Ereignis vom 1. Januar 1920

Gründung der Freien Stadt Danzig

Freie Stadt Danzig

Die günstig nahe der Weichselmündung liegende Stadt Danzig (heute: Gdańsk) hat innerhalb des west- und ostpreußischen Territoriums stets eine besondere Rolle gespielt. 1225 als deutschrechtliche Stadt gegründet, war sie bereits 1271/72 und 1308 Hauptzielscheibe in den Konflikten pommerellischer Herrscher mit fremden Mächten. Im Krieg des preußischen Bundes und des polnischen Königs gegen den Deutschen Orden 1454 bis 1466 bildete Danzig das finanzielle, teilweise auch militärische Rückgrat des Kampfes gegen den Orden. Im polnischen Erbfolgekrieg 1733/34 stellte es den Hauptkampfplatz dar, mit dessen Eroberung nach einer schweren sächsisch-russischen Belagerung der sächsische Kurfürst die polnische Königskrone – als August III. – gewann, und blieb bei der ersten polnischen Tei­lung 1772 noch zusammen mit Thorn (heute: Toruń) dem Polenkönig untertan. Erst 1793, bei der zweiten Teilung, kam Danzig zu Preußen, um schon 1807 im Tilsiter Frieden ein erstes Mal zur Freien Stadt erklärt zu werden, was es bis 1814 blieb, ohne dass es diesen Namen zu Recht trug, weil faktisch der französische Gouverneur die Stadt politisch beherrschte und finanziell aussog.

Am Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Stadt Danzig erneut Gegenstand des Ringens der an ihr interessierten Mächte. Der weitaus größte Teil der Bevölkerung Danzigs wünschte den Verbleib beim Deutschen Reich, wie sie es in zwei Kundgebungen mit annähernd 100.000 Teilnehmern auf dem Danziger Heumarkt zum Ausdruck brachte. Der wiederentstehende polnische Staat war indes brennend an der Einbeziehung Danzigs in das neue Polen interessiert und erhielt dabei die volle Unterstützung Frankreichs. Mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit Danzigs zu Polen 1466 bis 1793 – es war bei weitgehender Autonomie dem polnischen König untertan – und darauf, dass der polnische Staat eines sicheren und freien Zugangs zum Meer bedürfe, forderten polnische Diplomaten daher die Abtrennung Danzigs von Deutschland und seine Eingliederung in Polen. Der amerikanische Präsident Wilson, der sich in seinen 14 Punkten für die Gewährleistung eines freien, gesicherten Zugangs Polens zum Meer ausgesprochen hatte, dachte ursprünglich dabei jedoch keineswegs an eine Abtretung Danzigs an Polen, sondern an eine Neutralisierung der Weichsel und an einen Freihafen für Polen in Danzig. Als er sich unter dem Einfluss zweier amerikanischer Professoren (Lord, Bowman) dann doch der Erfüllung polnischer Wünsche näherte, widersetzte sich diesen Plänen energisch der britische Premierminister Lloyd George, der gemäß den alten Handelsverbindungen zwischen England und Danzig seit dem Mittelalter sich für Danzigs Selbständigkeit einsetzte und die Errichtung eines Freistaates vorschlug. Schließlich kehrte sich auch Wilson von dem polnisch-französischen Plan ab und trat dem Vorschlag Englands bei. Als dann der französische Premier Clemenceau am 3. April 1919 die Unterstützung der polnischen Forderung ebenfalls aufgab und sich der englisch-amerikanischen Haltung anschloss war damit die Entscheidung für die Errichtung einer zweiten Freien Stadt Danzig gefallen.

Bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen für den neuen Freistaat wirkten Amerikaner und Engländer in einem Sachverständigenausschuss zusammen, der ein Danzig-Statut erarbeitete, das seinen Niederschlag in den Artikeln 100–108 des Versailler Friedensvertrages fand. Gegenüber dem deutschen Protest gegen den beabsichtigten „Freistaat unter polnischer Souveränität“ – angesichts der geplanten weitgehenden Rechte Polens in Danzig und wegen der „krassesten Nichtachtung des Selbstbestimmungsrechts“ – erklärte Clemenceau am 16. Juni 1919: „Die Stadt wird die Verfassung einer Freien Stadt erhalten. Ihre Einwohner werden autonom sein, sie werden nicht unter die Herrschaft Polens gelangen und keinen Teil des polnischen Staates bilden. Polen wird nur gewisse wirtschaftliche Rechte in Danzig erhalten“. Voll realisiert wurden diese Worte freilich nicht.

In den Artikeln 100–108 verfügte der am 28. Juni 1919 unterzeichnete Friedensvertrag von Versailles die Bildung der Freien Stadt Danzig in genau bezeichneten Grenzen. Artikel 104 sprach die Verpflichtung der alliierten und assoziierten Mächte aus, „ein Übereinkommen zwischen der polnischen Regierung und der Freien Stadt Danzig zu vermitteln, das mit der Begründung der Freien Stadt in Kraft treten … soll“. Dieses Abkommen sollte insbesondere behandeln: die Aufnahme der Freien Stadt in das polnische Zollgebiet, die Gewährleistung der freien Benutzung aller Wasserstraßen durch Polen, die Übertragung der Überwachung und Verwaltung der Weichsel und aller Eisenbahnen im Gebiet der Freien Stadt Danzig auf Polen, die Übergabe der Leitung der auswärtigen Angelegenheiten der Freien Stadt Danzig an Polen.

Als am 10. Januar 1920 der Versailler Vertrag in Kraft trat, war damit nach etwa 120-jähriger preußischer Herrschaft Danzig aus dem Verband Preußens und zugleich des Deutschen Reiches ausgeschieden – gegen den sichtbar gewordenen Willen der Danziger Bevölkerung. Da die Freie Stadt jedoch erst nach dem Abschluß des Übereinkommens mit Polen ins Leben gerufen werden sollte, blieb Danzig vorerst ab dem 10. Januar 1920 ein völkerrechtlich amorphes Gebilde, das die alliierten und assoziierten Mächte ihrerseits verwalteten. Sie setzten dazu den englischen Diplomaten Sir Reginald Tower ein, der aus Vertretern der Parteien und vorhandenen Beamten einen Staatsrat berief, der zu seinem Vorsitzenden den erst am 2. Februar  1919 zum Bürgermeister Danzigs gewählten Heinrich Sahm bestimmte. Die aus Wahlen hervorgegangene verfassunggebende Versammlung erarbeitete bis zum 11. August 1919 eine Verfassung, die sich an die Weimarer Reichsverfassung anlehnte, in Fragen der Verwaltung aber nach der neuen Lübecker Stadtverfassung richtete. Da sie vom Völkerbund genehmigt werden musste, trat sie erst 1922 in Kraft.

Das Haupt­problem wurde das zwischen Danzig und Polen abzuschließende Übereinkommen. Sehr rasch wurden polnische Bestrebungen sichtbar, der Freien Stadt „jeden Staatscharakter zu nehmen und sie zu einem mit einer Kulturautonomie ausgestatteten Teilgebiet des polnischen Staats- und Wirtschaftskörpers zu machen“. Außer einer polnischen Post sollte in Danzig auch die polnische Währung eingeführt werden. Ein „Resident“ sollte Polens oberhoheitliche Rechte wahrnehmen, welcher der „friedlichen Durchdringung“ Danzigs durch Polen den Weg ebnen sollte. Konnten in diesen Punkten die weitgehenden polnischen Tendenzen großenteils abgewehrt werden – eine polnische Post wurde nur für das Hafengebiet konzediert – so prallten die unterschiedlichen Auffassungen vor allem in der Frage der Verwaltung des Hafens aufeinander. Polen beanspruchte sie vollständig für sich und lehnte den schon von Lord Derby auf der Botschafterkonferenz vorgebrachten Gedanken einer gemeinsamen Verwaltung des Hafens durch Polen und Danzig ab. Auch nach dem Beschluss des Obersten Rates der Alliierten für die Bildung eines Hafenausschusses billigten die Polen in ihrem Entwurf vom 20. September 1920 diesem Ausschuss nur eine beratende Stimme zu und erklärten weiter die Verwaltung des Hafens zu einer ausschließlich polnischen Angelegenheit. Als die Danziger Delegation am 8. Oktober 1920 ihren eigenen Entwurf in Paris vorgelegt hatte, ließ die Botschafterkonferenz einen Vermittlungsentwurf erarbeiten, der einen paritätisch besetzten polnisch-danziger Hafenausschuss vorsah und statt eines polnischen „Residenten“ nur einen „diplomatischen Vertreter der Republik Polen“ in Danzig zuließ. Nach der Berücksichtigung einiger von Danzig gewünschter Änderungen forderte die Botschafterkonferenz beide Parteien zur Unterzeichnung ihres als „unabänderlich“ erklärten Entwurfs auf, wozu sich am 5. November 1920 nur die Danziger bereitfanden, die Polen erst nach der Proklamation des Freistaates am 18. November 1920. Damit dieser „Pariser Konvention“ vom 5. November 1920 zugleich die Urkunde über die Errichtung der Freien Stadt Danzig unterzeichnet wurde, konnte am 15. November 1920 dieser Freistaat konstituiert werden und am 17. November 1920 der Völkerbund erklären, dass er den Schutz der Freien Stadt Danzig übernommen habe. War so Danzig unter das Protektorat des Völkerbundes getreten, so bestellte dieser als seinen Vertreter einen Hohen Kommissar in der Stadt, der jeweils nur für eine Amtszeit von drei Jahren berufen wurde – nach englisch-französischer Übereinkunft waren das zunächst nur Briten, später folgten auch Italiener und Schweizer.

Die Bestimmungen des Versailler Vertrages, der Pariser Konvention und künftige Entscheidungen des Hohen Kommissars in Danzig boten auch in den nachfolgenden Jahren hinreichenden Anlass zu verschiedenen Interpretationen der staats- und völkerrechtlichen Lage Danzigs als Freie Stadt. Während von polnischer Seite die staatliche Souveränität Danzigs bestritten wurde – der Freistaat sei ein „administratives Protektorat der Republik Polen“, „die Souveränität des polnischen Staates erstreckte sich auch über das Territorium der Freien Stadt Danzig“ (Julian Makowski) – erklärte der Hohe Kommissar MacDonell am 7. November 1924, „Danzig ist ein Staat im internationalen Sinn und hat ein Recht darauf, dass Begriffe, die diese Eigenschaft bezeichnen, verwendet werden“, hoben der Schweizer Völkerrechtler Paul Guggenheim und Danziger Staatsrechtler wie Otto Loening die volle politische Selbständigkeit des Freistaates hervor. Ohne Zweifel war dennoch diese Souveränität durch die bedeutenden Rechte Polens in Danzig eingeschränkt. Die Frei Stadt Danzig bildete nur einen aus gegensätzlichen Intentionen mühsam hergestellten Kompromiss, der letztlich die polnische Seite begünstigte, da Danzig in das polnische Zollgebiet einverleibt und polnischer Zollgesetzgebung unterstellt wurde, außerdem die gesamten Eisenbahnen Danzigs Polen zur Verwaltung übergeben worden waren. Danzig-polnische Konflikte waren durch die genannten Verträge vorprogrammiert, nur im Hafenausschuss waren beide Seiten zur Zusammenarbeit gezwungen.

Nachdem am 6. Dezember 1920 die erste Danziger Regierung gewählt worden war, hatte sich die exekutive Gewalt der Freien Stadt Danzig konstituiert, an deren Spitze als Senatspräsident der parteilose Heinrich Sahm trat. Bis Ende 1930 sollte er in diesem Amt bleiben und der Stadt dabei große Dienste für ihre gedeihliche Entwicklung leisten, auch wenn das Experiment einer Freien Stadt Danzig auf Dauer nicht gelingen konnte: aufgrund ihrer Struktur und weil sie bald zum Spielball der Politik der Großmächte wurde, vor allem Deutschlands und Polens, in deren Beziehungen Danzig ein wichtiges, wenn auch nicht ausschlaggebendes Element darstellte. Am 1. September 1939 fand die Freie Stadt Danzig beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ihr faktisches Ende.

Lit.: Walter Recke: Das internationale Statut der Freien Stadt Danzig. Göttingen 1952. – Wolfgang Ramonat: Der Völkerbund und die Freie Stadt Danzig 1920-1934. Osnabrück 1979. – Hans Viktor Böttcher: Die völkerrechtliche Lage der Freien Stadt Danzig seit 1945. Göttin­gen 1958. – Rüdiger Ruhnau: Die Freie Stadt Danzig 1919-1939. Berg am See 1979. – Stanis³aw Mikos: Wolne Miasto Gdañsk a Liga Narodów 1920. Gdañsk 1979. – Henryk Stêpniak: Rada portu i dróg wod­nych w Wolnym Mieœcie Gdañsku. Gdañsk 1971. – Ders.: Ludnoœæ polska w Wolnym Mieœcie Gdañsku 1920-1939. Gdañsk 1991.

Bild: Freie Stadt Danzig/ Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Heinz Lingenberg