Mindestens zwanzig Millionen Deutsche wurden im Verlaufe der Ereignisse, die dem Zweiten Weltkrieg vorausgingen, während des Krieges selbst, dann vor allem jedoch in den Jahren von 1944 bis 1946 aus ihrer Heimat gerissen. Zur Flucht und Vertreibung gehörten nicht allein die Aufgabe des heimatlichen Herdes und der vertrauten Umgebung. Zu dem ganzen gnadenlosen Geschehen, dem große Teile des deutschen Volkes ausgeliefert waren, zählte auch die Umsiedlung der Deutschen aus dem Baltikum und der Dobrudscha ebenso wie die als „Heimholung ins Reich“ apostrophierte Entwurzelung der Deutschen aus dem Buchenland oder aus Bessarabien. Dieser Weg der Heimat abgekehrt – um ein Wort von Agnes Miegel zu variieren, wird noch immer genutzt. Er wird von den bis heute zu uns strömenden Aussiedlern aus Rumänien und Polen, aus Tschechien und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf vielfache Weise beschritten. Diese Aussiedler sind am Ende nichts anderes als Spät-Flüchtlinge oder auch Heimatlose, die nun ein halbes Jahrhundert nach dem Kriegsende in Deutschland endlich Geborgenheit suchen.
Die Ereignisse von Flucht und Vertreibung haben nicht allein ein Volk in Unruhe und am Ende ins Unglück gestürzt. Sie haben auch – wie der unvergessene Götz Fehr es einmal ausdrückte – die Möglichkeit der Kommunikation zwischen den Völkern zerstört. Tschechen und Deutsche konnten sich Jahrhunderte hindurch, Tür an Tür lebend, miteinander verständigen, ebenso wie Rumänen und Deutsche, Letten und Deutsche, Polen und Deutsche, Esten und Deutsche, Russen und Deutsche, auch Litauer und Deutsche. Heute ist der Dialog abgerissen. Eine unbarmherzige Maschinerie der Menschenverachtung riß die Deutschen im Osten aus dem Kreis ihres völkerverbindenden Daseins – von Wolhynien bis zum Schwarzen Meer, von der Krim über die Düna bis zum Umland von Reval. Sie kehrten zurück in einem umgekehrten Schwabenzug. Sie kehrten heim aus Gebieten, in denen sie Gleiche unter Gleichen waren über eine lange Zeitspanne hinweg, und sie brachen nach dem grimmigen Wort, das Werner Bergengruen in den Mund gelegt wird, „unverrichteter Sache“ ihre Zelte ab.
Das war jedoch nur der Anfang, der Auftakt eines Exodus´, dessen menschliche und politische Auswirkungen bis heute niemand abzuschätzen vermag. Der zweite Akt dieses Dramas zeigt sich allerdings vor der Geschichte keineswegs als ein nicht abreißender Menschenstrom, der heim vom Osten nach dem Westen drängt. Der zweite Akt zeigt sich eher als eine verhängnisvolle Reise vom Westen in den Osten. Millionen von Menschen, vor allem Frauen und Kinder, wurden während des Bombenkrieges aus den bedrohten Großstädten in ländliche Bereiche Pommerns, Schlesiens und Ostpreußens evakuiert. Das führte zu einer Umgewichtung der gesamten Bevölkerungsstruktur – vor allem im Wartheland, wo zu den rund 230.000 altansässigen Deutschen weit über 400.000 Umsiedler aus der Bukowina, aus dem Baltikum, aus Wolhynien und auch Evakuierte aus dem Westen Deutschlands hinzukamen. Die Evakuierung riß aber auch in einigen ostdeutschen Großstädten willkürlich die Familien auseinander, vor allem in Königsberg, Stettin und Breslau. Bei Kriegsende waren schließlich nach offiziellen Angaben ungefähr zehn Millionen Deutsche von den Evakuierungsmaßnahmen betroffen.
Das Schicksal der Entwurzelung griff jedoch auch auf Gebiete weit jenseits der deutschen Grenzen über. Es traf vor allem Deutsche, die seit Jahrhunderten an der Wolga, in der Ukraine, auf der Krim und im Kaukasus als loyale und absolut unpolitische Mitbürger der Russen lebten. 1941 wurden sie wegen angeblicher „aktiver Unterstützung der faschistischen Aggressoren“ unter bedrückenden Begleitumständen auf einem opferreichen Weg in die asiatischen Teile der Sowjetunion deportiert.
Im deutschen Mutterland und in den Siedlungsgebieten hatte man bis dahin nur das Schicksal der Umsiedlung erlebt. Ab 1944 setzte jedoch auch in den ostdeutschen Provinzen der dritte Akt des Dramas ein. Die Flucht kündigte sich an. Die Front rückte allmählich an das östliche Oberschlesien und ebenso an das nördliche Stromgebiet der Memel heran. Panzergräben wurden ausgehoben und Bunker gebaut. Doch an das wichtigste – an den Schutz der Zivilbevölkerung – dachten die damals verantwortlichen Stellen kaum. Im Gegenteil, wer mit dem Gedanken der Flucht spielte, galt als „vaterlandsloser Verräter“. Das führte dazu, daß beim Einsetzen der Flucht – die dann gar nicht mehr befohlen werden konnte, sondern oft ziellos begann, das nackte Faustrecht galt und nur in seltenen Fällen ordnungsgemäße Treck-Wege bestimmt und eingehalten werden konnten. Nicht zuletzt führte die viel zu spät einsetzende Flucht zu einem hoffnungslosen Chaos auf den Straßen, die ohnehin durch Militärkolonnen verstopft waren. Dieses Chaos wurde größer und größer, nachdem erste kaum glaubhafte Grausamkeiten, die sich – unleugbar und beweisbar – jenseits der Frontlinie zugetragen hatten, bekannt wurden. Erinnert sei an die Ereignisse im ostpreußischen Nemmersdorf (vgl. OGT 1994, S. 334-339).
Das Signal zur Flucht war damit gegeben, aber die Erlaubnis zum Aufbruch wurde meist nicht erteilt. Sie kam zu spät im Memelland, im östlichen Ostpreußen, auch in Oberschlesien. Sie kam auch in Mittelschlesien zu spät, wo sich Ende Januar 1945 bereits die meisten Oderstädte in russischer Hand befanden. Auch in den brandenburgischen Landesteilen östlich der Oder und ebenso in Mittel- und Hinterpommern wurde die Flucht sogar ausdrücklich verboten. Nur Evakuierte durften abreisen. Zum Chaos kam der grimmige Winter – für unzählige Kinder, ältere Menschen, Hilfsbedürftige oder Gebrechliche bedeutete das den sicheren Tod. Es gibt erschütternde Berichte, die das Leid der Flucht eindringlich schildern – den Weg der Ostpreußen zunächst über Pommern, so lange noch der Landweg offen war, dann der Zug der Pferdegespanne über das Eis des Frischen Haffes in das kurze Zeit Rettung bietende Danziger Werder. Zahllose Gespanne versanken dabei unter den Schüssen feindlicher Tiefflieger im eisigen Wasser des Haffes; dann schließlich, als der Landweg über Pommern ganz abgeschnitten war, versuchten Tausende und Abertausende, sich auf dem Seewege zu retten. Die Häfen in der Danziger Bucht, aber ebenso Pillau und der kleine Hafen von Hela boten dafür manche Gelegenheit. Obschon als unbewaffnete Rettungsschiffe gekennzeichnet, wurden einige der großen Dampfer wie die „Wilhelm Gustloff“ und die „Goya“ von sowjetischen U-Booten vor der pommerschen Küste versenkt. Was sich dabei an grausigen Szenen und menschlichen Tragödien abspielte, läßt sich kaum ahnen. Tausende ertranken in den eisigen Fluten – Frauen, Kinder, Kleinstkinder, Neugeborene ebenso wie hilflose alte Leute. Niemand kennt ihr Leid, ihre Namen, ihre Hoffnungen, mit denen sie die Rettung bietenden Schiffe bestiegen.
Die Flucht auf dem Land war war jedoch kaum weniger gefahrlos. Die Rote Armee hatte schon frühzeitig die Eisenbahnübergänge bei Frankfurt an der Oder und bei Küstrin an Warthe und Oder blockiert. So gab es bald schon keine Möglichkeit mehr, auf diesem Wege Flüchtlinge in den Westen zu bringen. Aber auch viele und wegen des strikten Fluchtverbots zu spät aufgebrochene Trecks vor allem aus dem Wartheland und aus dem östlichen Brandenburg scheiterten meist im Landbereich um Schneidemühl oder wurden im Stromgebiet von Warthe und Netze von der Roten Armee überrollt. Bessere Fluchtgelegenheiten konnten dagegen die Schlesier nutzen, die – wenn auch allzuspät aufgebrochen – über das zum Teil noch nicht in das Kriegsgeschehen einbezogene Mähren und Böhmen nach Süddeutschland gelangten. Das schlimmste Schicksal traf jedoch diejenigen – wohl überwiegend Schlesier -, die in das scheinbar rettende Dresden flüchteten und dort hilflos in das mörderische Bombardement im Februar 1945 hineingerieten. Wenige Wochen später begann dann mit der gezielten Vertreibung ein weiteres Kapitel des tragischen Exodus‘ der Ostdeutschen aus ihrer Heimat. Es wirkt heute wie blanker Hohn, daß erst auf der Potsdamer Konferenz – als eigentlich alles vorüber war – von den Siegermächten die Modalitäten der Vertreibung besiegelt wurden. Im Artikel XIII heißt es wörtlich: „Die drei Regierungen … stimmen darin überein, daß jede … Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.“ Davon konnte freilich keine Rede sein. Die Vertreibung erwies sich nicht allein als ein Akt bloßer Willkür, sie fand auch meist unter Begleitumständen statt, die – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – jede Ahnung von Humanität vermissen ließen. Es gibt zahllose Berichte, die das, was damals vor den Augen der Welt geschah, für alle Zeit und nicht zur Ehre der Vertreiberstaaten gereichend bezeugen.
Das Leid der Betroffenen, gleich, ob sie nun aus Ostpreußen, aus dem Sudetenland, aus Siebenbürgen oder Ungarn stammen, hörte mit dem Ende der Kriegshandlungen keineswegs auf. Schon im Februar 1945 hatte Stalin auf der Konferenz von Jalta deutsche Arbeitskräfte als sogenannte Hilfen bei der ‚Reparation‘ gefordert. Deutsche, die der Roten Armee vor allem im Wartheland in die Hände fielen und vormals aus dem Baltikum, der Bukowina oder Wolhynien stammten, wurden häufig unter dem Vorwand der Repatriierung nach Sibirien deportiert. Rumänien wieder lieferte, um sich von dem Makel der Bündnistreue zu Deutschland im Zweiten Weltkrieg reinzuwaschen, Deutsche aus dem Banat und aus Siebenbürgen als Arbeitskräfte an die damalige Sowjetunion aus. Was diese dabei erlebten und erdulden mußten, läßt sich mit dem Ausdruck unserer Sprache schwer beschreiben. Ein kaum weniger schweres Schicksal traf diejenigen, deren Trecks von Panzern der Roten Armee überrollt wurden, insbesondere viele Bauern, die einfach keine Gelegenheit mehr zur Flucht hatten. Allein in einem Lager in Graudenz gingen von achttausend internierten Deutschen fünftausend an Ruhr und Flecktyphus zugrunde. Im Seuchenkrankenhaus von Königsberg wieder starben in den Jahren von 1945 bis 1947 von 100.000 Kranken rund 75.000. Daneben gab es vielerorts gewalttätige Übergriffe. Allein im sudetendeutschen Aussig wurden bei einem Massaker nach dem Bericht eines Funktionärs der tschechischen Verwaltungskommission mehr als zweitausend Deutsche umgebracht und in die Elbe geworfen. Im schlesischen Lager Lamsdorf wieder wird die Zahl der Opfer – ebenfalls vorsichtig geschätzt – auf 6.000 Deutsche beziffert. Das alles sind – leider – keine Einzelfälle. In einem Bericht aus Carlsruhe im Landkreis Oppeln aus dem Herbst 1945 heißt es: „Ungefähr 110 Personen erschossen oder auf andere Weise getötet, darunter zwanzig Insassen des Altersheimes.“ Vorkommnisse dieser Art gab es nicht allein in Schlesien, in Ostpreußen oder Pommern und im Sudetenland. Es gab sie auch im alten Siedlungsgebiet der Donauschwaben im damaligen Jugoslawien. Die darüber vorliegenden Berichte lesen sich noch heute – nach dem Abstand vieler Jahre – wie Horror-Visionen.
Beim Rückblick auf die schlimmen Begleitumstände von Flucht und Vertreibung wird oft das Schicksal der Flüchtlinge übersehen, die damals versuchten, in ihre zum Teil menschenleeren Dörfer zurückzukehren. Sie wurden dabei zum Teil noch nicht einmal daran gehindert – nicht zuletzt wegen der weitgehend unsicheren politischen Verhältnisse. So blieb es etliche Zeit unklar, an welcher der drei Neißen die polnischen Grenzschilder aufgestellt werden sollten – an der Lausitzer Neiße, an der Wütenden Neiße oder an der Glatzer Neiße. Es gab auch bald nach 1945 Planspiele über die Zukunft von Stettin, der Insel Wollin und der Stadt Swinemünde auf der überwiegend unter deutscher Landeshoheit verbliebenen Insel Usedom. Stalin versuchte wiederholt mit eigenwilligen und vermutlich gar nicht ernst gemeinten Gedankensprüngen die in seinem Sinne politisch ungehorsamen Polen in Schach zu halten.
Auch heute ist die Flucht oder Vertreibung noch lange nicht abgeschlossen. Millionen von Deutschen, die auf russischem Boden, in Polen, Tschechien oder Rumänien verblieben, suchen noch immer den Weg nach Deutschland. Das Leid dieser Menschen, die häufig seit langen Jahren auf gepackten Koffern sitzen, bleibt oft verborgen. Wer weiß schon, daß sie – noch heute – in den Herkunftsländern gelegentlich als „Hitlerowcy“ gescholten und, wenn sie dann endlich bei uns sind, als „Polacken“ beschimpft werden.
Doch es gibt, vielleicht, auch Zeichen der Hoffnung. Der Gedanke des verstorbenen Primas von Polen, Jozef Wyszynski, „die Ausweisung der Deutschen wäre Gottes Wille …“ ist heute, nicht nur in Polen, längst verworfen. An die Stelle des Hasses ist die Nachdenklichkeit getreten: „Sieben Jahrhunderte deutsch-tschechischen Nebeneinander-Lebens wurden 1945 mit der Vertreibung zerbrochen und ausgelöscht, …“ gibt der aus Böhmen stammende Historiker Ferdinand Seibt zu bedenken.
Das wichtigste aber wird meist übersehen – die Vertreibung besaß vor allem einen politischen Hintergrund. Die Deutschen aus dem Osten – ob man ihre Zahl nun mit zwölf oder fünfzehn Millionen annimmt – sollten nach dem Willen Stalins als permanenter Unruheherd im Deutschland der Nachkriegszeit wirken, als eine uneingliederungsfähige Menschenmasse, die sich dem Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens beharrlich widersetzt. Diese Rechnung ging nicht auf. Im Gegenteil: Die Deutschen aus dem Osten ließen sich nicht allein in ihrer Gesamtheit eingliedern, sie wirkten auch bewußt als Motor beim Wiederaufbau des wirtschaftlich am Boden liegenden Deutschland und sie bekannten sich – obschon die Lose der Zukunft noch keineswegs gezogen waren – ohne Einschränkung von der ersten Stunde an zur Gesellschaftsordnung der wenige Jahre nach dem Kriegsende gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus aber sind es die Ostdeutschen, die seit Jahren schon und sehr bewußt heute den in die Zukunft weisenden Verständigungsdialog mit den Vertreiberstaaten von 1945 suchen.
Lit.: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. In Verbindung mit Adolf Diestelkamp u.a. bearbeitet von Theodor Schieder, hg. vom Bundesministerium für Vertriebene. 8 Bde., 1954-1963. Unveränderter Nachdruck (dtv) München 1984. – Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, hg. u.a. von Eugen Lemberg. Bd. 1-3, Kiel 1959. – Alfred M. de Zayas: Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. München 1977. – Heinz Nawratil: Vertreibungsverbrechen an Deutschen. München 1982. – Frank Grube/Gerhard Richter (Hg.): Flucht und Vertreibung. Deutschland zwischen 1944 und 1947. Hamburg 1980. – Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948, hg. von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1989. – Ernst Fredmann: Sie kamen übers Meer. Köln 1971. – Deutsche unterwegs, hg. von Hans-Ulrich Engel, München 1983. – Ders. (Hg.): 40 Jahre nach Flucht und Vertreibung. Düsseldorf 1985.
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Hans-Ulrich Engel