Dies gilt auch für die zweite Periode der Universität und ihrer Druckerei in Dorpat (1690-99) und Pernau (1699-1710). Im estländischen Reval nahm im Herbst 1634 eine dem Gymnasium angegliederte Druckerei unter Christoph Reusner ihre Arbeit auf. In dieser Offizin erschienen auch wichtige estnisch-deutsche Werke im nordestnischen Dialekt, so etwa die erste estnische Grammatik, Anführung zu der Esthnischen Sprach (1637) vom gebürtigen Revaler und dortigen Dompastor Magister Heinrich Stahl, und das vierteilige Hand- und Hausbuch (1632, 1637-38) vom selben Verfasser, das in deutsch-estnischem Paralleltext den Katechismus, Kirchenlieder, Evangelien und Episteln sowie Psalmen und Gebete enthielt und dessen erster Teil noch in Riga gedruckt wurde. Von Heinrich Stahl stammt auch der zweibändige Leyenspiegel (1641/49), eine in gleicher Weise deutsch-estnisch gestaltete Sammlung von Predigten, die auch durch ihre buchkünstlerische Gestaltung auffällt. Ebenfalls in Reval erschien im Jahre 1639 das erste estnisch gereimte Gelegenheitsgedicht von Reiner Brocmann.

Heute bemühen sich Nationalbibliographien in Estland und Lettland um die retrospektive sowie fortlaufende Verzeichnung des gesamten Schrifttums. So konnte die estnische Nationalbibliographie bereits eine Reihe von wertvollen Bänden aus der umfangreich angelegten retrospektiven Bibliographie vorlegen, während in Lettland schon vor dem Zweiten Weltkrieg mehrbändige Bibliographien des älteren Schrifttums erschienen waren. Während der Sowjetherrschaft war die offizielle Amtssprache Russisch, und sowohl in Estland wie auch in Lettland ging der Anteil der estnisch- bzw. lettischsprachigen Veröffentlichungen an der Gesamtzahl von Büchern und Broschüren zurück. In Estland lag er 1983 bei 63 %, während in Lettland 1988 nurmehr 50,3 % in lettischer Sprache gedruckt wurden. Der Buchmarkt in den beiden Ländern erfuhr insofern durch die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit 1990/91 eine starke Umwälzung, die noch immer nicht abgeschlossen ist.

Lit.: Paul Johansen: Gedruckte deutsche und undeutsche Messen für Riga 1525, in: Zeitschrift für Ostforschung 8 (1959), S. 523-532. – Voldemar Miller: Esimesed eesti raamatud. [dt. Zusfsg.: Die ersten estnischen Bücher], Tallinn: Eesti Raamat 1976. – Eesti raamat 1525-1975. Ajalooline ülevaade. [dt. Zusfsg.: Estnisches Buch 1525-1975. Historische Übersicht]. (Autorite kollektiv: Voldemar Miller (koostaja), K. Robert, M. Lott, R. Loodus, G. Reitsak, L. Püss, I. Tingre, Toimetanud J. Peegel), Tallinn: Valgus 1978. – O. Zanders: Tipogrāfs Mollīns un viņa laiks. Pirmās Rīgā iespiestās grāmatas 1588-1625. [dt. Zusfsg.: Typograph Mollin und seine Zeit], Rīga: Zinātne 1988. – P. Kaegbein: Estland, in: Lexikon des gesamten Buchwesens. Zweite, völlig neu bearb. Aufl., Bd. II, Stuttgart: Hirsemann 1989, S. 499-501. – Mare Lott, Aile Möldre: A brief History of Estonian Book, [Tallinn]: Estonian Librarians‘ Association, National Library of Estonia (1993). – A. Vilks: Lettland, in: Lexikon des gesamten Buchwesens. Zweite, völlig neu bearb. Aufl., Bd. IV, Stuttgart: Hiersemann 1995, S. 507-510.

 

Bild: Luthers Bibel 1534 / Quelle: By Torsten Schleese – Own photo taken in Lutherhaus Wittenberg, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=460823

 

Martin Klöker