Gewiß könnte man rückblickend dem preußischen Kultusministerium den Vorwurf machen, es habe in seiner Hochschulpolitik den Osten vernachlässigt. Denn alle Provinzen besaßen am Ende des 19. Jahrhunderts eine Universität, nur Westpreußen und Posen nicht – Westfalen in Münster zwar vorerst lediglich eine Akademie, aber seit 1902 auch eine Universität. Als Danzig im Jahre 1904 eine Technische Hochschule erhielt, blieb nur Posen als einzige „hochschulfreie“ Provinz übrig.
Dabei reichen die Bemühungen um die Errichtung einer Universität bis in das 16. Jahrhundert zurück. Immer wieder wurde der Gedanke aufgegriffen, aber auch bald wieder fallen gelassen. Daß Bedarf bestand, beweist die Tatsache, daß im Dreieck Krakau (gegründet 1364), Frankfurt/ Oder (1506) und Königsberg (1544) bis 1811, als durch Zusammenlegung der Frankfurter Viadrina mit der Breslauer Leopoldina die Universität Breslau geschaffen wurde, keine weitere Bildungsanstalt mit Hochschulcharakter bestand.
Ging die Initiative zur Gründung einer Posener Universität bis zum Wiener Kongreß verständlicherweise nur von polnischer Seite aus, so gab es nach der Einverleibung des Posener Landes in Preußen 1815 auch vereinzelte deutsche Befürworter. Die Mehrheit der preußischen Politiker jedoch lehnte eine Hochschule in der Provinzhauptstadt hauptsächlich deswegen ab, weil sie nicht zu Unrecht befürchtete, eine solche Institution würde sich zu einem Zentrum des polnischen Nationalismus entwickeln. Der heute fast vergessene, zu seiner Zeit sehr bekannte Publizist und Bismarck-Kritiker Konstantin Frantz (1817-1891) dagegen wollte nach der Rückkehr von seiner Reise durch Ostdeutschland die zu schaffende Universität aus jedem Parteienstreit heraushalten und ihr eine internationale Vermittlungsrolle zubilligen. Sie sollte zunächst einmal „die gebildeten Polen von Paris abziehen“ und ferner eine „wissenschaftliche Zwischenstation“ zwischen Königsberg, das „in seiner wissenschaftlichen Vereinsamung“ angeblich „nur einen geringen Einfluß auf das geistige Leben der nordöstlichen Provinzen“ ausübte, und den westlichen Universitäten bilden. Frantz nannte als Beispiele für eine solche „Vermittlungsuniversität“ in deutschsprachigen Grenzräumen die Hochschulen in Prag und Straßburg. Erfülle eine Universität in Posen die ihr zugedachte Vermittlungsrolle – anstatt zuerst der Stärkung des Deutschtums zu dienen –, so könnte die Stadt Posen „auf diese Weise zum Ausgangspunkt der Vereinigung von Preußen und ganz Polen werden“ – was freilich in dieser Formulierung die reinste Utopie darstellte.
Doch die preußische Regierung ließ sich von einem solchen Vorschlag wie auch von anderen keineswegs beeindrucken und verharrte auf ihrem Standpunkt, daß eine Volluniversität mehr der Stärkung des Polentums als der des Deutschtums dienen würde. Was sie dann im Zuge der kurz nach der Jahrhundertwende gerade noch zulassen wollte, war eine Königliche Akademie, an der sich bereits im Beruf stehende Männer und Frauen akademisch weiterbilden konnten. Aus dieser Sicht heraus habe nach Meinung der Regierung die zu gründende Bildungsanstalt eine doppelte Aufgabe: erstens die spezielle, die deutsche Kultur fördernde für die Provinz Posen, und zweitens eine allgemeine, nämlich als erster Versuch des preußischen Staates, akademischen Unterricht für Erwachsene auf öffentliche Kosten anzubieten.
Die drei bedeutendsten „Motoren“ einer Universitätsgründung gaben bis zuletzt nicht auf. Das waren erstens Adolf Warschauer, der Direktor des Staatsarchivs und beste Kenner der Posener Landesgeschichte, zweitens Reinhard Witting, der Oberbürgermeister der Stadt, und drittens Oberpräsident Rudolf v. Bitter, der im Herbst 1899 sein Amt antrat. Warschauer hatte die „Historische Gesellschaft für die Provinz Posen“ hinter sich, die bereits seit ihrer Gründung im Jahre 1885 die sogenannte Hebungspolitik, also eine Förderung der deutschen Kultur, aus privater Initiative eingeleitet hatte, was meist übersehen wird. Doch der in preußischen Kultusministerium für die Hochschulen zuständige Ministerialdirektor Friedrich Althoff stand unter politischem Druck, zumal sich die deutsch-polnischen Beziehungen – gerade auch nach der Gründung des Deutschen Ostmarkenvereins (1894) – immer mehr verschärften. Nachdem bereits vor der Jahrhundertwende einige wissenschaftliche Institute, z.B. das Provinzialmuseum und das Hygienische Institut, geschaffen worden waren, kam im November 1902 die Kaiser-Wilhelm-Bibliothek hinzu. Auch wenn vorerst noch keine geeigneten Räumlichkeiten vorhanden waren, sollte die Akademie gleichsam als Krönung der deutschen Einrichtungen möglichst bald eröffnet werden.
Die Eröffnung fand dann am 4. November 1903 im Lichtsaal des Kaiser-Friedrich-Museums statt. Von den drei „Motoren“ der Universitätsgründung war lediglich Adolf Warschauer erschienen. Während Oberpräsident Rudolf von Bitter kurz zuvor abberufen und zum Präsidenten des Preußischen Oberlandesgerichts ernannt worden war, hatte Oberbürgermeister Richard Witting inzwischen einen lukrativen Posten im Direktorium der Nationalbank in Berlin vorgezogen. Die Reihe der Prominenz führte Kultusminister Konrad Studt an, und der für die ersten zwei Jahre zum Rektor ernannte Philosophieprofessor Eugen Kühnemann hielt die Festrede über das Thema „Leben und Wissenschaft“.
Rückblickend wird man eingestehen müssen, daß der politische Auftrag der neuen Bildungsanstalt viel zu stark betont wurde, wie dem Paragraphen 1 der Statuten zu entnehmen ist: „Die Königliche Akademie zu Posen hat die Aufgabe, das deutsche Geistesleben in den Ostmarken durch ihre Lehrtätigkeit und ihre wissenschaftlichen Bestrebungen zu fördern. Die Lehrtätigkeit besteht vornehmlich in der Abhaltung von Vorlesungen, Vortrags- sowohl wie Übungsvorlesungen, daneben aber auch in der Einrichtung und Leitung wissenschaftlicher Fortbildungskurse für verschiedene Berufszweige.“ Den politischen Auftrag der neuen Akademie gleich in den § 1 ihrer Statuten aufzunehmen, war in höchstem Maße undiplomatisch und unklug. Mit Recht konnten die Polen darauf verweisen, daß Forschung und Lehre neutral sein sollten und es bisher wohl auch keine ähnlich Bildungsanstalt gegeben habe, die primär aus politischen Gründen gegründet worden sei. Wenige Monate nach der Eröffnung der Akademie, am 14. April 1904, begründete der polnische Abgeordnete Zymunt v. Dziembowski-Pomian im Preußischen Abgeordnetenhaus dementsprechend seine ablehnende Haltung gegenüber de neuen Bildungsanstalt wie folgt: „Da es sich die Akademie zur Aufgabe gestellt hat, lediglich das deutsche Geistesleben zu fördern, da aber die Polen darin eine Art nationaler Kränkung gesehen, gleichsam als ob der Minister dort eine Warnungstafel hätte anbringen lassen: Für Polen Eintritt verboten! Wir können unmöglich eine Anstalt besuchen“, so fuhr Dziembowski-Pomian fort, „welche nach den Satzungen den offenbaren Zweck enthält, lediglich das deutsche Geistesleben zu fördern und nicht etwa allgemein den Wissenschaften zu dienen.“
Da die Polen also die neue Akademie nicht annahmen – das endlich 1910 eingeweihte Gebäude lag noch dazu im sog. Deutschen Viertel unweit des trutzburgartigen Kaiserschlosses und der nicht weniger monumentalen Ansiedlungskommission –, blieben die Deutschen unter sich. Der Lehrkörper zählte bei Beginn des ersten Semesters 27 Mitglieder, und zwar 13 Professoren, vier Dozenten und 10 Lehrbeauftragte. Bei diesem relativ kleinen Kollegium, dem übrigens nie mehr als 30 Wissenschaftler angehörten, gab es keine Fachbereiche, geschweige denn Fakultäten. Unter den Professoren befanden sich wissenschaftliche Eintagsfliegen, die an Volluniversitäten kaum angekommen wären. Die Fluktuation war relativ groß. Von den 25 Professoren, die zwischen 1903 und 1909 in Posen dozierten, wurden aber immerhin fünf an Volluniversitäten und zwei an Handelshochschulen berufen. Besondere Förderung erfuhr das Fach Geschichte. Dessen bekanntester Professor war zweifellos Otto Hoetzsch, der 1909 ein Institut für osteuropäische Landeskunde und Geschichte gründete. Freilich war er durch seine enge Bindung an die von den Polen gehaßten „Hakatisten“, den Deutschen Ostmarkenverein, politisch „gestempelt“.
Vorlesungen und Übungen wurden außer in Geschichte noch in folgenden Fächern angeboten: Nationalökonomie, Rechtswissenschaft, Volkswirtschaftslehre, Medizin, Philosophie und Pädagogik, deutsche Literatur und Sprachwissenschaft, Kunstgeschichte, Mathematik und Naturwissenschaften, Technik sowie Musikwissenschaft. Vier meist aus England stammende Lektoren erteilten englische Sprachkurse. Inmitten des polnischen Stammlandes hätte sich ebenfalls das Fach Slawistik angeboten, doch eine solche Konzession, die ja auch zum Nutzen deutscher Hörer gewesen wäre, erlaubte die politische Richtung des preußischen Kultusministeriums leider nicht.
Die Zahl der Hörer betrug in den stärker besuchten Wintersemestern anfangs rund 1100, ging aber im Jahre 1912 auf 900 zurück. Während der Sommersemester schwankte sie zwischen 400 und 600. Bedingung für eine Zulassung war am Anfang der Nachweis der wissenschaftlichen Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst sowie ein anderer adäquater Bildungsgrad. Weil der Zuspruch nicht den Erwartungen entsprach, handhabte man die Zulassungsbedingungen mit der Zeit immer lockerer. Dadurch, daß man hier ohne Abitur „studieren“ konnte, wollten die Gründungsväter eine Bresche in die bürokratisierte Bildungslandschaft schlagen. Doch streng genommen war die junge Akademie kaum mehr als eine großstädtische Volkshochschule, an der man ja ebenfalls keine Diplome erhielt. Gewiß konnten mancherlei Bescheinigungen erworben werden; z.B. wurde den Lehramtskandidaten die Zeit des Besuchs dieser Bildungsanstalt bis zu zwei Semestern angerechnet. Auch konnten Oberlehrer Erweiterungsprüfungen ablegen, doch hatte die Akademie weder das Recht zur Abnahme irgend welcher Staatsexamina, geschweige denn das Promotionsrecht. Kein Wunder, daß kein Student von außerhalb der „ungeliebten Provinz“ in diese dazu noch wenig reizvolle Stadt gelockt wurde. Draußen, „im Reich“, nahm man diesen wegen seiner eigenartigen Zulassungs- und Prüfungsbedingungen sowie seiner schwindenden Hörerzahlen „dahinvegetierenden“ Torso einfach nicht ernst.
Während die einstigen Gegner einer Hochschulgründung sich in ihren Befürchtungen bestätigt sahen, ließen die hartnäckigen Befürworter – allen voran der Posener Oberbürgermeister Wilms – in ihren Bemühungen um eine Aufstockung der Akademie zu einer „Zwerguniversität“ mit nur zwei oder drei Fakultäten nicht nach. Der Erste Weltkrieg beendete schließlich die sich quälend hinziehenden Diskussionen um Pro und Contra. Als die preußischen Behörden nach der deutschen Niederlage die Stadt Posen, in die sie Millionen von Mark investiert hatten, Anfang 1919 verlassen mußten, konnten die Polen, die die Akademie vorher als „Talmi-Universität“ verspottet hatten, die völlig intakten Gebäude des Deutschen Viertels übernehmen. Sie setzten sich in der Tat in ein „gemachtes Nest“. So leicht und so billig wie im Jahre 1919 die polnische Adam-Mickiewicz-Universität zu Posen ist wohl noch nie eine Universität gegründet worden.
Literatur: Paul Ssymank: Die Königliche Akademie zu Posen 1903-1919, in: Aus dem Ostlande 14 (1919), S. 181-187. – Adolf Warschauer: Deutsche Kulturarbeit in Ostmark, Berlin 1926. Dieser Beitrag beruht auf dem Text eines Vortrags, den der Verfasser über das Thema „Die Akademie in Posen 1903-1918. Eine deutsche Ersatzuniversität zwischen Breslau und Königsberg“ auf der Tagung des Herder-Forschungsrates am 8. April 1999 in Marburg gehalten hat.
Bild: Die Königliche Akademie, seit 1919 Aula der Universität Posen. / Quelle: A.Savin (Wikimedia Commons · WikiPhotoSpace), Poznan 10-2013 img06 University, CC BY-SA 3.0
Helmut Neubach (OGT 2003, 328)