Ereignis vom 1. Januar 1797

Immanuel Kant: „Metaphysik der Sitten“

Gravur von Immanuel Kant

Im Januar 1797 ließ Kant bei Friedrich Nicolovius in Königs-berg den ersten Teil (Metaphysische Anfangsgründe der Rechts¬¬lehre) der seit langem geplanten Metaphysik der Sitten erscheinen. Der zweite Teil (Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre) folgte im August. Bereits 1798 wurde eine Neuauflage der Rechtslehre nötig, der Kant ”Erläuternde Anmerkungen” beigab. Trotz der Angabe auf dem Titelblatt (1798) ist diese Auflage jedoch offenbar erst 1799 tatsächlich erschienen. * Besonders die Rechtsphilosophie war gespannt erwartet worden, nachdem bereits seit längerer Zeit Anhänger Kants versucht hatten, am Leitfaden der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) bzw. der Kritik der praktischen Vernunft (1788) eine solche gleichsam vorweg zu entwerfen. 1797 stellte sich heraus, dass man dabei Kants Auffassungen nicht getroffen hatte. Die Wirkung der Metaphysik der Sitten war beträchtlich, wie man an den zahlreiche Rezensionen und an einer Reihe von durch sie veranlassten Kompendien ermessen kann.

Während die Werke von 1785 und 1788 die kritisch-formale Grundlegung der praktischen Philosophie geben, bringt die Metaphysik der Sitten, systematisch auf jenen aufbauend und darüber hinaus die einschlägigen Lehren der Tradition weitgehend verwertend, die inhaltliche Durchführung der Pflichtenlehre. Die verbreitete Rede vom berüchtigten Formalismus Kants ist daher nicht nur eine Halbwahrheit, sondern sie verdeckt auch, dass gerade der spezielle Formalismus der Kantischen Grundlehre die Grundsätze an die Hand gibt, um eine Tafel inhaltlich bestimmter Pflichten bzw. Werte entwickeln zu können.

Rechtslehre und Tugendlehre (Ethik i.e.S.) sind in der Lehre vom Sittengesetz begründet, welche die vorangegangenen Schriften entfalteten. Das Sittengesetz, das angibt, was Pflicht überhaupt ist, stellt das letztbegründende Prinzip des etwaigen unbedingten (nämlich moralischen, nicht bloß technisch-pragmatischen) Wertes unserer Praxis dar; es ist weiterhin das Kriterium der Unterscheidung des moralisch Gebotenen, Verbotenen und Erlaubten; schließlich aber bildet es auch das Prinzip aller inhaltlichen kategorischen (unbedingt gebietenden) Praxisnormen, d.h. der einzelnen Pflichten. Da an unserer Praxis Zwecksetzen und Handeln zu unterscheiden sind, spezifiziert sich das Sittengesetz inhaltlich zu zwei Grundprinzipien, die den unbedingten Wert unseres Handelns (Rechtsprinzip) bzw. unseres Zwecksetzens (Prinzip des Ethos) begründen. Dem entspricht die Gliederung der Metaphysik der Sitten in eine Rechtslehre und eine Ethik.

Das Rechtsprinzip, das (apriorische) Rechte und Pflichten begründet, bezieht sich nicht auf Gesinnungen und Zwecke, sondern allein auf das äußere Tun und Lassen des Menschen: ”Eine jede Handlung ist recht, die, oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann.” Die grundlegende Rechtspflicht besteht demnach darin, den Gebrauch der Handlungsfreiheit auf die Bedingung einzuschränken, dass er mit der gleichen, größtmöglichen Freiheit aller anderen zusammenbestehen kann. Auf einen solchen Freiheitsgebrauch hat jedermann ein ursprüngliches, unverlierbares und unveräußerliches Recht. Es ist das einzige ”angeborene”, vorstaatliche, jedem Menschen bereits kraft seiner bloßen Menschheit zustehende Recht (Lehre vom ”angeborenen” Recht). Dieses impliziert einmal die Rechtsgleichheit aller Subjekte, zum anderen aber eine Zwangsbefugnis. Denn das Recht kann seinem Sinn nach Freiheit und Gleichheit nur dann gewährleisten, wenn es die Befugnis einschließt, Freiheitsverhinderung durch Zwang gegenüber dem Freiheitsverletzer zu verhindern.

Auf jenem grundlegenden Recht beruht des weiteren die Befug¬nis, Rechte, beispielsweise an Sachen und an Leistungen, in besonderen Rechtsakten (etwa Verträgen) zu erwerben und die Pflicht, die dergestalt erworbenen Rechte anderer nicht anzutasten (Privatrecht).

Das angeborene und das erwerbliche Recht müssen dem Grundsatz nach unwirksam bleiben, wenn sie nicht durch öffentliche (positive) Gesetze gesichert werden. Daher ist es ein kategorischer Imperativ des Rechts, einen Zustand rechtlicher Sicherheit herbeizuführen, d.h. in einen bürgerlichen (staatlichen) Zustand einzutreten, in dem die geforderte wechselseitige Freiheitseinschränkung durch Abtretung der rechtlichen Zwangsbefugnis eines jeden einzelnen an eine unabhängige Zwangsinstanz verwirklicht wird. Dabei ist der oberste Zweck des Staates die Sicherung des Rechtes und damit der Freiheit aller. Daraus ergibt sich eine Reihe besonderer Rechtsforderungen an den Staat in seiner Struktur und in seiner Gesetzgebung. Er ist durch das angeborene Recht seiner Bürger an die Norm der Gleichheit und größtmöglichen Freiheit gebunden, der Idee der Volkssouveränität und dem Prinzip der Gewaltenteilung verpflichtet (Öffentliches Recht).

Der Zustand der Rechtssicherheit ist derjenige des Friedens zwischen den Bürgern. In seiner Friedensfunktion erstreckt sich das Recht darüber hinaus auf das Verhältnis zwischen den Staaten (Völkerrecht). Es fordert hier die Bildung einer Völkergemeinschaft, in der die rechtliche Freiheit der Staaten (der Völkerfriede) erhalten werden kann, und in der die Gemeinschaft jedes einzelnen Subjekts mit allen anderen in einem Weltbürgerrecht möglich ist.

Betrifft die Rechtslehre die Normen für unser Handeln, so stellt die Tugendlehre eine Theorie dar von den Zwecken, die zu haben Pflicht ist. Als solche hängt sie systematisch ab von dem zweiten der erwähnten Grundprinzipien. Aus diesem ergeben sich inhaltliche ethische Gebote; die beiden ersten, in der Folge weiter differenzierten, beziehen sich auf die eigene (physische, intellektuelle und moralisch-praktische) Vervollkommnung bzw. auf die Beförderung der Glückseligkeit der anderen Subjekte. Anders als die (strikten) juridischen lassen die (”weiten”) ethischen Pflichten dem Subjekt einen gewissen Spielraum hinsichtlich ihrer konkreten Verwirklichung. Kategorisch geboten sind hier bestimmte Zwecke und damit auch deren Verwirklichung, nicht aber bestimmte Verwirklichungs-mittel (Handlungen). Gefordert ist die Verwirklichung des gebotenen Zwecks, ”so viel als unter den gegebenen Bedingungen möglich ist”, gemäß einer vernünftigen Abwägung.

Lit.: Ebbinghaus, Julius: Gesammelte Schriften I u. II, Bonn 1986 u. 1988; Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit, Berlin 1983; Oberer, Hariolf: Rechtsgeltung und Praxisgeltung. In: Lehrstücke der praktischen Philosophie und der Ästhetik, hrsg. v. K. Bärthlein u. G. Wolandt, Basel 1977; Wagner, Hans: Die vier großen Probleme Immanuel Kants: Wissen * Sittlichkeit * Recht * Religion. In: H.W., Kritische Philosophie, Würzburg 1980; Wolandt, Gerd: Kant und der Staat. In: Die historischen Wirkungen der östlichen Regionen des Reiches, hrsg. v. H. Rothe, Köln 1992.

Bild: Gravur von Immanuel Kant / Quelle: By „Masters of Achievement“ text, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=50205208

Stephan Nachtsheim