Ereignis vom 1. Januar 1803

Gründung der Superintendentur für Galizen und die Bukowina in Lemberg

Jesuskirche in Teschen

Österreich erwarb 1772 Galizien von Polen und 1775 die Bukowina (Buchenland) vom Osmanischen Reich. Letztere wurde 1786 Galizien angeschlossen und blieb mit diesem bis 1849 vereint. Danach wurde die Bukowina selbständiges Herzogtum und 1861 autonomes Kronland der Habsburgermonarchie. Es entsprach diesen Gegebenheiten, dass die gali­zi­sche Superintendentur in Wiener Hofdekreten anfangs „Superintendentur in beyden Galiziens“ genannt wurde, danach bei gleicher Kompetenz bis 1918 „Superintendentur für Galizien und die Bukowina“.

1778 waren bereits viele „Professionisten“ evangelischen Glau­bens in die Stadt Lemberg eingewandert, so daß in dieser, vier Jahre vor der Entstehung der Wiener evangelischen Gemeinde, eine solche in Lemberg gegründet werden konnte. Diese deutschen Protestanten hatte es in die zur Ansiedlung freigegebene Städte Galiziens gezogen, weil sie dort gute Berufschancen sahen und Maria Theresias Ansiedlungspatent von 1774 vertrauten, das sie erließ, um die damalige marode wirtschaftliche und kulturelle Verfassung des von Natur aus reich gesegneten Landes zu verbessern. Die Anwerbung deutscher Katholiken aus eigenen österreichischen Ländern verbot sich, weil das Land und seine Wirtschaft durch die Kriege mit Preußen stark gelitten hatten. Daher akzeptierte Österreich anfangs für die städtische und ab ca. 1785 auch für die bäuerliche Ansiedlung auch evangelische Deutsche aus dem Westen des Reiches und mußte diesen „Akatholiken“ dafür religiöse Zugeständnisse gewähren. In den ersten drei Jahrzehnten nach der Inbesitznahme Galiziens war Teschen (Cieszyn) mit seiner Jesuskirche die Zentralkirche der galizischen Protestanten. Maßgebend dafür waren die am Ende des 30jährigen Krieges ausgehandelten konfessionellen Sonderbestimmungen des Westfälischen Friedensvertrags für die schlesischen Protestanten, die ihnen Glaubensfreiheit nach dem Augsburger Bekenntnis zusicherten, wobei dem protestantischen König von Schweden das Recht der Intervention eingeräumt war. Von diesem Recht machte der Schwedenkönig Karl XII. Gebrauch, der den katholischen Kaiser Joseph I. in Wien mit dem Argument: „sie seien doch beide, der Kaiser in Wien und der König in Schweden, Garanten des Westfälischen Friedensvertrages“ nötigte, 1707 die Altranstädter  Konvention zu unterzeichnen. In dieser mußte das katholische Österreich den schlesischen Protestanten erhebliche Zugeständnisse machen. Die Evangelischen erhielten „aus kaiserlicher Gnade“ sechs „Gnadenkirchen“ zugebilligt, die sogar mit Turm und Glocken gebaut werden durften, was bemerkenswert war im Vergleich zu den späteren Zusicherungen Kaiser Josephs II. in seinem Toleranzpatent von 1781. Denn in diesem durften die „Akatholiken“ nur Bethäuser ohne Zugang von der Straße und ohne Türme und Glocken errichten. Erst 80 Jahre später, 1861 unter Kaiser Franz Joseph, erlaubte dessen Protestantenpatent den evangelischen Kirchen, ihre Angelegenheiten selbständig zu regeln, Zugänge zu den Kirchen von der Straße aus einzurichten sowie Turm- und Glockengeläute zu besitzen. So erhielt das evangelische Bethaus in Lemberg erst danach zwei Türme mit Glockengeläut und wurde 1878 zum 100-jährigen Bestehen der Lemberger Gemeinde als evangelische Kirche neu geweiht.

Eine der Gnadenkirchen war damals für Teschen genehmigt worden. Teschen war auch Sitz der obersten evangelischen Kirchenleitung bis zum Jahre 1784/85, als diese nach Wien verlegt wurde. Die sich in den galizischen Städten und bald auch in den zahlreichen protestantischen bäuerlichen Kolonien bildenden evangelischen Gemeinden wurden 1784 der Teschener Superintendentur unterstellt. Sie erhielt die Bezeichnung „Mährisch-schlesisch-galizische Superintendentur A.B.“ und wurde vom Superintendenten Traugott Bartelmus geleitet. Er verwaltete die Kirche in Galizien und in der Bukowina bis 1803.

Zur Erleichterung der schwierigen Kirchenaufgaben angesichts der weit über das große Land zerstreuten und schwer zu betreuenden Gemeinden gliederte Superintendent Bartelmus 1789 seine Superintendentur in zwei Seniorate: In ein östliches mit Sitz in Lemberg mit dem dort 1788 berufenen Pastor Cerulli als Senior und in ein westliches mit Sitz in Biala. Das östliche Seniorat umfaßte auch Bukowinaer Pastorate und reichte in jener Zeit im Norden bis in den Lubliner Raum, wo damals die Grenze Österreichs verlief, die erst 1815 auf den bis 1918 geltenden Verlauf zurückgenommen wurde.

Senior Cerulli starb bereits 1801. Sein früher Tod deutet gleich dem seines früh verstorbenen Vorgängers und seiner drei Nachfolger darauf hin, daß dieses Kirchenamt ungemein anstrengend war und eine robuste Natur erforderte, sollten die hohen Anforderungen und Strapazen von weiten Reisen in einer Zeit bewältigt werden, die noch keine Eisenbahn und nur ein marodes Straßennetz kannte. Einflußreiche Kreise bemühten sich auch deshalb in Wien um die Verlagerung der Teschener Kompetenzen in die Landeshauptstadt Lemberg, d.h. um die Neugründung einer „Galizischen Superintendentur“. Superintendent sollte der Pastor der evangelischen Gemeinde Lemberg sein. Dies wurde schließlich auch mit Hofdekret vom 2. November 1804 genehmigt unter Ernennung des am 26. Oktober 1803 zum Pastor berufenen Joseph Paulini zum Superintendenten. Der 1770 geborene und als ungemein tüchtig und pflichttreu beschriebene Oberhirte starb aber bereits 35jährig nach kaum 14 Monate dauerndem Wirken in Galizien. In der Lemberger Pfarrkirche erinnert noch heute eine Gedenktafel an diesen ersten dort wirkenden Superintendenten.

Nachfolger Paulinis wurde die überragende Persönlichkeit Samuel Bredetzkys, dem aber auch nur ein sechsjähriges Wirken in Galizien von 1806 bis 1812 beschieden war. Er stammte aus der Zips, besuchte in Käsmark und in Oedenburg das evangelische Gymnasium und studierte danach in Jena mit dem Vorsatz, sich auf das Amt eines evangelischen Lehrers und Pre­digers vorzubereiten. Er war u.a. Schüler von Fichte, begegnete in Weimar Goethe, Schiller und Herder und war selbst publizistisch tätig. Als 34-jähriger Superintendent betrieb er segens­reich und unter größten Schwierigkeiten den Aufbau der jungen evangelische Kirche und des deutsch-evangelischen Schulwesens in Galizien und der Bukowina. In den slawischen Dörfern gab es vor 1772 überhaupt keine Schulen, erst 1790 sind in Galizien neun polnische und vier ukrainische Schulen nachgewiesen, aber bereits 49 Schulen in den neugegründeten deutschen Bauernkolonien. Nach und nach steigerte sich die Zahl dieser deutschen Schulgründungen auf 122. Die deutsch-evangelischen Schulen waren anfangs reine Religionsschulen, die sich erst später durch die Anstellung ausgebildeter Lehrkräfte und Erweiterung des Unterrichtsprogramms zu allgemeinbildenden Volksschulen entwickelten. Wesentlichen Anteil hatte Bredetzky an der 1808 erfolgten Gründung der führenden deutsch-evangelischen Hauptschule in Lemberg. Während die Pastoren bis 1820 nur das Recht hatten, den Religionsunterricht in den Schulen zu beaufsichtigen, wurde ihren Senioren 1820 der Status von Distrikt-Schulaufsehern verliehen und die Aufsicht über das evangelische Schulwesen übertragen, wobei sie auch in Schulangelegenheiten dem Superintendenten Rechenschaft abzulegen hatten und in allen entscheidenden Fragen von seinem Votum abhängig waren.

Auf Bredetzky folgten weitere tüchtige Superintendenten, zwei davon (Stockmann und Haase) aus Sachsen, der letzte (Zöckler) aus Greifswald. Mit ihren Gemeindepfarrern erfüllten sie bis zum Zweiten Weltkrieg nicht nur die kirchlichen Aufgaben, sondern wußten auch trotz zunehmender Anfeindungen die deutsche Sprache und das deutsche Volkstum in ihren Gemein­den zu bewahren. Im Gegensatz dazu standen viele deutsch-katholische Dörfer über Jahrzehnte hinweg unter dem Assimilierungsdruck polnischer Behörden, Pfarrer und Lehrer. Nur aus der auslandsdeutschen Situation heraus und der dort ent­wickelten Priorität, die bedrohte Sprache und Gesinnung der deutschen Minderheit im slawischen Umfeld zu bewahren, ist zu verstehen, daß sich die evangelische Kirche mit ihren Pfarrern und Lehrern mit den deutschen Katholiken zu gemeinsamer Schutzvereinsarbeit zusammenfanden und die Abwehr der als für das Deutschtum bedrohlich empfundenen Polonisierung betrieben.

Bild: Jesuskirche in Teschen / Quelle: Photo: Hons084 / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0Kościół Jezusowy w Cieszynie3CC BY-SA 3.0 PL.

Erich Müller (OGT 2003, 324