Ereignis vom 9. September 1753

Gründung der Waisenhauskirche in Züllichau

Kreisgebiet Züllichau-Schwiebus um 1905

Am 9. September 1753 wurde in der ostbrandenburgischen Stadt Züllichau ein evangelisches Kirchlein eingeweiht, dessen Geschichte des Erinnerns wert ist. Denn es war kein Gotteshaus, wie es allenthalben in Dörfern und Städten zu finden ist, sondern es war speziell für Waisen und ihre Betreuer errichtet worden. Daß ein Waisenhaus über eine eigene Kirche verfügte, war im damaligen Preußen wohl eine große Seltenheit, wenn nicht sogar einmalig. Um den Ursprung dieses sakralen Baues richtig einordnen zu können, müssen wir zunächst kurz auf die Geschichte des 1719 von dem frommen Nadlermeister Siegmund Steinbart in Züllichau gegründeten Waisenhauses zurückblicken, dessen christliches und pädagogisches Werk der Nächstenliebe bis zum Jahre 1945 Bestand haben sollte.

Angeregt durch die Franckesche Stiftung in Halle wagte auch der in der kleinen Tuchmacherstadt Züllichau tätige Handwerksmeister Steinbart mutig einen solchen Schritt, um Waisenkindern Unterkunft und Erziehung bieten zu können. Am 1. Juli schrieb er an König Friedrich Wilhelm I: „Es sind in der Stadt Züllichau und in den benachbarten Orten sehr viele arme Kinder und Verlassene in der Irre herumlaufende Waysen, welche weder zur Schule noch zum Christentum angeführet werden, oder vielmehr wegen der Armut nicht angeführet werden können, und meiner Wenigkeit öfters großes Mitleid und Erbarmen verursacht, so, daß ich vor geraumer Zeit einen sonderbaren Trieb in meinem Gemüth gefunden, mich der armen Kinder anzunehmen und denselben zum Besten ihres zeitlichen und ewigen Wohlseins ein Waysenhaus anzurichten …“

Bereits 12 Tage später erhielt Steinbart die Genehmigung. Er brachte die ersten Kinder zunächst in seinem Wohnhaus unter, bis er 1723 durch viele kleine und große Zuwendungen in die Lage versetzt wurde, ein großes Waisenhaus zu bauen. Das erste Ziel war erreicht: die Waisen, Helfer und Lehrer hatten nun ihr eigenes Domizil.

Aber was war mit der christlichen Erziehung? Steinbart wollte gern den Waisenhauskomplex noch mit einer Kirche abrunden. Sein Wunsch ging zu seinen Lebzeiten – er starb 1739 – nicht mehr in Erfüllung. Doch sein Sohn Christian, der vom Konsi­storium in Küstrin zum Waisenhausprediger ernannt worden war und die Gottesdienste zunächst im Speisesaal des Waisenhauses abhalten mußte, konnte die Pläne verwirklichen. 1751 ging eine große Spende von 3000 Thalern ein, so daß noch im selben Jahr der Grundstein gelegt und am 9. September 1753 das Gotteshaus eingeweiht werden konnte.

Christian Steinbart (1702-1767) – inzwischen auch zum Direktor des Waisenhauses ernannt – mußte jedoch bald erfahren, daß unter Christen keineswegs immer Einmütigkeit herrscht. Denn kaum war der Bau begonnen, da fingen Auseinandersetzungen mit der Züllichauer Kirchenleitung an, die eine Art von Konkurrenz zur örtlichen Gemeinde befürchtete. Steinbart aber konnte alle mit Vehemenz vorgetragenen Angriffe immer wieder abwehren. Denn er hatte ein wichtiges königliches Dokument in der Hand: Das Hauptprivilegium des preußischen Monarchen vom 9. November 1726, das u.a. folgende Bestimmung enthält: Der Waisenvater darf seinen Nachfolger und die Lehrer selbst berufen sowie eine Druckerei und eine Buch­handlung betreiben. Als selbständige Kirchengemeinde ist sie und auch ihr Geistlicher dem Konsistorium unmittelbar unterstellt. Nachdem das Konsistorium alle Behinderungen beseitigt hatte, konnte das kirchliche Leben endlich ungeschmälert beginnen und über Jahrhunderte im Schutz dieses Sonderstatus segensreich gedeihen.

Professor Dr. Dr. Grossmann, Schüler in Züllichau von 1926 bis 1934, faßte einmal in einer Festschrift Wert und Bedeutung dieses Kirchleins so zusammen: „Schon das Äußere dieser Kirche war sehr ansprechend. Außen war es ein schlichtes Haus, ohne Turm und ohne Glocken. Aber innen war die Kirche sehr schön, mit einer gelungenen Mischung von Renaissance und Barock. Die Mitte des Gottesraumes bildete der Altar und die darüber liegende Kanzel. Das war ein Zentrum, das immer alle Augen auf sich zog. Außen schlicht, aber innen reich – das war das Leitmotiv dieses Kirchenbaues. Das regte den Kirchenbesucher dazu an, im äußeren Auftreten selbst auch schlicht zu sein und vielmehr alle Kraft auf die Entwicklung der geistig-seelischen Werte zu richten. Die Predigt der Anstaltspfarrer stand immer im Mittelpunkt des Gottesdienstes. Im Sinne des Gründers, Siegmund Steinbart, bemühten sich die Pfarrer, die biblische Wahrheit eng mit den Aufgaben der jeweiligen Gegenwart zu verbinden. Das Gegeneinander von konservativen und modernen Gruppen, das so oft das Leben christlicher Gemeinden hemmt, gab es bei Steinbart und seinen Nachfolgern nicht. Die Predigten waren biblisch gegründet und zugleich der Gegenwart zugewandt; der Hörer bekam eine Antwort auf die tieferen geistigen Fragen und doch zugleich auch eine Anregung für das moderne Leben. Bedeutsam war auch die Kirchenmusik durch Orgel und Chöre, wie sie von den Musiklehrern der Schule gestaltet wurde. Der frische Gesang der jungen Stimmen der Mädchen und Jungen ist unvergeßlich. So hat die Musik alles vertieft. In dieser Kirche haben die ehemaligen Schüler erfahren, wie schön es ist, wenn Glaubenstiefe und geistige Weite zusammenwirken.“

Die Vermittlung der christlichen Werte spielte in der humani­stischen Erziehung im Waisenhaus, dem 1766 ein Pädagogium angegliedert wurde, eine große Rolle. Aus einer Statistik geht hervor, daß von 1766 bis 1860 über 300 Züllichauer Abiturienten an deutschen Universitäten ein Studium der Theologie be­gonnen haben – also mindestens drei von jedem Jahrgang, von kraftvollen Predigern mit tiefem Gottesvertrauen ausgerüstet.

Fast 200 Jahre lang versammelte sich in dem Kirchlein sonntags die Waisenhausgemeinde (Schülerschaft, Lehrer und Angestellte) und Kanzel und Altar zu einer Stunde der Besinnung und Erbauung. Die Konfirmanden wurden in die christliche Ge­meinschaft aufgenommen. Manch Angehöriger der Steinbartstiftung wurde hier getraut oder legte als Verstorbener die kurze Wegstrecke vom Gotteshaus zum zur Stiftung gehörenden kleinen Friedhof zurück. Hier ruhten die große Familie des Waisenhausgründers, pensionierte Lehrer und manche Schüler, die früh ihr Leben verloren.

Doch dann zerstörte der Krieg jäh diese kleine christliche Welt am Rande der Stadt. Der Friedhof wurde verwüstet, und einige Grabsteine wurden zum Garagenbau verwendet. Das Gotteshaus wurde zunächst in eine Turn- und Tanzstätte verwandelt, um dann 1981 endgültig abgerissen zu werden. Die aus Holz bestehende Inneneinrichtung wurde verfeuert und die wunderbare Bachorgel zertrümmert.

Nichts würde mehr an diesen Sakralbau erinnern, wenn nicht ein traditionsbewußter polnischer Lehrer im letzten Moment eine der beiden Altarsäulen vor der Vernichtung bewahrt hätte. Im Jahre 2000 gelangten sie auf Umwegen über die Oder nach Deutschland. In der Jugenddorf-Christophorusschule im hessischen Oberuff/Bad Zwesten – der Traditionsstätte der Züllichauer Steinbartstiftung – hat sie einen Ehrenplatz gefunden und erinnert somit an das einmalige Werk der christlichen Nächstenliebe in Ostbrandenburg.

Bild: Kreisgebiet Züllichau-Schwiebus um 1905 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Lothar Meißner (OGT 2003, 317)