Ereignis vom 7. November 1923

Gründung der „Zentrale Der Deutsch-Baltischen Arbeit“ in Lettland


Glasfenster der Deutsch-Balten im Lüneburger Brömsehaus

In den Richtlinien der am 7. November 1923 konstituierten neuen deutschbaltischen Organisation wird einleitend als Zielbestimmung formuliert: „Zweck der Zentrale deutsch-baltischer Arbeit ist der Zusammenschluss der in Lettland arbeitenden deutsch-baltischen Organisationen und Gruppen, Förderung und Vertretung der Interessen des Deutschbaltentums Lettlands als Gesamtheit und Ausgleich der Kräfte auf den einzelnen Gebieten deutsch-baltischer öffentlicher Arbeit.“ Diese Gründung erfolgte nach intensiven Diskussionen innerhalb der Volksgruppe, um die umstrittene Wahrnehmung sämtlicher nationalkultureller Belange allein durch die politische Führung in Form des „Ausschusses der deutsch-baltischen Parteien“ (A.P.) durch Aufgabenverteilung zu entlasten und zu differenzieren. Damit wurde eine fortschreitende Emanzipation initiiert, die bereits drei Jahre später zur völligen Selbständigkeit dieser Organisation durch ihre Umwandlung in die „Deutsch-Baltische Volksgemeinschaft in Lettland“ führte und jenen „Dualismus in der Volksgruppenführung“ schuf, „der während der ganzen Zeit des lettländischen Parlamentarismus bestanden hat“ (Wachtsmuth). Mit der „Arbeitszentrale“ schuf man gleichsam eine Art Behörde als Mittel- und Ausgleichsstelle, die dem Neben- und Gegeneinanderarbeiten der verschiedenen Deutschtumsorganisationen in Lettland entgegenwirken und sich vor allem als Vertretung deutschbaltischer Interessen in ihrer Gesamtheit verstehen sollte.

Diese partiell differenzierende und zugleich zusammenfassende Funktion war notwendig geworden in einer Situation, in der sich die Deutschbalten in Lettland nach einer ersten Konsolidierungsphase im neugegründeten Staat gezwungen sahen, die anfangs politisch und weltanschaulich stark differierenden Kräfte zu sammeln und auf gemeinsame übergeordnete Ziele zu konzentrieren. Denn nach Krieg, bolschewistischer Herrschaft und lettischer Staatsgründung sah sich die deutschbaltische Führung vor die Aufgabe gestellt, „ideell und materiell Neues zu schaffen auf allen Gebieten baltischen Lebens, auf politischem und sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem“, wie es der Chronist deutschbaltischer Tätigkeit in Lettland, Wolfgang Wachtsmuth, ausdrückte. Im Übergang von der führenden Schicht zur nationalen Minderheit war es nach dem ersten parlamentarischen Erfolg des Schulautonomiegesetzes 1919, dem Aufbau einer Deutschen Bildungsverwaltung und nach der auf Initiative Paul Schiemanns erfolgten Gründung des A.P. im Jahre 1920 an der Zeit, dieses politische Gremium von der Wahrnehmung auch der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten zu entlasten. So bildete die Arbeitszentrale eine Spitzenorganisation sehr unterschiedlicher Verbände mit Vertretern zwar nach wie vor auch der Politik, aber nunmehr ergänzend auch aus den Bereichen Kultur, Fürsorgewesen und Wirtschaft. Nicht von ungefähr wurde mit Wilhelm von Rüdiger ein hochangesehener Rigaer Rechtsanwalt, immatrikulierter kurländischer Edelmann mit engen Beziehungen zu Literatenkreisen und beruflichen Verflechtungen zu den Führungsgremien bedeutender wirtschaftlicher Unternehmungen in Handel und Industrie zum Vorsitzenden dieser Spitzenorganisation gewählt, deren Leitung er auch als Präsident der daraus 1926/27 hervorgegangenen „Deutsch-Baltischen Volksgemeinschaft“ mit kurzer Unterbrechung bis zum Jahre 1935 innehatte.

Aus dem Wirkungsbereich der Arbeitszentrale in den ersten Jahren sind u.a hervorzuheben: die Pflege der auswärtigen Kontakte sowohl zu den Deutschbalten in Estland als beonders auch zu den nach Deutschland Ausgewanderten, die Koordinierung der zum Teil kontraproduktiven Bemühungen von Vereinsvertretern bei ihrer „selbständigen Jagd nach Geldmitteln“ in Deutschland, Budgetfragen und Kreditbeschaffung, allgemeine kulturelle und soziale Maßnahmen sowie nicht zuletzt die Herausgabe des vom Deutschen Elternverband begründeten, außerordentlich integrierend wirkenden „Jahrbuchs des baltischen Deutschtums“, das nach Unterbrechung heute von der Carl-Schirren-Gesellschaft in Lüneburg herausgegeben wird und das für die jüngere deutschbaltische Geschichte als hervorragende Quelle bei vielfältigen Fragestellungen dient. Über die Bildung einzelner Fachsektionen emanzipierte sich die Arbeitszentrale bald vom A.P. durch völlige Trennung der politischen von der kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Arbeit. Nach der Einführung einer Selbstbesteuerung wandelte sie sich in einen Verband von Steuerzahlern mit dem Ziel, anstelle einer „Spitzenbehörde“ eine „Volksgemeinschaft“ aufzubauen. Diese organisierte sich schließlich in mehreren „Ämtern“ für die Bereiche Jugend, Finanzen, Land, Fürsorge und Kultur und bemühte sich 1933 mit der Bildung der sog. „Nachbarschaften“ um die Durchsetzung einer „lebendigen“ Volksgemeinschaft. Die 1930er Jahre aber waren auch die Zeit erneuter Auseinandersetzungen, von denen die deutschbaltische Volksgruppe in Lettland aufs schwerste erschüttert wurde: über die Organisation der „Volksgemeinschaft“ gelang es den – meist jüngeren – Anhängern der sog. „Bewegung“, in die Arbeit der Volksgruppe einzudringen und die alte politische Führung anzugreifen und zu verdrängen.

In der Entwicklung der Arbeitszentrale und der Volksgemeinschaft lassen sich demnach mehrere Phasen unterscheiden: In einer ersten Etappe löste sich die Arbeitszentrale nach 1923 vom A.P bis zu ihrer Bestätigung als selbständiger „Verband von Vereinen“ 1926. Mit der Einführung der Selbstbesteuerung anstelle von Sammlungen wurde sie aus einem Verband unterschiedlichster deutscher Vereine zu einer Vereinigung von Steuerzahlern und nahm 1928 den Namen „Volksgemeinschaft“ an. Zwei Jahre darauf schuf man die ersten „Ämter“, womit bestimmte Arbeitsbereiche der Volksgruppe in eigene Regie übernommen wurden, was nicht ohne Widerstände zu erreichen war, weil man damit bislang von anderen Einrichtungen wahrgenommene Rechte in Anspruch nahm und in zeitweilige Konkurrenz z.B. zur Fürsorgezentrale, zum Elternverband oder zur Verwaltung des deutschen Bildungswesens trat. Abgeschlossen wurde diese Entwicklung zehn Jahre nach der Begründung der Arbeitszentrale mit der Einrichtung der „Nachbarschaften“ durch die „Volksgemeinschaft“.

Der Ausbau dieser Organisationsformen, die sich von der Estländischen Deutschen Kulturselbstverwaltung in mehrfacher Hinsicht unterschieden, fand vor dem Hintergrund schwerer Krisen statt: der allgemeinen Finanz- und Wirtschaftskrise seit Sommer 1931, dem „Kulturkampf“ der Ära des lettischen Bildungsministers Keninš und nicht zuletzt dem inneren Streit der deutschen Volksgruppe mit seinem Höhepunkt Mitte der 30er Jahre. Mit der Auflösung des A.P. und der Verwaltung des deutschen Bildungswesens in der Folge des lettländischen Staatsstreichs von 1934 kam schrittweise der „Volksgemeinschaft“ die offizielle Vertretung des baltischen Deutschtums in Lettland zu. Nach Wachtsmuth wurde die Volksgemeinschaft aus einer Behörden-Organisation zu einem „lebendigen Organismus“ – nicht ohne teilweise heftige Auseinandersetzungen und Kampfabstimmungen und nicht ohne gelegentliche Rück-schläge. In seiner Abschiedsrede für den zurückgetretenen Präsidenten von Rüdiger sagte der Generalsekretär der „Volksgemeinschaft“, Prof. Kurt Stavenhagen, 1935 u.a: „Denn das ist die deutsche Volksgemeinschaft: Ausdruck der baltischen Geschichtlichkeit, des historischen Willens eines Stammes, der fest gegründet in der Tradition der Vergangenheit den Bogen der Gemeinschaftsexistenz weiter in die Zukunft zu spannen trachtet“. In einer Deklaration zum Staats- und Volksgemeinchaftsgedanken in Europa hatte Paul Schiemann 1927 betont, man kämpfe nicht für Privilegien, sondern um ein gleiches Recht für alle „auf der Grundlage unseres Staatswesens … Während die Volksgemeinschaft in vollem Umfange eine Geistes- und Gefühlsgemeinschaft ist, haben wir den Staat vor allem als eine Tatsachengemeinschaft anzusehen“. Von dieser Über¬zeu¬gung aus formulierte Schiemann dann das Ziel „eines Rechtskampfes in Europa“. Die Idee der Volksgemeinschaft war also für ihn durchaus vereinbar mit der Vorstellung von einer Überwindung der nationalen Machtkämpfe.

Mit der Begründung der „Arbeitszentrale“ im Jahr 1923 war der Grundstein zur Bildung einer so verstandenen Volksgemeinschaft gelegt worden, deren Gefährdungen und Scheitern im nationalistischen Umfeld zu den vielfältigen Tragödien des Vorkriegsjahrzehnts gehören.

Lit.: Wolfgang Wachtsmuth: Von deutscher Arbeit in Lettland 1918-1934. Ein Tätigkeitsbericht. Materialien zur Geschichte des baltischen Deutschtums, Bd. 1: Die deutsch-baltische Volksgemeinschaft in Lett-land 1923-1934. Köln 1951. – Wilhelm von Rüdiger: Aus dem letzten Ka¬pitel deutsch-baltischer Geschichte in Lettland 1919-1945. Gern bei Eggenfelden 1954. – Ders.: Die „Deutsch-Baltische Volksgruppe“. Ausklang. Hannover-Wülfel 1957. – Michael Garleff: Deutschbaltische Politik zwischen den Weltkriegen. Die parlamentarische Tätigkeit der deutschbaltischen Parteien in Lettland und Estland (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, Bd. 2). Bad Godesberg 1976. – Ders.: Die Deutschbalten als nationale Minderheit in den unabhängigen Staaten Estland und Lettland, in: Gert von Pistohlkors (Hrsg.): Baltische Länder (Deutsche Geschichte im Osten Europas). Berlin 1994, S. 451-550. – Helena Šimkuva: Das deutschbaltische Kulturleben in Lettland (1918-1939), in: Acta Baltica 32 (1994), S. 9-28. – Hel¬mut Kause: Letten und Deutsche in der Republik Lettland, in: Wil¬fried Schlau (Hrsg.): Tausend Jahre Nachbarschaft. Die Völker des baltischen Raumes und die Deutschen. München 1995, S. 112-123.

Bild: Glasfenster der Deutsch-Balten im Lüneburger Brömsehaus / Quelle: Von Mehlauge – eigenes Archiv, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44833905

Michael Garleff