Ereignis vom 13. Januar 1946

Gründung der Ackermann-Gemeinde

Vor 75 Jahren, am 13. Januar 1946, dem Jahrestag der Marienerscheinung von Philippsdorf, wurde in München die Ackermann-Gemeinde als Gemeinschaft von Katholikinnen und Katholiken aus Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien gegründet. Motor und geistiger Inspirator war P. Paulus Sladek OESA, von 1946 bis 1980 Geistlicher Beirat.

 

Neues zu gestalten war Sladek motiviert durch die Fragen, Nöte, Anliegen der jeweiligen Zeit. Angesichts der wachsenden Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen sah er die Seelsorge an dieser Gruppe als eine drängende Aufgabe der Kirche, die er nicht nur bei den Amtsträgern verortet wissen wollte. Die Stichworte „Vertreibung“ – „Schuld“ – „Prüfung Gottes“ markierten den Pro­blemzusammenhang, der Sladek bewegte. In diesem Interpretationskontext müsse jeder auch seine persönliche Schuld bekennen, auch den Anteil an der Gesamtschuld des Volkes, und jeder müsse bereit sein, das Schicksal als Sühne für eigene und für fremde Sünden zu akzeptieren. Diese grundlegende Einsicht müsse gerade angesichts des Verlustes von Eigentum, Existenz und Heimat möglich sein, da dieser radikale existentielle Schnitt die Erkenntnis wecke, dass das frühere Leben nicht bewusst genug war, dass es zu stark abgrenzend war. Entsprechend der außergewöhnlichen Situation müssten außergewöhnliche Mittel eingesetzt werden. Sladek forderte das besondere apostolische Engagement der Laien, wozu sie kraft Taufe und Firmung befähigt und besonders in der Diaspora verpflichtet seien, sie sollten Sauerteig werden, Multiplikatoren. Das Engagement sollte sich auf das kirchliche Leben und zugleich auf die alltäglichen Sorgen und Nöte der Vertriebenen erstrecken.

Zwei organisatorische Initiativen, durch die Sladek seine Anliegen effektiv zu realisieren suchte, sind die kirchliche Hilfsstelle Süd und spezifisch für die deutschen Katholiken aus Böhmen und Mähren die an die Hilfsstelle angegliederte Ackermann-Gemeinde. Sie entwickelte sich zu einem wichtigen Vehikel der Ideen und Initiativen in die sudetendeutsche Volksgruppe hinein, zu einem wichtigen Medium der Betreuungsarbeit Sladeks. Das Ideal des Laienapostolats sollte durch die Errichtung einer kirchlich approbierten Bruderschaft realisiert werden, und zwar überall dort, wo sich eine größere Anzahl von Flüchtlingen befindet – die kirchliche Approbation strebte er deswegen an, damit die Bruderschaft ohne größere Unterstützung durch die Ortsseelsorge religiös tätig werden kann. Die Bruderschaft sollte kollegial von einem Rat von drei oder vier Männern und Frauen geleitet werden. Sie sollte sich regelmäßig treffen und Andachten abhalten. Ähnlich wie er sich die sudetendeutsche Jugendbewegung als Sauerteig für den völkischen Aufbruch, ja für das gesamte Sudetendeutschtum gedacht hatte, bestimmte Sladek diese Bruderschaft als eine Kernschar bei der seelsorgerlichen Einflussnahme auf alle übrigen Flüchtlinge. Die Sammelbewegung Bruderschaft sollte in regional gegliederte Apostolate ausdifferenziert werden – die Intentionen waren ein vorbildliches christliches Leben, ein geduldiges Ertragen des Flüchtlingsschicksals im Geist der Sühne und der Armut und der Kampf gegen Hass und Rachegedanken.

Der Gründerkern der kirchlichen Hilfsstelle Süd in München, Paulus Sladek, Hans Schütz und Richard Mai, bildete weitgehend auch den Initiativkreis für die Ackermann-Gemeinde, nämlich Paulus Sladek, Hans Schütz und Franz Haibach. Haibach war bis 1938 der letzte Zentralpräses der katholischen Gesellenvereine gewesen. Seit 1945 war er mit der Geschäftsführung des katholischen Jugendfürsorgeverbandes der Erzdiözese München und Freising betraut. Als Leiter der Adelgundenanstalt, eines Mädchenheimes in der Pöppelstrasse in München, bot Haibach den Raum für die gemeinsamen Treffen mit Pater Paulus Sladek und Hans Schütz und weiteren Freunden, dem „Haibach-Kreis“. Weil eine reine Flüchtlingsorganisation von der Militärregierung verboten war und weil die Ausgewiesenen in das einheimische, kirchliche, kulturelle und wirtschaftliche Leben eingegliedert werden sollten, nahm er das Angebot der „Katholischen Jungen Mannschaft“ in München unter der Leitung von Franz Steber an, aus dieser Organisation einen eigenen Kreis zu bilden, nämlich die Ackermann-Gemeinde, Männer und Frauen im Alter von 25 bis 40 Jahren, sozial tätige Kräfte im Katholizismus sollten dort erfasst werden, möglichst die Mitglieder aller früheren katholischen Gruppen der Heimat. Die Ackermann-Gemeinde wurde so zu einer typischen Laiengruppe der Actio catholica. Freunde aus allen früheren Gruppen der katholischen Jugend des Sudetenlandes wurden zu dieser neuen Gemeinschaft zusammengerufen unter dem Namen der bedeutendsten spätmittelalterlichen Dichtung des böhmischen Raumes, dem Ackermann von Böhmen. Johannes von Schüttwa, auch Johannes von Saaz genannt, hatte um 1400 den Ackermann aus Böhmen ein Streitgespräch zwischen dem Ackermann, dem der Tod seine Frau geraubt hat und eben diesem Tod verfasst. Der Ackermann lehnt sich auf gegen das Schicksal, gegen den Tod, unterwirft sich aber schließlich doch dem Schiedsspruch Gottes. Genau diese Haltung sieht Sladek als beispielhaft für die Situation der Vertriebenen. Sie sollten nicht unfruchtbar, nur retrospektiv in der Erinnerung an die Heimat leben, sondern ihre besten Kräfte dafür einsetzen, eine neue Heimat aufzubauen. In der Schicksalsgemeinschaft müsste diese Wende, so Sladek, leichter möglich sein. Freilich sollten sich die Vertriebenen dabei nicht ghettoisieren, sondern sich mitten in die katholische Generation des Aufnahmelandes hineinstellen, „um uns gemeinsam mit ihnen um ein neues christliches Deutschland und um eine Erneuerung des Abendlandes zu bemühen.“ (Ohlbaum, Not ist Anruf Gottes, 199).

Entsprechend ihrer Aufgabe als „Sauerteig“ war eine besondere Erziehungs- und Bildungsarbeit für die Mitglieder der Ackermann-Gemeinde notwendig. Der Appell an die Mitglieder der Ackermann-Gemeinde in einem Vortrag zum Thema „Vertriebenenschicksal als unsere Aufgabe“ auf einer Ackermann-Tagung am 19./20. November 1949 in Fürstenried lautete, Träger einer neuen sozialen Ordnung im christlichen Sinn zu werden. Gemäß seiner Deutung der Vertreibung als einer von Gott gestellten Aufgabe sei die bewusste Bejahung des erzwungenen anspruchslosen und bescheidenen Lebens nötig. Die Vertriebenen der Ackermann-Gemeinde sollten „Fahnenträger in diesem neuen Zusammenleben der Völker“ sein. Was auf beiden Seiten an krimineller Beziehung laste, müsse in christlichem Sinn überwunden werden. Nicht ein gegenseitiges Aufrechnen der Verluste, sondern die Ehrfurcht vor jedem einzelnen Menschen, gleich welcher Rasse, müsse der Orientierungspunkt sein. Die Heimatvertriebenen dürften sich nicht zum Opfer des Hasses machen, sondern müssten Märtyrer der Zukunft werden.

Diese Grundansichten sind in die Leitsätze der Ackermann-Gemeinde zur Meisterung des Flüchtlingsschicksals von 1949/50 eingegangen. Die Leitsätze waren nicht nur für den internen Adressatenkreis bestimmt, sondern an die gesamte Gesellschaft gerichtet. Deren zentrale Aufgabe war die Überwindung des Flüchtlingselends in Deutschland. Zehn Leitsätze wurden aufgestellt, die zunächst grundsätzlich das Recht der Vertriebenen auf ihre Heimat dokumentieren. Sladek formulierte die Utopie, dass sie als freie Menschen in ihre Heimat zurückkehren werden, was freilich nur dann möglich sein werde, wenn die Völker Europas die nationalen und sozialen Gegensätze in einer höheren Ordnung des Humanen, Sittlichen und Christlichen lösen könnten. Die Vertriebenen dürften dabei nicht Sprengstoff, sondern müss­ten Baustein sein. Die Vertriebenen sollten sich integrieren, mit dem Lastenausgleich sollte eine neue, gerechtere Sozialordnung herbeigeführt werden.

Auf dem Weltanschauungskampf – und damit in militärischen Bildern und Sprachduktus der beginnenden 50er Jahre – wurden diese Leitsätze auf der Jahrestagung 1950 appliziert: Hans Schütz, der erste langjährige Vorsitzende der Ackermanngemeinde, forderte dort von den Mitgliedern der Ackermann-Gemeinde, ein Elitebataillon im Weltbürgerkrieg zu sein, in dem Ringen um die Erneuerung der Welt, das zwischen den beiden Polen – christlicher Glaube hie und kommunistischer Fanatismus dort – sich abspielt. Die Tonlage des Kalten Krieges dominierte. Die Ackermann-Gemeinde wurde insofern als Vorhut gesehen, als sie nicht in der Negation stecken bleibe, sondern mit einem klaren und umfassenden Konzept in die Zukunft weise.

Der Appell stand unter dem Stichwort „Offensiv arbeiten“ – dafür brauchte man an erster Stelle die Jugend. Die heimatvertriebene Jugend solle zunehmend in die Ackermann-Gemeinde integriert werden; dort werde sie in ihrem Hunger nach Zielen und großen Ideen gestillt.

Der Jugendverband der Gemeinde ist die 1950 gegründete Junge Aktion, die über die Aktion West-Ost im BDKJ vertreten ist. In der Jungen Aktion ging 2000 auch die 1948 gegründete Studentenorganisation Hochschulring der Ackermann-Gemeinde, die der Arbeitsgemeinschaft katholischer Studentenverbände (AGV) und der Vereinigung Heimatvertriebener Deutscher Studenten (VHDS) angehörte. Die Junge Aktion veranstaltet zahlreiche Reisen für junge Menschen, um die interkulturelle Kommunikation zwischen jungen Deutschen, Slowaken und Tschechen auszubauen. Dies geschah und geschieht unter anderem durch Sprachkurse, aber auch durch Begegnungsfeste, bei denen sich die jungen Menschen näher kennenlernen. Seit einigen Jahren beschäftigt sowohl die Ackermann-Gemeinde, als auch die Partnerorganisation die Sdruženi Ackermann-Gemeinde in Prag, Freiwillige, die dort einen Europäischen Freiwilligendienst ausüben.

Eine weitere Aufgabenverlagerung für die Ackermann-Gemeinde deutete sich im Anruf zum neuen Jahr 1964 an. Die Vertriebenen dürften nicht länger retrospektiv mit Protestanklage, Forderung und oberflächlichem Heimweh das Bild bestimmen. Heimatliches Kulturerbe lasse sich nicht mit Kirchweihfeiern pflegen. Den Schwerpunkt setzte Sladek nun auf den Einsatz für ein freiheitliches Europa. Dieser Ordnungsrahmen allein schien noch ein Auffangbecken für die divergierenden Wünsche der Heimatvertriebenen zu sein – diese Aufgabe sah er als zukunftsgerichtet.

Die Aufgaben der jeweiligen Gegenwart, die Situation in der eigenen Gruppe, bei den Vertriebenen, in Gesellschaft und Kirche, in Wirtschaft und Politik und international wurde auf Tagungen, in Publikationsreihen, und seit 1949 auch in einem periodisch erscheinenden Mitteilungsblatt der Ackermann-Gemeinde reflektiert.

Die AG wurde eine Selbsthilfegruppe, die je nach Alter und Aufgabenbereich zahlreiche Untergruppierungen integrierte, die Freizeit gestaltete, Gemeinschaft ermöglichte, sich auf viele unterschiedliche Weisen kulturell engagierte, politische Ideen entwickelte und die soziale und politische Lage zu verbessern suchte.

Lit.: Rudolf Ohlbaum (Hrsg), Paulus Sladek, Not ist Anruf Gottes. Aus Veröffentlichungen, Rundschreiben, Predigten und Briefen. Doku­mente zur Geschichte der Vertriebenenseelsorge, München, König­stein/ Taunus 1991. – Bernhard Joachim Piegsa, Die „Ackermann-Gemeinde“ in Bayern, Magisterarbeit an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth 1995, 103 Seiten MS. – Matthias Richter, Die Selbstdarstellung der Ackermann-Gemeinde in ihren Publikationen unter Berücksichtigung ihrer Entstehung und historischen Entwicklung. Magisterarbeit Universität München 1986, 104 Seiten MS. – 75 Jahre Seelsorge für die deutschen Katholiken aus der Tschechoslowakei, Münster 2021.Rainer Bendel, Aufbruch aus dem Glauben? Katholikinnen und Katholiken in den gesellschaftlichen Transformationen der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Innovatorische Potentiale aus Flucht und Vertreibung?, Köln-Weimar-Wien 2003 (= Forschungen und Quellen zur ostdeutschen Kirchen- und Kulturgeschichte 34), S. 95-112. – Georg Jäschke, Wegbereiter der deutsch-polnisch-tschechischen Versöhnung? Die katholische Vertriebenenjugend 1946-1990 in der Bundesrepublik Deutschland, Münster 2017. –Sabine Voßkamp, Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945-1972, Stuttgart 2007.  – Rainer Bendel, 75 Jahre Seelsorge für die deutschen Katholiken in der Tschechoslowakei, Münster 2021.

Bild: P. Dr. Paulus Sladek mit jungen Mitgliedern der Ackermann-Gemeinde, Ackermann-Gemeinde.

Rainer Bendel