Ereignis vom 17. Juni 1722

Gründung des Herrnhuts

Herrnhut 1765

Auf dem Grund und Boden des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) wurde in der Nähe des Hutberges an der Straße von Löbau nach Zittau von dem mährischen Exulanten und Zimmermann Christian David (1690-1751) am 17. Juni 1722 der erste Baum zur Anlage Herrnhuts gefällt. Mit der Ansiedlung der um ihres Glaubens willen vertriebenen Anhänger der Böhmischen Brüderkirche erhielt Zinzendorf die selbstlosen, opferbereiten Mitstreiter, die er für seine weltweiten Missionspläne benötigte. In einer aus intensivstem Gemeinschaftsleben gespeisten Glaubenskraft gingen Herrnhuter Boten, materiell völlig ungesichert, einer ungewissen Zukunft entgegensehend, aus der Geborgenheit ihrer klösterlich abgeschlossenen Siedlungen hinaus in alle Welt, um im Norden unter den Eskimos in Grönland und Labrador, im Süden unter den Farbigen Afrikas, im Westen unter den Negersklaven und Indianern Amerikas und im Osten unter den leibeigenen Esten und Letten und den östlich der Wolga lebenden Kalmücken, Zeugnis von ihrem Glauben abzulegen. Sprach Zinzendorf voller Bewunderung von diesen Streitern Christi, den Mähren als einer gens aeterna, einem unvergänglichen Geschlecht, so fand Johann Gottfried Herder (1744-1803) für den Inspirator dieser missionarisch-ökumenischen Bewegung die bemerkenswerten Worte, dass Zinzendorf „als ein Eroberer aus der Welt“ gegangen sei, „desgleichen es wenige, und im verflossenen Jahr-hundert keinen wie ihn gegeben“ habe.

Von Herrnhut nahm das weltweite Missionswerk der Brü¬der¬ge-meine seinen Ausgang. Bereits auf dem ersten Gemeintag im Februar 1728 wurde der Beschluß gefaßt, sich (nach dem Vor-bild der Franckeschen Stiftungen in Halle) der Missionsaufgabe zu widmen. 1732 begaben sich zwei Laienbrüder zu den Negersklaven in der Karibik nach St. Thomas, und zu Beginn des folgenden Jahres wurde Christian David mit zwei mährischen Brüdern nach Grönland gesandt. In rascher Folge entstanden Missionsstationen in Surinam in Südamerika, in Guinea und Südafrika, unter den Indianern Nordamerikas. Diese von der „Streiteridee“, dem Gedanken der militia christiana getragenen Bewegung, fand ihren sichtbaren Ausdruck in den Losungen, der biblischen Parole, die ursprünglich jeden Morgen in jedes Haus getragen wurde. Daraus haben sich bis heute die weltweit verbreiteten, in 43 Sprachen gedruckten täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine erhalten. Doch nicht diese Aktivitäten sollen hier weiter verfolgt werden. Es geht, der Intension des vorliegenden Gedenkbuches entsprechend, um die Ausstrahlungen nach dem Osten.

Mit der Gründung Herrnhuts verband Zinzendorf sogleich Pläne, Einfluss auf das von der Gegenreformation bedrohte Schlesien zu gewinnen. Davon zeugen seine wiederholten Reisen in das unter habsburgischer Herrschaft stehende Nachbarland und die Errichtung eines Pädagogiums in Herrnhut für junge Adlige der Oberlausitz und Schlesiens. Eine völlig neue Situation ergab sich, als Friedrich II. durch die erfolgreichen Schlesischen Kriege große Teile des Landes in seinen Besitz nahm. Jetzt wurden die Herrnhuter als Wirtschaftspioniere und Kulturträger umworben, verbunden mit der Erwartung, daß nicht nur das Wirtschaftsleben neue Impulse erhielt, sondern auch viele Menschen ins Land gezogen würden (Peuplierung). Die bevölkerungspolitischen Hoffnungen (vor allem im Hin-blick auf Oberschlesien, wo die Herrnhuter auch die verstreuten Anhänger der alten Brüderkirche aus dem benachbarten Mähren und Böhmen sammeln wollten) erfüllten sich allerdings nicht. Der Zustrom kam nahezu völlig zum Erliegen, nicht zuletzt eine Auswirkung des 1781 von Kaiser Joseph II. erlassenen Toleranzedikts. Den wirtschaftspolitischen Erwartungen konnte die Brüdergemeine jedoch in vollem Maße entsprechen. Sie bot alle nur denkbaren Voraussetzungen für die praktische Umsetzung merkantilistischer Zielvorstellungen: Die Bewohner der Siedlungen waren von jeder Erbuntertänigkeit befreit; die hochqualifizierten Handwerke unterlagen keinem Zunftzwang; die große Zahl disziplinierter und hochmotivierter Arbeitskräfte in den sogenannten Chorhäusern der ledigen Brüder und ledigen Schwestern boten beste Voraussetzungen für Ma¬nufaktur und Verlag; die internationalen Verbindungen der Brüdergemeine versprachen Kapi¬talzufluß und Exportüberschuss, was der erstrebten aktiven Handelsbilanz nur förderlich sein konnte. In den Brüdergemeinen in geradezu idealtypischer Weise waren die an den neugeschaffenen kameralistischen Lehrstühlen in Preußen (Halle u. Frankfurt/O) entwickelten ökonomischen Ideen bereits verwirklicht.

Hatte die Brüdergemeine zunächst als spirituelle Erneuerungsbewegung innerhalb der Kirchen begonnen, so drängte die vielerorts einsetzende Verfolgung und vor allem die Legalisierung der aufblühenden Missionsarbeit zur Konstituierung einer von staatlicher Obrigkeit und Kirchenregiment unabhängigen evangelischen Freikirche: als „Augsburgische Konfessionsverwandte“ im Sinne des Westfälischen Friedensvertrages, als „Ancient, Protestant, Episcopal Church“ durch britische Parlamentsakte von 1747 und 1749. Auf dieser kirchenrechtlichen Grundlage erfolgte auch die Ansiedlung der Herrnhuter in Schlesien. Maßgeblich wurden die von Friedrich II. in den Jahren 1742, 1746 und 1763 erteilten General-Konzessionen (Generalkonzession zu den Etablissements der mährischen Brüder in den gesamten königlichen preußischen Staaten insonderheit in Schlesien). So entstanden 1743 die Gemeinden Gnadenberg (Godnów), Kr. Bunzlau, und Gnadenfrei (Piława Górna), Kr. Reichenbach, 1746 Neusalz a. d. Oder (Nowa Sól), Kr. Frey-stadt/N. und 1781 Gnadenfeld (Pawłowiczki), Kr. Cosel. 1742 war es bereits auf dem Gut Trebus des Siegfried August von Gersdorf (1702-1777), Amt Görlitz, zur Gründung der Gemein-de Niesky gekommen.

Vor allem in den schlesischen Brüdergemeinen sollte das Wirt-schafts¬leben zu großer Blüte gelangen. Auf der Basis des oberlausitz-schlesischen Leinengewerbes baute Abraham Dürninger (1706-1773) sein weltweites Handelsimperium auf. Ihm ist es zu verdanken, daß noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Namen der Herrnhuter die Garantie für Solidität und feste Preise gegeben waren, wovon noch heute eine Skulptur an einem großen Textilkaufhaus in Wien Zeugnis gibt. Tatsächlich waren die Herrnhuter auf dem europäischen Kontinent die ersten, die nicht um den Preis handelten, sondern nach festgesetzten Preisen verkauften – eine wesentliche Voraussetzung rationalen, kalkulierbaren, planvollen Wirtschaftens.

Eine wichtige Stellung nimmt in den Brüdergemeinen das Erziehungs- und Schulwesen ein. Zinzendorf hatte es verstanden, in den Gemeinden eine erzieherische, pädagogische Gesinnung zu wecken, so dass stets und überall ausreichende Kräfte für die Arbeit an der Jugend zur Verfügung standen. Im persönlichen Kontakt und Erfahrungsaustausch mit den Philanthropen Johannes Bernhard Ba¬sedow (1723-1790) und Christian Gott¬hilf Salzmann (1744-1811) ergaben sich vielfältige Anregun¬gen für die Entwicklung neuer Erzie¬hungs- und Unterrichtsmethoden, die der pädagogischen und schulischen Arbeit beider Sei¬ten zugute kamen. So fand die Turnbewegung in den Brüdergemeinschulen begeisterte Aufnahme, so haben die Herrnhuter über Generationen hinweg mit „Dem Seidlitz“ den Geographieunterricht in Deutschland beeinflusst. Auch in den schlesischen Brüdergemeinen entstanden Internatsschulen, die weit über den lokalen Bereich hinaus ihren Einfluss geltend machten. Das Nieskyer Pädagogium (die ‚Muster-Schule‘ der Brüdergemeine) besuchten der Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), der Philosoph Jakob Friedrich Fries (1773-1834) und der Chef des Generalstabs, Graf Alfred Schlieffen (1833-1913). Hermann Ludwig Heinrich Fürst von Pückler-Muskau (1785-1871) war etliche Jahre Zögling des Erziehungsinstituts Uhyst bei Bautzen. Sie alle wurden mehr oder weniger durch eine vor allem das Gemüt ansprechende Erziehung geformt, die stark in das Gemeindeleben eingebunden war.

Der von aristokratischer Lebensform geprägte, dichterisch begabte Freie Reichsgraf von Zinzendorf hat es verstanden, das ganze Leben der Gemeinde liturgisch zu gestalten. So entstand in den zahlreichen Versammlungen und Festen eine Vielfalt von liturgischen Formen, die von Gesang und Musik begleitet waren. Die Musikalität der Böhmen und Mähren, aber auch der Schlesier, konnte hier zu voller Geltung gelangen. Und so verwundert es nicht, daß die bedeutendsten Poeten und Musiker der Brüdergemeine aus Schlesien kamen. Die Tradition der Singstunden (die von einem Leitgedanken bestimmte Singpredigt, in der von einer Melodie in die andere gewechselt wird), die Kinderchristnacht mit brennenden Kerzen und die Feier des Ostermorgens bei Sonnenaufgang auf dem Gottesacker haben sich bis in die Gegenwart erhalten. Die heute unter Denkmalschutz stehenden Gottesäcker der Brüdergemeine zeichnen sich durch eine große Schlichtheit aus. Die langen Grabreihen (Beete) sind mit einheitlichen, flachen Steinplatten versehen.

Die Wirksamkeit der Brüdergemeine im Osten blieb allerdings nicht auf Schlesien beschränkt. Die schlesischen Siedlungen der Herrnhuter bildeten auch die Brücke zur „Diaspora-Arbeit“, der Betreuung der verstreut wohnenden Freunde der Brüdergemeine im Warthe-, Netze- und Oderbruch. Mit Zustimmung der evangelischen Landeskirche und unter der Bedingung, dass die von der Brüdergemeine betreuten Kreise „nach wie vor in ihrer bisherigen Kirchengemeinde blieben“, entfaltete sich eine weitverzweigte Tätigkeit, die mit der Vertreibung 1945 ihr Ende fand. Das gilt auch für das 1827 unter den eingewanderten Pfälzern und Württembergern begonnene „Diaspora-Werk“ in Polen. Aus der polnischen Diaspora zweigte sich die Gemeinschaftspflege in Wolhynien ab, und Auswanderer von da bildeten dann wieder den Grundstock zum Kanadischen Distrikt der Nordamerikanischen Union.

Von weitreichender Bedeutung und größtem Einfluß außerhalb der deutschen Brüdergemeinen wurde die Wirksamkeit in den baltischen Provinzen. Das „Livländische Werk“ im heutigen Estland und Teilen Lettlands umfasste in der Blütezeit in der Mitte des vorigen Jahrhunderts über 270 Bethäuser mit über 6000 „National-Gehülfen“, d. h. einheimischen Laien, die mehr als 83000 Esten und Letten betreuten. Die Herrnhuter Bewegung spielte bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Emanzipation, die nach dem Ersten Weltkrieg in der Bildung eigener Staaten ihren Abschluß fand, eine wichtige Rolle. Da Herrnhut die Konstituierung einer eigenständigen Kirche nicht zuließ, ging der Einfluß jedoch stark zurück. Trotzdem sahen sich die Sowjets nach der Okkupation 1940 veranlaßt, ein Ver-bot der Brüdergemeinschaften auszusprechen, das erst mit der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität 1991 aufgehoben wurde.

Die am weitesten im Osten gelegene Brüdergemeinsiedlung war das 1767 an der Wolga gegründete Sarepta. Als ältestes erhaltenes Gebäude-Ensemble der Millionenstadt Wolgograd wurde es noch zu Sowjetzeiten (1988) zum Architekturmuseum (Denkmalschutzgebiet) erklärt. Nach der politischen Wende schuf man in Verbindung mit dem Freilichtmuseum „Alt-Sarepta“ ein deutsches Kulturzentrum. Aus der Verbannung zurückgekehrte Wolgadeutsche haben dort ihre lutherische Kirchengemeinde wiedergegründet.

Lit.: Hartmut Beck: Brüder in vielen Völkern. 250 Jahre Mission der Brüdergemeine, (= Erlanger Taschenbücher, 58), Erlangen 1981. – Erich Beyreuther: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf in Selbstzeug¬nis-sen und Bilddokumenten, Hamburg 1965. – Ders.: Die große Zin¬zen-dorf-Trilogie, Marburg/L. 1988. – Mari P. van Buijtenen, C. Dekker, H. Leeuwenberg (Hg.), Unitas Fratrum. Herrnhuter Studien, Moravian Studies, Utrecht 1975. – Hans-Christoph Hahn u. Hellmut Reichel (Hg.): Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760. Hamburg 1977. – John Taylor u. Kenneth G. Hamilton: History of the Moravian Church. The renewed Unitas Fratrum 1722-1957, Bethlehem 1967. – Helmut Hickel (Hg.): Alle Morgen neu. Die Herrnhuter Losungen von 1731 bis heute, Berlin 1979. – Stephan Hirzel: Der Graf und die Brüder. Die Geschichte einer Gemeinschaft, Witten 31950. – Dietrich Meyer (Hg.): Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung, Düs¬sel¬dorf 1987. – Ders.: Zinzendorf und Herrnhut, in: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, hg. v. M. Brecht u. K. Deppermann, Göttingen 1995, S. 3-106. – Guntram Philipp: Art. Gnadenberg, Gnadenfeld, Gnadenfrei, Neusalz, in: Handbuch der historischen Stätten, Bd. Schlesien, hg. v. Hugo Weczerka, Stuttgart 1977. – Ders.: Die Wirksamkeit der Herrnhuter Brüdergemeine unter den Esten und Letten zur Zeit der Bauernbefreiung, Köln-Wien 1974. – Ders.: Die Sozial- und Wirtschaftsstruktur und die kulturellen Ausstrahlungen der Herrnhuter Brüdergemeinen in Schlesien im 18. und 19. Jahrhundert, in: Kirchen- und Bekenntnisgruppen im Osten des Deutschen Reiches. Ihre Beziehungen zu Staat und Gesellschaft, hg. v. Bernhart Jähnig u. Silke Spieler, Bonn 1991, S. 71-130. – Heinz Renkewitz (Hg.): Die Brüder-Unität, (Die Kirchen der Welt, Bd. V), Stuttgart 1967. – Unitas Fratrum, Zeit¬schrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine, Hamburg 1978 ff. – Otto Uttendörfer: Alt-Herrn¬hut. Wirtschaftsgeschichte und Religionssoziologie Herrnhuts während seiner ersten zwanzig Jahre (1722-1742); Wirtschaftsgeist und Wirtschaftsorganisation Herrnhuts und der Brüdergemeine von 1743 bis zum Ende des Jahrhunderts, Herrnhut 1925/26, Repr. in: N.L. v. Zinzendorf, Materialien und Dokumente, Reihe 2, Bd. XXII. Schlesien und Herrnhut, hg. v. E. Beyreuther u. a., Hildesheim u. a. 1984.

Bild: Herrnhut 1765 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Guntram Philipp