Ereignis vom 1. Januar 1797

Garlib Merkel: „Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts“. – zur Geschichte eines Buches

Garlib Merkel

Ohne Zweifel ist das Buch des vielzitierten livländischen Aufklärers Garlieb Merkel (1769 * 1850) mit dem Titel Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts, in Leipzig 1797 erschienen, für den baltischen Raum ein epochemachendes Werk gewesen. Es ist gleichsam ein Programm für die Emanzipation des lettischen Volkes und zugleich eine Anklage gegen die vielbenannte Leibeigenschaft auf den Gütern, d.h. es richtet sich vornehmlich gegen die Ritterschaften des Landes.

Das Buch war Gegenstand heftiger Diskussionen und gewann eine Bedeutung für die Geschichte der Letten, die sich in der Geschichtsschreibung und in der politischen Polemik bis in die jüngste Zeit niedergeschlagen hat. Es sollte eine historische Tour d’horizon durch die lettische Geschichte vermitteln, ist jedoch eher als Streitschrift denn als wissenschaftlich-historische Darstellung einzuordnen. Merkel versuchte seine Gegenwart mit Hilfe historischer Polemik zu erklären.

Zunächst ist bemerkenswert, daß Merkel dieses Buch dem Fürsten Repnin gewidmet hat, dem damaligen Generalgouverneur von Est- und Livland, dem Nachfolger des Grafen George Browne. Das ist insofern von Bedeutung, weil sich Merkel bei allem Angriff gegen die ständischen Strukturen, vor allem gegen die baltischen Ritterschaften, gegenüber der Zentralregierung in Russland selbst loyal bis zur Kritiklosigkeit zeigt. Auch gegenüber Katharina II. fehlt jede Kritik. Hervorzuheben ist, dass er eine Staatspension erhielt und annahm. Bei Merkel offenbarte sich eine Überschätzung der humanen Grundlage der russischen Zentralregierung; er war damit einem verhängnisvollen Irrtum verfallen.

Merkel erschien seinen konservativen Landsleuten als einer der radikalsten Vertreter der Aufklärung. Bei einem Vergleich zwischen dem zur selben Zeit lebenden russischen Kritiker  Radiščev und Merkel wird man daher die Unterschiede im Verhältnis zum Souverän zu suchen haben, und nicht in der Einstellung zur Leibeigenschaftsfrage. Radiščev wurde verbannt, da seine Kritik auch den Regierungsstil der Kaiserin traf. Merkel erfreute sich des Wohlwollens der Kaiserin, da er diese Auseinandersetzung vermied.

Sein Buch machte Merkel so bekannt, daß viele „Aufklärer“ an ihn herantraten. Am 8. September 1797 schrieb die bekannte kurländische Schriftstellerin Elisa von der Recke an ihn: „Seit Katharinas Milde mich vor Nahrungssorgen schützte und meiner Sorgfalt durch Pfalzgrafen das Glück von 508 Menschen anvertraute, seitdem beglückte der Gedanke mich, womöglich Katharinas Wohltat dadurch zu verdienen, daß ich es nun versuche, einen Gedanken durch Tat zur Reife kommen zu lassen, den mein Aufenthalt in Holstein durch des längst verstorbenen Ministers Bernstorffs schönes Beispiel so lebendig in meiner Seele gemacht hatte. Der Wohlstand der holsteinischen freien Bauern nährte die Hoffnung in mir, daß auf dem Wege, auf welchem Bernstorff einst wandelte, auch bei uns Freiheit der Bauern eingeführt werden könnte. Zu dieser Absicht kaufte ich mir ein kleines Gütchen, um dort mit dem Beifall meiner Wohltäterin den ersten Versuch zu wagen.“

Es gehörte zum Geist der Zeit, sich mit Agrarreformen zu befassen. So hatte der Aufklärer Eisen, ein estländischer Pastor, in den 1760er Jahren einen anklagenden Aufsatz über die Situation der Bauern in Liv- und Estland verfasst. Einen anderen Aufsatz, der weniger bekannt wurde, schrieb der russische Reichshistoriker Müller über die russische Bauernschaft, deren Lage er äußerst positiv und günstig beurteilte. Diese beiden Aufsätze veröffentlichte Müller dann im Auftrage Katharinas II. in der Sammlung Russische Geschichte, so dass der Eindruck erweckt wurde, als ob nur in Livland – im Gegensatz zu Innerrußland – die Lage der Bauern katastrophal gewesen wäre. Ein Nachdruck des Müllerschen Aufsatzes wurde 1782 in den Schlözerschen Staatsanzeigen verbreitet, d. h. in dem Organ, das im Westen Europas am mei-sten über russische Verhältnisse Auskunft gab. Die öffentliche Mei¬nung in Deutschland wurde damit manipuliert.

Bemerkenswert ist, dass Garlieb Merkel in seiner Schrift Die freien Letten und Esten auf die Schlözersche Anzeige von 1782 verweist und auch den zitierten Aufsatz Eisens erwähnt. Aber er scheint die Schlözersche Anzeige gar nicht gelesen zu haben, denn sonst hätte Merkel kaum der Auffassung sein können, dass auf Veranlassung von Katharina II. in der Sammlung Russische Geschichte ein Aufsatz über die Leibeigenschaft in Livland veröffentlicht worden sei, „in welchem alle Mißbräuche, zu denen sie führen kann, wahrscheinlich von dem berühmten Schlözer lebhaft geschildert wurden“. Eindeutig ist, wie Schlözer in seinem Bericht schreibt, dass Eisens erwähnter Aufsatz im Band 9 der Russischen Geschichte gedruckt worden war. Merkel wird wohl schon gar nicht den Eisenschen Widerruf in der Berliner Vossischen Zeitung im Jahre 1764 gelesen haben, der deutlich macht, dass es Eisen nicht so sehr um die Bloßstellung livländischer Verhältnisse ging, sondern um die Bekämpfung der Leibeigenschaft in Livland und in Russland. Merkel hingegen lenkte sein Hauptaugenmerk auf die Leibeigenschaft in den Ostseeprovinzen, und vielleicht ist auch er, der nie in Russland gereist war, der Propaganda Katharinas II. erlegen, „die schon mehr als ein Drittel dieses Jahrhunderts für Russlands Glück so wirksam wacht“ – so Merkel – und der der „enorme Missbrauch der erbherrlichen Gewalt in die Augen fiel, als sie im Jahre 1763 Livland durchreiste“ – so Merkel weiter. Im übrigen hat er sich hier in der Jahreszahl geirrt, denn Katharina reiste nicht im Jahre 1763 nach Liv- und Estland, sondern im Jahre 1764.

Interessant ist weiterhin, dass Merkel die Agrarfrage nur unter einem moralisch anklagenden Ansatz betrachtete und nicht unter sachlichen und wirtschaftlichen Aspekten. Aber neben ethischen waren es vor allem wirtschaftliche und politische Gründe, die etwa den Baron Schoultz-Ascheraden ebenfalls in den 1760er Jahren zu agrarreformerischen Maßnahmen veranlassten. Wie bei Katharina II. selbst werden wirtschaftliche Gesichtspunkte im Sinne des Physiokratismus wesentlich gewesen sein. Der estnische Historiker Zutis hebt dagegen besonders den politischen Grund hervor, der Schoultz-Ascheraden veranlasste, sein Bauernrecht herauszugeben und auf dem Landtag entsprechende Forderungen zu stellen. Merkel lobte Katharina II., aber auch Schoultz-Ascheraden für die Bemühungen in der Agrarfrage 1765. Das wirtschaftliche Motiv bei Schoultz erwähnt er allerdings nicht. Es heißt bei ihm: „Mit der Wärme, die nur großen Seelen eigen ist, schwang er sich über Eigennutz, Spott und Vorurteil hinweg und gab ein Beispiel“. Merkel war nicht bewusst, dass Schoultz „durch seine Reform die Einnahmen seiner Güter auf das Doppelte erhöhen konnte“. Auch übersah Merkel, dass sich Schoultz für die Interessen seines Standes aussprach, so zum Beispiel in einem Buch Versuch über die Geschichte von Livland und dessen Staatsrecht. Diese Schrift zeichnete Schoultz als einen konservativen Mann mit parlamentarisch-ständischer Seh-weise aus, der, wie er betonte, kein Anhänger des Absolutismus war.

Schoultz war Anhänger des Physiokratismus, der sich bei einer Bauernreform auch Vorteile für die Gutsbesitzer versprach. Er war ein nüchterner Pragmatiker und durchaus Reformen gegenüber offen. Somit war Schoultz für die Ideen des aufgeklärten Absolutismus aufgeschlossen, nur die Politik, die vor allem zum Ende des Jahrhunderts eine völlige Aufhebung der Leibeigenschaft zum Inhalt hatte, befürwortete er nicht.

Garlieb Merkel hat sich freilich unabhängig von seinen Irrtümern und Übertreibungen vehement für die Letten eingesetzt, die ihn nicht zu Unrecht als den Befürworter ihrer eigenständigen Entwicklung schätzten und schätzen. Deswegen spielt sein Werk ebenso wie seine Person bis heute in der lettischen Geschichtsschreibung eine große Rolle. Ohne Zweifel war Merkel eine bedeutende Persönlichkeit und ist aus der Aufklärungsgeschichte des baltischen Raumes nicht wegzudenken.

Lit.: Garlieb Merkel: Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Völker- und Menschenkunde, Leipzig 1797. – Freimütiges aus den Schriften Garlieb Mer¬kels, hrsg. v. Horst Adam, Berlin 1959. – Hubertus Neuschäffer: Der livländische Pastor und Kameralist Johann Georg Eisen von Schwar¬zenberg. Ein deutscher Vertreter der Aufklärung in Rußland zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Rußland und Deutschland, hrsg. v. U. Liszkowski, Stuttgart 1974, S. 120-143 (Kieler Hist. Studien, Bd. 22). – Jürgen Heeg: Garlieb Merkel als Kritiker der livländischen Ständegesellschaft. Zur politischen Publizistik der napoleonischen Zeit in den Ostseeprovinzen Rußlands, Frankfurt/M., Berlin … 1996.

Bild: Garlib Merkel / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Hubertus Neuschäffer