Ereignis vom 1. Januar 1945

Flucht und Vertreibung

Vertriebene Sudetendeutsche

Mindestens zwanzig Millionen Deutsche wurden im Verlaufe der Ereignisse, die dem Zweiten Weltkrieg vorausgingen, während des Krieges selbst, dann vor allem jedoch in den Jah­ren von 1944 bis 1946 aus ihrer Heimat gerissen. Zur Flucht und Vertreibung gehörten nicht allein die Aufgabe des hei­matlichen Herdes und der vertrauten Umgebung. Zu dem gan­zen gnadenlosen Geschehen, dem große Teile des deutschen Volkes ausgeliefert waren, zählte auch die Umsiedlung der Deutschen aus dem Baltikum und der Dobrudscha ebenso wie die als „Heimholung ins Reich“ apostrophierte Entwurzelung der Deutschen aus dem Buchenland oder aus Bessarabien. Dieser Weg der Heimat abgekehrt – um ein Wort von Agnes Miegel zu variieren, wird noch immer genutzt. Er wird von den bis heute zu uns strömenden Aussiedlern aus Rumänien und Polen, aus Tschechien und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf vielfache Weise beschritten. Diese Aussiedler sind am Ende nichts anderes als Spät-Flüchtlinge oder auch Heimat­lose, die nun ein halbes Jahrhundert nach dem Kriegsende in Deutschland endlich Geborgenheit suchen.

Die Ereignisse von Flucht und Vertreibung haben nicht allein ein Volk in Unruhe und am Ende ins Unglück gestürzt. Sie haben auch – wie der unvergessene Götz Fehr es einmal aus­drückte – die Möglichkeit der Kommunikation zwischen den Völkern zerstört. Tschechen und Deutsche konnten sich Jahr­hunderte hindurch, Tür an Tür lebend, miteinander verständi­gen, ebenso wie Rumänen und Deutsche, Letten und Deutsche, Polen und Deutsche, Esten und Deutsche, Russen und Deut­sche, auch Litauer und Deutsche. Heute ist der Dialog abge­ris­sen. Eine unbarmherzige Maschinerie der Menschen­ver­ach­­tung riß die Deutschen im Osten aus dem Kreis ihres völ­ker­ver­bindenden Daseins – von Wolhynien bis zum Schwar­zen Meer, von der Krim über die Düna bis zum Umland von Re­val. Sie kehrten zurück in einem umgekehrten Schwa­ben­zug. Sie kehr­ten heim aus Gebieten, in denen sie Gleiche unter Glei­­chen waren über eine lange Zeitspanne hinweg, und sie bra­­chen nach dem grimmigen Wort, das Werner Bergengruen in den Mund gelegt wird, „unverrichteter Sache“ ihre Zelte ab.

Das war jedoch nur der Anfang, der Auftakt eines Exodus´, dessen menschliche und politische Auswirkungen bis heute niemand abzuschätzen vermag. Der zweite Akt dieses Dramas zeigt sich allerdings vor der Geschichte keineswegs als ein nicht abreißender Menschenstrom, der heim vom Osten nach dem Westen drängt. Der zweite Akt zeigt sich eher als eine verhängnisvolle Reise vom Westen in den Osten. Millio­nen von Menschen, vor allem Frauen und Kinder, wurden während des Bombenkrieges aus den bedrohten Großstädten in ländliche Bereiche Pommerns, Schlesiens und Ostpreußens evakuiert. Das führte zu einer Umgewichtung der gesamten Bevölkerungsstruktur – vor allem im Wartheland, wo zu den rund 230.000 altansässigen Deutschen weit über 400.000 Umsiedler aus der Bukowina, aus dem Baltikum, aus Wolhy­nien und auch Evakuierte aus dem Westen Deutschlands hin­zukamen. Die Evakuierung riß aber auch in einigen ostdeut­schen Großstädten willkürlich die Familien auseinander, vor allem in Königsberg, Stettin und Breslau. Bei Kriegsende wa­ren schließlich nach offiziellen Angaben ungefähr zehn Mil­lionen Deutsche von den Evakuierungsmaßnahmen betroffen.

Das Schicksal der Entwurzelung griff jedoch auch auf Gebiete weit jenseits der deutschen Grenzen über. Es traf vor allem Deutsche, die seit Jahrhunderten an der Wolga, in der Ukraine, auf der Krim und im Kaukasus als loyale und absolut unpoliti­sche Mitbürger der Russen lebten. 1941 wurden sie wegen angeblicher „aktiver Unterstützung der faschistischen Aggres­soren“ unter bedrückenden Begleitumständen auf ei­nem opfer­reichen Weg in die asiatischen Teile der Sowjet­union depor­tiert.

Im deutschen Mutterland und in den Siedlungsgebieten hatte man bis dahin nur das Schicksal der Umsiedlung erlebt. Ab 1944 setzte jedoch auch in den ostdeutschen Provinzen der dritte Akt des Dramas ein. Die Flucht kündigte sich an. Die Front rückte allmählich an das östliche Oberschlesien und ebenso an das nördliche Stromgebiet der Memel heran. Pan­zergräben wurden ausgehoben und Bunker gebaut. Doch an das wichtigste – an den Schutz der Zivilbevölkerung – dachten die damals verantwortlichen Stellen kaum. Im Gegenteil, wer mit dem Gedanken der Flucht spielte, galt als „vaterlandsloser Verräter“. Das führte dazu, daß beim Einsetzen der Flucht – die dann gar nicht mehr befohlen werden konnte, sondern oft ziellos begann, das nackte Faustrecht galt und nur in seltenen Fällen ordnungsgemäße Treck-Wege bestimmt und eingehal­ten werden konnten. Nicht zuletzt führte die viel zu spät ein­setzende Flucht zu einem hoffnungslosen Chaos auf den Stra­ßen, die ohnehin durch Militärkolonnen verstopft waren. Die­ses Chaos wurde größer und größer, nachdem erste kaum glaubhafte Grausamkeiten, die sich – unleugbar und beweisbar – jenseits der Frontlinie zugetragen hatten, bekannt wurden. Erinnert sei an die Ereignisse im ostpreußischen Nemmersdorf (vgl. OGT 1994, S. 334-339).

Das Signal zur Flucht war damit gegeben, aber die Erlaubnis zum Aufbruch wurde meist nicht erteilt. Sie kam zu spät im Memelland, im östlichen Ostpreußen, auch in Oberschlesien. Sie kam auch in Mittelschlesien zu spät, wo sich Ende Januar 1945 bereits die meisten Oderstädte in russischer Hand befan­den. Auch in den brandenburgischen Landesteilen östlich der Oder und ebenso in Mittel- und Hinterpommern wurde die Flucht sogar ausdrücklich verboten. Nur Evakuierte durften abreisen. Zum Chaos kam der grimmige Winter – für unzäh­lige Kinder, ältere Menschen, Hilfsbedürftige oder Gebrechliche be­deutete das den sicheren Tod. Es gibt erschütternde Berichte, die das Leid der Flucht eindringlich schildern – den Weg der Ostpreußen zunächst über Pommern, so lange noch der Land­weg offen war, dann der Zug der Pferdegespanne über das Eis des Fri­schen Haffes in das kurze Zeit Rettung bietende Danzi­ger Werder. Zahllose Gespanne versanken dabei unter den Schüs­sen feindlicher Tiefflieger im eisigen Wasser des Haffes; dann schließlich, als der Landweg über Pommern ganz abge­schnit­ten war, versuchten Tausende und Abertausende, sich auf dem Seewege zu retten. Die Häfen in der Danziger Bucht, aber ebenso Pillau und der kleine Hafen von Hela boten dafür manche Gelegenheit. Obschon als unbewaffnete Rettungs­schiffe gekennzeichnet, wurden einige der großen Dampfer wie die „Wilhelm Gustloff“ und die „Goya“ von sowjetischen U-Booten vor der pommerschen Küste versenkt. Was sich dabei an grausigen Szenen und menschlichen Tragödien abspielte, läßt sich kaum ahnen. Tausende ertranken in den eisigen Flu­ten – Frauen, Kinder, Kleinstkinder, Neugeborene ebenso wie hilflose alte Leute. Niemand kennt ihr Leid, ihre Namen, ihre Hoffnungen, mit denen sie die Rettung bietenden Schiffe be­stiegen.

Die Flucht auf dem Land war war jedoch kaum weniger ge­fahrlos. Die Rote Armee hatte schon frühzeitig die Eisenbahn­übergänge bei Frankfurt an der Oder und bei Küstrin an Warthe und Oder blockiert. So gab es bald schon keine Mög­lichkeit mehr, auf diesem Wege Flüchtlinge in den Westen zu bringen. Aber auch viele und wegen des strikten Fluchtverbots zu spät aufgebrochene Trecks vor allem aus dem Wartheland und aus dem östlichen Brandenburg scheiterten meist im Landbereich um Schneidemühl oder wurden im Stromgebiet von Warthe und Netze von der Roten Armee überrollt. Bessere Fluchtgele­genheiten konnten dagegen die Schlesier nutzen, die – wenn auch allzuspät aufgebrochen – über das zum Teil noch nicht in das Kriegsgeschehen einbezogene Mähren und Böh­men nach Süddeutschland gelangten. Das schlimmste Schick­sal traf jedoch diejenigen – wohl über­wiegend Schlesier -, die in das scheinbar rettende Dresden flüchteten und dort hilflos in das mörderische Bom­bardement im Februar 1945 hinein­ge­rie­ten. Wenige Wochen später be­gann dann mit der gezielten Ver­treibung ein weiteres Kapitel des tragischen Exodus‘ der Ost­deutschen aus ihrer Heimat. Es wirkt heute wie blanker Hohn, daß erst auf der Potsdamer Konferenz – als eigentlich alles vorüber war – von den Sieger­mächten die Modalitäten der Vertreibung besiegelt wurden. Im Artikel XIII heißt es wört­lich: „Die drei Regie­rungen … stim­men darin überein, daß jede … Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und huma­ner Weise er­folgen soll.“ Davon konnte freilich keine Rede sein. Die Ver­treibung erwies sich nicht allein als ein Akt bloßer Willkür, sie fand auch meist unter  Begleitumständen statt, die – von einigen weni­gen Ausnahmen abgesehen – jede Ah­nung von Humanität vermissen ließen. Es gibt zahllose Berichte, die das, was damals vor den Augen der Welt geschah, für alle Zeit und nicht zur Ehre der Vertreiberstaaten gereichend bezeugen.

Das Leid der Betroffenen, gleich, ob sie nun aus Ostpreußen, aus dem Sudetenland, aus Siebenbürgen oder Ungarn stam­men, hörte mit dem Ende der Kriegshandlungen keineswegs auf. Schon im Februar 1945 hatte Stalin auf der Konferenz von Jalta deutsche Arbeitskräfte als sogenannte Hilfen bei der ‚Reparation‘ gefordert. Deutsche, die der Roten Armee vor allem im Wartheland in die Hände fielen und vormals aus dem Balti­kum, der Bukowina oder Wolhynien stammten, wurden häufig unter dem Vorwand der Repatriierung nach Sibirien depor­tiert. Rumänien wieder lieferte, um sich von dem Makel der Bünd­nistreue zu Deutschland im Zweiten Weltkrieg rein­zu­wa­schen, Deutsche aus dem Banat und aus Siebenbürgen als Ar­beits­kräfte an die damalige Sowjetunion aus. Was diese dabei erlebten und erdulden mußten, läßt sich mit dem Aus­druck unserer Sprache schwer beschreiben. Ein kaum weniger schweres Schicksal traf diejenigen, deren Trecks von Panzern der Roten Armee überrollt wurden, insbesondere viele Bauern, die einfach keine Gelegenheit mehr zur Flucht hatten. Allein in einem Lager in Graudenz gingen von acht­tausend internierten Deutschen fünftausend an Ruhr und Flecktyphus zugrunde. Im Seuchenkrankenhaus von Königs­berg wieder starben in den Jahren von 1945 bis 1947 von 100.000 Kranken rund 75.000. Daneben gab es vielerorts gewalttätige Übergriffe. Allein im sude­tendeutschen Aussig wurden bei einem Massa­ker nach dem Bericht eines Funktionärs der tschechischen Ver­wal­tungs­kom­­mission mehr als zweitausend Deutsche umgebracht und in die Elbe geworfen. Im schlesi­schen Lager Lamsdorf wieder wird die Zahl der Opfer – eben­falls vorsichtig geschätzt – auf 6.000 Deutsche beziffert. Das alles sind – leider – keine Ein­zel­fälle. In einem Bericht aus Carlsruhe im Land­kreis Oppeln aus dem Herbst 1945 heißt es: „Ungefähr 110 Personen erschossen oder auf andere Weise getötet, darunter zwanzig Insassen des Altersheimes.“ Vor­kommnisse dieser Art gab es nicht allein in Schlesien, in Ost­preußen oder Pommern und im Sudetenland. Es gab sie auch im alten Siedlungsgebiet der Donauschwaben im damaligen Jugoslawien. Die darüber vorliegenden Berichte lesen sich noch heute – nach dem Ab­stand vieler Jahre – wie Horror-Vi­sionen.

Beim Rückblick auf die schlimmen Begleitumstände von Flucht und Vertreibung wird oft das Schicksal der Flüchtlinge überse­hen, die damals versuchten, in ihre zum Teil men­schen­lee­ren Dörfer zurückzukehren. Sie wurden dabei zum Teil noch nicht einmal daran gehindert – nicht zuletzt wegen der weit­gehend unsicheren politischen Verhältnisse. So blieb es etliche Zeit unklar, an welcher der drei Neißen die polnischen Grenz­schilder aufgestellt werden sollten – an der Lausitzer Neiße, an der Wütenden Neiße oder an der Glatzer Neiße. Es gab auch bald nach 1945 Planspiele über die Zukunft von Stettin, der Insel Wollin und der Stadt Swine­mün­de auf der überwiegend unter deutscher Landeshoheit ver­blie­be­nen Insel Usedom. Stalin versuchte wiederholt mit eigen­wil­li­gen und vermutlich gar nicht ernst gemeinten Gedan­ken­sprün­gen die in seinem Sinne politisch ungehorsamen Polen in Schach zu halten.

Auch heute ist die Flucht oder Vertreibung noch lange nicht abgeschlossen. Millionen von Deutschen, die auf russischem Boden, in Polen, Tschechien oder Rumänien verblieben, su­chen noch immer den Weg nach Deutschland. Das Leid dieser Menschen, die häufig seit langen Jahren auf gepackten Kof­fern sitzen, bleibt oft verborgen. Wer weiß schon, daß sie – noch heute – in den Herkunftsländern gele­gentlich als „Hitlerowcy“ ge­scholten und, wenn sie dann endlich bei uns sind, als „Po­lacken“ beschimpft wer­den.

Doch es gibt, vielleicht, auch Zeichen der Hoffnung. Der Ge­dan­ke des verstorbenen Primas von Polen, Jozef Wyszynski, „die Ausweisung der Deutschen wäre Gottes Wille …“ ist heu­te, nicht nur in Polen, längst verworfen. An die Stelle des Has­ses ist die Nachdenklichkeit getreten: „Sieben Jahrhunderte deutsch-tsche­chischen Nebeneinander-Lebens wurden 1945 mit der Ver­treibung zerbrochen und ausgelöscht, …“ gibt der aus Böh­men stammende Historiker Ferdinand Seibt zu beden­ken.

Das wichtigste aber wird meist übersehen – die Vertreibung besaß vor allem einen politischen Hintergrund. Die Deutschen aus dem Osten – ob man ihre Zahl nun mit zwölf oder fünf­zehn Mil­lionen annimmt – sollten nach dem Willen Stalins als per­ma­nenter Unruheherd im Deutschland der Nachkriegszeit wir­ken, als eine uneingliederungsfähige Menschenmasse, die sich dem Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens be­harrlich wider­setzt. Diese Rechnung ging nicht auf. Im Ge­genteil: Die Deut­schen aus dem Osten ließen sich nicht allein in ihrer Gesamtheit eingliedern, sie wirkten auch bewußt als Motor beim Wiederaufbau des wirtschaftlich am Boden lie­genden Deutschland und sie bekannten sich – obschon die Lo­se der Zukunft noch keineswegs gezogen waren – ohne Ein­schrän­kung von der ersten Stunde an zur Gesellschaftsord­nung der wenige Jahre nach dem Kriegsende gegründeten Bundesre­publik Deutschland. Darüber hinaus aber sind es die Ostdeut­schen, die seit Jahren schon und sehr bewußt heute den in die Zukunft weisenden Verständigungsdialog mit den Vertreiber­staaten von 1945 suchen.

Lit.: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mittel­europa. In Verbindung mit Adolf Diestelkamp u.a. bearbeitet von Theodor Schieder, hg. vom Bundesministerium für Vertriebene. 8 Bde., 1954-1963. Unveränderter Nachdruck (dtv) München 1984. – Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Ein­fluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, hg. u.a. von Eugen Lemberg. Bd. 1-3, Kiel 1959. – Alfred M. de Zayas: Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. München 1977. – Heinz Nawratil: Vertreibungsverbrechen an Deutschen. Mün­chen 1982. – Frank Grube/Gerhard Richter (Hg.): Flucht und Ver­trei­bung. Deutschland zwischen 1944 und 1947. Hamburg 1980. – Ver­treibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948, hg. von der Kultur­stiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1989. – Ernst Fre­dmann: Sie kamen übers Meer. Köln 1971. – Deutsche unterwegs, hg. von Hans-Ulrich Engel, München 1983. – Ders. (Hg.): 40 Jahre nach Flucht und Vertreibung. Düsseldorf 1985.

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Hans-Ulrich Engel