Ereignis vom 28. November 1498

Großes Landesprivileg für die Fürsten und Stände in Schlesien

König Matthias Corvinus

Die Anfänge der Landstände, also der Repräsentationen des Adels, der höheren Geistlichkeit und der Städte (Bürgertum), reichen in Schlesien an den Beginn des 14. Jahrhunderts zurück. Unterste Ebene ständischen Wirkens war das Weichbild, d.h. der Rechts- und Verwaltungsbezirk einer Stadt mit dem ihr zugeordneten Umland einschließlich der Dörfer. Etwa 50 solcher Weichbilder gab es in Schlesien, und jedes hatte seine eigene Verfassung mit Weichbildversammlung, Gericht und Kasse. Territorial war Schlesien in zahlreiche Fürstentümer zersplittert. Jedes einzelne Fürstentum setzte sich aus einer Anzahl von Weichbildern zusammen, die den jeweiligen Fürstentumslandtag beschickten. Auf diesen Landtagen trat man jedoch nicht nach Weichbildern, sondern nach Ständen gegliedert zusammen. So berieten hier Prälaten, Herren, Ritter und Städte über eigene Belange und solche des Fürstentums, wobei die Rechte und Landesgewohnheiten in jedem Territorium sehr verschieden waren. Im Vordergrund standen die eigenen, partikularen Interessen; zu ¬über-greifenden, gesamtschlesischen Beschlüssen kam es nur von Fall zu Fall, etwa bei Landfriedensbünden oder Einungen. Eine zentrale Instanz, das „ampt der houptmannschaft obir alle fursten in der Slesie und lande“, wurde erstmals 1422 zur Abwehr der Hussiten geschaffen, allerdings nur für einen beschränkten Zeitraum.

Ansätze zu einer frühneuzeitlichen Ständeverfassung existierten also bereits, als der ungarische König Matthias Corvinus 1469 die Herrschaft auch in Böhmen und Schlesien antrat. Er war es, der die vorhandenen Strukturen in landesherrlich-monarchischem Sinn ausformte und auf der Ebene des Gesamtstaates Schlesien vervollständigte. So wurden die bisher nur freiwillig und gelegentlich zusammentretenden Stände von ihm vereinigt und ab 1474 mindestens einmal jährlich zu sogenannten Fürstentagen nach Breslau einberufen. In jeweils eigenen Kurien befassten sich die Fürsten, die Ritter und die Städte – die Prälaten waren im Fürstentag nicht als Kurie vertreten – mit den politischen Fragen des Landes und solchen der Landesverwaltung, des Landfriedens, der Mannschaftsstellung in Kriegszeiten, des Münzwesens und der Bewilligung von Steuern für den König, letzteres eine bisher unbekannte königliche Forderung. Untersagt wurde den Ständen eine eigenmächtige Kriegführung und der Befestigungsbau. Als seinen ständigen Bevollmächtigten setzte der König ab 1474 einen Oberlandeshauptmann ein, dem weitere Beamte zur Seite standen. Ab 1481 teilten sich je ein Hauptmann für Nieder- und Oberschlesien die Landesverwaltung. Der so erreichte Ausbau der königlichen Macht, der zugleich zu einer staatlichen und administrativen Verdichtung führte, erfolgte insgesamt auf Kosten der Souveränität der Fürsten und Stände.

Mit dem Tod von König Matthias 1490 brach auch die corvinische Herrschaft zusammen. Nachfolger wurde sein alter Rivale Wladislaus aus dem polnischen Königshaus der Jagiellonen, der sich jedoch als schwacher, inaktiver und an Schlesien desinteressierter Herrscher erwies. Fürsten und Stände nutzten in den folgenden Jahren diese Gegebenheiten, um den königlichen Einfluß auf Verfassung und Verwaltung zurückzudrängen und ihre eigene Position zu stärken. Seinen schriftlichen Niederschlag fand dies in einer entsprechenden Urkunde – dem Großen Landesprivileg Schlesiens vom 28. November 1498.

In dem vom amtierenden Oberlandeshauptmann Herzog Kasimir II. von Teschen von König Wladislaus II. erlangten Großen Landesprivileg, auch „Privilegium Wladislai“ genannt, wur¬den zum einen alte Freiheiten bestätigt, zum anderen neue Rechte verliehen. Die ersten Bestimmungen betrafen die Landesverfassung. Zunächst wurden den Fürsten und Ständen alle ihre Freiheiten, Briefe, Privilegien, Begnadigungen, Gerechtigkeiten, Schenkungen und althergebrachten Gewohnheiten in summa bestätigt und bekräftigt. Sodann gestand der König den Ständen zu, den Oberlandeshauptmann fortan nur noch aus dem Kreis der schlesischen Fürsten zu bestimmen. Damit wurde einerseits die bestehende Landesverfassung festgeschrieben, andererseits der Charakter des Amtes des Oberlandeshauptmanns geändert: Er war nun nicht mehr ausschließlich Beamter des Königs, sondern zugleich Repräsentant der Stände.

Mit den folgenden Bestimmungen wurde der Fürstentag als höchste juristische Instanz des Landes etabliert. Der Oberlandeshauptmann und die Fürsten mit ihren Räten sollten zweimal im Jahr im königlichen Hof in Breslau zu Gerichtstagen zusammentreten, um über Rechtsstreitigkeiten jeder Art zwischen dem König und den Fürsten sowie zwischen den Fürsten selbst zu entscheiden. Die Ladung hatte schriftlich durch den Oberlandeshauptmann zu erfolgen. Ein weiterer Gerichtstag wurde für Streitigkeiten zwischen den Fürsten und den Standesherren angesetzt. Die ergangenen Sprüche waren rechtsverbindlich. Der Fürstentag sollte zudem Fällen von Rechtsverweigerung und -verschleppung nachgehen und gegebenenfalls selbst zur Entscheidung führen. Für die Oberschlesier wurde schließlich ein eigener, jährlicher Gerichtstag in einer vom Oberlandeshauptmann zu bestimmenden Stadt in diesem Landesteil festgelegt. Eingerichtet worden war somit ein oberstes Landesgericht, und zwar als ständische und nicht als königliche Institution. Im Laufe der weiteren Verfassungsentwicklung verselbständigte sich dann das Landesgericht, das als „Ober- oder Fürstenrecht“ bezeichnet wurde.

Den Abschluß des Privilegs bildeten verschiedene Einzelbestimmungen. So bestätigte der König, daß die Schlesier zu Kriegsdiensten außerhalb ihres Landes nur gegen Soldzahlung und Schadensersatz verpflichtet seien. Als Ort der Huldigung der schlesischen Stände gegenüber dem böhmischen König wurde Breslau festgelegt, ausgenommen die Stände der Fürstentümer Schweidnitz und Jauer, die bei ihren Privilegien bleiben sollten. Die Ständebeschlüsse wurden für allgemeinverbindlich erklärt; der Oberlandeshauptmann war berechtigt, ihre Durchführung zu erzwingen. Die alten Zölle sollten bestehen bleiben, neue nur mit allgemeiner Zustimmung der Stände errichtet werden. Ferner versicherte der König, keine neuen Steuern zu verlangen außer solchen, denen sich die Stände von Rechts wegen nicht zu widersetzen hätten. Insbesondere diese letzte Bestimmung war von Bedeutung, wurde doch die prinzipielle Steuerfreiheit der Stände bestätigt beziehungsweise den Ständen ein konditioniertes Steuerbewilligungsrecht zuerkannt. Gerade dieses Recht sollte allgemein zum wichtigsten Mittel ständischer Politik werden.

Das Große Landesprivileg hatte den Charakter der schlesischen Ständeverfassung grundlegend verändert. Zur Zeit von König Matthias Corvinus war sie ein Instrument der königlichen Zentralgewalt gewesen, nun war sie zu einem Machtmittel der schlesischen Fürsten und Stände gegenüber dem König geworden. Hierin lag die große Bedeutung dieses Privilegs für die Stände, die in ihm eine Art „Magna Charta“ (Heinrich Wuttke) erblickten, jedenfalls ein Fundamentalgesetz der zukünftigen ständischen Verfassung. Der damit begründete ständisch-monarchische Dualismus ist trotz einiger Korrekturen zugunsten der Zentralmacht bis zum Ende der Habsburgerzeit in Schlesien 1740 prinzipiell nicht mehr in Frage gestellt worden. Erst der preußische König Friedrich der Große setzte sich als Eroberer Schlesiens über die althergebrachten Rechte der Stände, über ihre Teilhabe an der Herrschaft hinweg.

Quelle: Colmar Grünhagen und Hermann Markgraf (Hrsg.): Lehns- und Besitzurkunden Schlesiens und seiner einzelnen Fürstenthümer im Mittelalter. (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven. Bd. 7) Erster Theil. Leipzig 1881, Nachdruck Osnabrück 1965, S. 49-53 (Nr. 29).

Lit.: Heinrich Wuttke: Die Entwicklung der öffentlichen Verhältnisse Schlesiens vornämlich unter den Habsburgern. Bd. 1, Leipzig 1842, S. 67. – Felix Rachfahl: Die Organisation der Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens vor dem dreißigjährigen Kriege. (Staats- und socialwissenschaft¬liche Forschungen. Bd. 13/1), Leipzig 1894, S. 82-199, besonders S. 138f., 441-443. – Kazimierz Orzechowski: Ogólnośląskie zgromadzenia stanowe. [Gesamtschlesische Ständeversammlungen], Warszawa 1979. – Norbert Conrads: Die schlesische Ständeverfassung im Umbruch – Vom altständischen Herzogtum zur preußischen Provinz, in: Peter Baumgart (Hrsg.): Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg – Preußen. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin. Bd. 55), Berlin, New York 1983, S. 335-364. – Geschichte Schlesiens. Hrsg. von der Historischen Kommission für Schlesien. Bd. 1. Sigmaringen 51998, S. 228f., 285-288. – Norbert Conrads (Hrsg.): Schlesien. (Deutsche Geschichte im Osten Europas) Berlin 1994, S. 188-193. – Winfried Irgang, Werner Bein und Helmut Neubach: Schlesien. Geschichte, Kultur und Wissenschaft. (Historische Landeskunde. – Deutsche Geschichte im Osten. Bd. 4), Köln 1995, S. 54f. – Joachim Bahlcke (Hrsg.): Schlesien und die Schlesier. (Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat. Bd. 7), München 1996, S. 40-42.

Bild:  König Matthias Corvinus / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Ulrich Schmilewski