Ereignis vom 1. Januar 1846

Gründung des „Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens“

Porträt von Gustav Adolf Harald Stenzel

Am 18. Oktober 1844 publizierte der seit 1827 als ordentlicher Professor an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau lehrende Historiker und Leiter des Breslauer Pro­vinzialarchivs Gustav Adolf Harald Stenzel (1792-1854) in einem gedruckten Circular sowie in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, darunter auch in den „Schlesischen Provin­zialblät­tern“, einen „Aufruf zur Bildung eines Vereins für Ge­schichte und Alterthum Schlesiens.“ Als künftiges Aufgaben­feld und geplante Zielsetzung des zu gründenden historischen Vereins, für den er vermutlich die Entwicklung in anderen deutschen Landschaften vor Augen hatte, for­mulierte Stenzel die Edition bislang ungedruckter, vornehmlich in deutscher Sprache abgefaß­ter Quellen zur schlesischen Geschichte sowie die Publikation „tüchtiger Aufsätze“ aus dem Bereich der schlesischen Landesgeschichte. Weiterhin sollten sich die Freunde schlesischer Ge­schichte zur „schriftlichen und münd­lichen Mittheilung geschichtlicher Nachrichten und zur Erörte­rung derselben“ zusammenfinden, darüber hinaus, wie Stenzel es umfassend formulierte, „zur Förderung der Schlesischen Geschichts- und Alterthumskunde auf jede Weise, nach allen Richtungen hin.“ Als geplanten Sitz des Vereins schlug Stenzel die schlesische Landeshaupt­stadt vor, wo unter seiner Leitung auch eine schlesische landeskundliche Bibliothek und eine Sammlung eingerichtet werden sollten.

Der auf der alleinigen Initiative beruhende Vorstoß Stenzels, der in allen Teilen Schlesiens ein unerwartet großes Echo fand – bis zum Januar 1845 hatten sich bereits rund 200 Interessen­ten gemeldet -, markiert freilich nicht die Anfänge der kriti­schen Geschichtsforschung in Schlesien. Eine neue, intensive und für die Folgezeit bedeutsame Phase des bis dahin im gan­zen eher we­nig entwickelten wissenschaftlichen Vereinswesens begann bereits im ausgehenden 18. Jahr­hundert mit der Auf­klärung. Staatliche Interessen vor allem auf dem Gebiet der sich entfalten­den Agrar-, Wirtschafts- und Naturwissenschaf­ten traten neben diese. Im Jahre 1771 grün­dete der preußische Justizminister Johann Heinrich von Carmer in Schlesien die „Patriotische Ge­sellschaft“ bzw. die „Ökonomisch-Patriotische Societät“, deren Organisation auf den preu­ßi­schen und öster­reichischen Schulreformer und Saganer Abt Johann Ignaz Fel­biger zurück­ging. Die Vereinigung, die vor allem agrarwissen­schaftliche und wirtschaftliche Ziele verfolgte, er­losch aller­dings schon zwanzig Jahre später. Mit der 1803/1804 gegrün­deten „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur“, zu deren Ehrenmitgliedern Goethe und Alexander von Humboldt gehörten, entstand für das gesamte 19. Jahrhundert die zentrale und universalwis­senschaftlich ausgerichtete Vereinigung Schlesiens. In der historisch-geographischen Sektion der Ge­sellschaft wirkte der Anhaltiner Stenzel, der im Jahre 1820 an die Universität Breslau berufen wurde, lange Jahre als Sekretär und veröffentlichte zahlreiche Quellen und Studien in den jährlich erscheinenden Berichten. Insofern können Stenzels Veröffentlichungen und sein Wirken innerhalb der „Schle­si­schen Gesellschaft für vaterländische Cultur“ als Vor­läufer des späteren Vereins angesehen werden, auch wenn die orga­ni­sa­to­ri­schen Grundlagen dieser Ver­einigung eher be­schei­den anzu­set­zen sind. „Es scheint mir, als ob man durch plan­loses Verfahren beim Druck der Quellen viel Zeit und Geld zersplittert“, berichtete Stenzel 1836 in einem Brief an Leo­pold von Ranke über seine Erfahrungen (Brief vom 17.4.1836). Und noch zu Sil­vester 1841 übersandte er Ranke zwei Jahresberichte, die er nüchtern als „sehr mager“ be­zeich­nete, „allein ich habe so viel zu arbeiten und kann nicht viel mehr thun.“ (Brief vom 31.12.1841).

Ein nur kurze Zeit bestehender „Verein für schlesische Ge­schichte und Alterthümer“ hatte sich in den Jahren 1818 bis 1825 unter der Leitung des wie Stenzel nicht aus Schlesien stammenden Schriftstellers und Publizisten Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783-1829) gebildet. Bü­schings Tätigkeit, die sich neben den schriftlichen Quellen vor allem auf die „Alterthümer“, die Denkmäler der materiellen Kultur konzen­trierte, wurde später von Hermann Markgraf als bahnbrechend bezeichnet, auch wenn der von ihm ins Leben gerufene Verein keinen dauerhaf­ten Bestand hatte. Im Auftrag Wilhelm von Humboldts besuchte Büsching auf einer Reise die schlesischen Bibliotheken und legte später einen Entwurf zur Reorganisa­tion des öffentlichen und privaten Bibliothekswesens und der Kunstsammlungen in Schlesien nach der Säkularisati­on vor. Als erster Archivar des Schlesischen Provinzialarchivs seit 1810 und Leiter einer Sam­melstelle an der Universität, aus der sich später das „Museum schlesischer Alterthümer“ ent­wic­kelte, war er mit den Verhältnissen bestens vertraut. Die auf ihn zurückgehende historische Vereinigung hatte nur eine kurze Blüte und erlosch, als sich Büsching aus gesundheitli­chen Gründen von seinen Aktivitäten zurückziehen mußte.

Aus diesen Erfahrungen leitete Stenzel, der sich als Begründer einer wissenschaftlich fundier­ten Geschichtsschreibung im Bereich der Mediävistik in Breslau einen Namen gemacht hatte, die bereits erwähnten Ziele für den geplanten Verein ab. Eine im Januar 1846 abgehaltene erste Generalversammlung verabschiedete die von Stenzel erarbeiteten Statuten und wählte ihn zum Vorsitzenden des Vereins. Nach der Genehmi­gung der Statuten durch eine Kabinettsordre König Friedrich Wilhelms IV. am 8. April 1846 konnte der Verein seine Arbeit mit Vorträgen und Versammlungen aufnehmen. Am Ende des Gründungsjahres zählte der Verein bereits 453 Mitglieder.

Wer sich mit schlesi­scher Geschichte beschäftigte oder an ihr interessiert war, ganz gleich ob Fachmann oder Laie, innerhalb oder außerhalb Schlesiens, gehörte dem Verein an, der als maßgebliches Organ die schlesische Geschichtsforschung über viele Jahrzehnte hinweg mate­riell und ideell richtung­weisend getragen hat. Seiner sozialen Struktur nach entsprach der Ver­ein in seiner Gründungs­phase dem Typus des vormärzlichen Geschichtsvereins, da zu­nächst Grundbesitzer und Hono­ratio­ren unter den Mitgliedern überwogen. Ein erstmals 1855 pu­bliziertes Mitgliederverzeich­nis wies 79 Breslauer und 119 auswärtige Mitglieder, daneben elf korporative Mitglieder auf. Unter den letzteren die „Schlesische General-Landschafts-Direction“ in Breslau, die „Oberschlesische Fürstenthums-Landschaft“ in Ratibor, die landwirt­schaftlichen Vereine in Breslau und Oppeln, zahlreiche Magistrate, Schulen und Bildungsan­stalten, darunter die Kö­nigliche Ritterakademie in Liegnitz. Die Vielzahl der hier angeführten Institutionen verweist auf die breite Verankerung des Vereins in Schlesien. Zu den Folgewir­kungen der Gründung von 1846 sind auch die um die Jahrhun­dertwende entstandenen regio­nalgeschichtlichen Verei­nigun­gen in Schlesien zu rechnen, so beispielsweise in Glatz 1881/1882, Neisse 1897, Liegnitz 1904 und Beuthen 1911. Seinem Alter nach gehört der Verein zu den ältesten Ge­schichtsverei­nen im gesamten deutschen Sprachraum. Unter den Ehrenmitgliedern des Vereins sind keine geringeren als Leopold von Ranke und Johann Gustav Droysen zu nennen, daneben eine lange Reihe bedeutender Historiker und Archi­vare preu­ßisch-deutscher und österreichischer For­schungsinsti­tutionen.

Im Laufe seiner nunmehr 150jährigen Geschichte entfaltete der Verein für Geschichte Schle­siens – der Zusatz „und Alterthum“ entfiel im Jahre 1905 – vielfältige Aktivitäten und trat durch eine Reihe von Veröffentlichungen hervor. Seine Erfolge und Mißerfolge waren oftmals mit der Person des Vorsitzenden verbunden. So geriet der Verein schon kurz nach 1846 in eine Krise, als die Vereinsarbeit durch das politische Engagement Stenzels in der Frankfurter Paulskirche praktisch unterbrochen wurde. Unter seinem Nachfolger Richard Roepell konnte 1855 der erste Band der Vereinszeitschrift publiziert werden, der dem Andenken Stenzels ge­widmet war. Weitere Bände folgten zunächst in unregelmäßigen Abständen. Während der Vor­standsschaft Colmar Grünhagens seit 1871 gelang es zudem, Autoren aus den böhmischen Ländern und aus Polen für die Mitarbeit an der Zeitschrift zu interessieren. Unter Grünhagens Leitung überflügelten die wissenschaftlichen Erträge des Ver­eins an Umfang und Gehalt die der meisten anderen Ge­schichtsvereine, da sie bereits die Grundlagen einer modernen Landes­geschichtsschreibung antizipierten. Unter den herausra­gen­den Publikationen dieser Zeit sind rund 60 Bände Quellen­werke zu nennen, darunter die Reihe der „Sciptores rerum Silesiaca­rum“ und der „Codex Diplomaticus Silesiae“. Bis zum Jahre 1941 erschienen insgesamt 39 Bände der „Darstellungen und Quellen zur schlesischen Geschichte“. Neben die Vereins­zeit­schrift, die bis zum Jahre 1943 erscheinen konnte, traten 1908 als zusätzliches Organ die „Schlesischen Geschichtsblät­ter“.

Nach Grünhagen prägten Historiker wie Hermann Markgraf, Konrad Wuttke und Johannes Ziekursch die Geschicke des Vereins, dessen Entwicklung durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges stark gebremst worden war. Im Zuge der Fort­entwicklung der Wissenschaftsor­ganisation trat dem Verein die 1921 gegründete Historische Kommission für Schlesien ergän­zend zur Seite. Der Verein darf so als Vorläufer, später als Partner der Historischen Kommis­sion gelten. Eine Reihe von Projekten und Publikationen wurden dabei von der Kommis­sion und dem Verein in Kooperation durchgeführt, beide Gremien waren überdies personell aufs engste miteinander verbunden. Für das letzte Jahrzehnt deutscher schlesischer Geschichtsforschung in Breslau sind die Namen von Hermann Aubin und Ludwig Petry zu nennen, die bereits die Historiker­generation prägten, die nach 1945 die personelle Basis für die schlesischen Forschungen abgeben sollte. Im Zeitschriftenband des Jahres 1942 verwies der Schriftführer Ernst Maetschke auf die kriegsbedingten Schwierigkeiten beim Erscheinen hin. Das letzte Heft der „Geschichtsblätter“ 1943 verabschiedete sich mit der Mitteilung: „Im Sinne der totalen Kriegführung er­schei­nen die Schlesischen Geschichtsblätter bis auf weiteres nicht mehr.“

Durch das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Vertreibung der Bevölkerung verlor der Verein sein Archiv, seine Bibliothek, seine Sammlungen, einen Großteil seiner Mitglieder und nicht zuletzt seine lebendige Verwurzelung in Schlesien selbst. Und dennoch stellte dieser Verlust an Kontinuität, die nun un­terbrochene Bindung an Archive, Bibliotheken und For­schungseinrichtungen nicht das Ende des Vereins dar. Im Jahre 1971 kam es in Würzburg durch die Anregungen des letzten Vorstandsmitglieds der Historischen Kommission Hermann Aubin und des langjährigen Mitglieds Günther Grundmann zu einer Wiederbegründung des Vereins, dessen Vorsitz bis 1989 Ludwig Petry innehatte. Hatte der Verein 1945 noch rund 1000 Mitglieder, so mußte man nach dem Krieg mit weniger als einem Zehntel wieder anfan­gen, was den Aktivitäten des heute in Würzburg ansässigen Vereins naturgemäß Grenzen setzte. Trotzdem gelang es, die Tradition der wissenschaftlichen Erar­beitung der schlesischen Geschichte und Landeskunde fortzu­setzen.

Es war dies eine Tradition, die durch das fruchtbare Zusam­menwirken verschiedener Institu­tionen und Personenkonstel­lationen geprägt war, aber auch durch das Bewußtsein, die schlesi­sche Geschichte mit derjenigen aller seiner Nachbarn, der Polen und Tschechen, zusammen zu sehen, zu verstehen und darzustellen. Diese Gedanken, so formulierte es ein­dring­lich Ludwig Petry in seiner Rede zum 125. Vereinsjubiläum 1971, seien schon an der Wiege des Vereins 1846 gestanden. Das 150. Jubiläum des Vereins verweist angesichts der politi­schen Umwäl­zungen in den vergangenen Jahren um so mehr auf das Anliegen, das Inter­esse an einer der bedeutendsten Geschichts-, Kultur- und Brückenlandschaften Europas zu er­halten und der jüngeren Generation näherzubringen.

Quellen: Wichtige Veröffentlichungen des Vereins: (Zeitschriften) Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Alterthum) Schlesiens (ZVGS) 1 (1855) – 77 (1943). – Schlesische Ge­schichtsblätter. Mit­teilungen des Vereins für Geschichte Schlesiens 1 (1908) – 34 (1943). Zu beiden Zeitschriften vgl. Wolfgang Kessler (Bearb.): Zeitschrift des Vereins für Geschichte (und Alterthum) Schlesiens 1855-1943, Schlesische Geschichtsblätter 1908-1943. Gesamtin­haltsverzeichnis. Hrg. v. d. Stiftung Schlesien unter Mitwirkung des Vereins für Ge­schichte Schlesiens (Schlesische Kulturpflege, Bd. 1). Hannover 1984. – (Schriftenreihen) Sciptores rerum Silesiacarum, Bd. 1-2 hrsg. v. Gustav Adolf Harald Stenzel, Bd. 3-17 hrsg. v. Verein für Ge­schichte (und Alterthum) Schlesiens. 17 Bde. Breslau 1835-1902. – Codex Diplomaticus Silesiae. 36 Bde. Breslau 1857-1933. – Darstel­lungen und Quellen zur schlesischen Ge­schichte. 39 Bde. Breslau 1906-1939 (zum Teil Nachdrucke Aalen 1973 ff.). – Nach 1945: Werner Bein/Ulrich Schmilewski (Hrsg.): Wartha. Ein schlesischer Wallfahrtsort (Einzelschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens). Würzburg 1994.

Lit.: Hermann Aubin: Die letzte Historikergeneration an der Universi­tät Breslau, in: Schlesien 6, 1961, S. 133-138. – Ders.: Gustav Adolf Stenzel und die geistige Erfassung der deutschen Ostbewegung, in: JSFUB 6, 1961, S. 48-66. – Norbert Conrads (Hg.): Schlesien (Deutsche Geschichte im Osten Europas). Berlin 1994. – Wilhelm Dersch: Vierzig Jahre schlesische Ge­schichtsforschung, in: ZVGS 65, 1931, S. 1-53. – Hermann Heimpel: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Ge­schichte, 1). Göttingen 1972. – Hermann Markgraf: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens. Breslau 1896. – Josef Joachim Menzel: Die Historische Kommission für Schlesien und ihre Arbeits­vorhaben, insbesondere der „Geschichtliche Atlas von Schlesien“, in: Lothar Bossle/Gundolf Keil/Josef Joachim Menzel/ Eberhard G. Schulz (Hrsg.): Schlesien als Aufgabe interdisziplinärer Forschung (Schlesische Forschungen, Bd. 1). Sigmaringen 1986, S. 1-14. – Ludwig Petry: Die Historische Kommis­sion für Schlesien im 6. Jahr­zehnt ihres Bestehens, in: JSFUB 22, 1981, S. 240-254. – Ders. /Herbert Schlenger: Fünfzig Jahre Historische Kommission für Schlesien, in: JSFUB 17, 1972, S. 385-416. – C. Varrentrapp: Briefe an Ranke von älteren und gleichalterigen deutschen und französischen Historikern, in: HZ 105, 1910, S. 105-131. – Heinrich Wendt: Die wissenschaft­lichen Vereine Breslaus, in: ZVGS 38, 1904, S. 71-109.

Bild: Porträt von Gustav Adolf Harald Stenzel / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Johannes Schellakowsky