Ereignis vom 1. Januar 1795

Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf

Immanuel Kant, 1791

Es gibt philosophische Werke, deren Inhalt sich über mehrerere Jahrhun­derte hinweg von einer geradezu unheimlichen Ak­tualität erweist. Oft liegt sie darin begründet, daß die damals behandelten Probleme im wesentlichen auch unsere Pro­bleme sind und wir anstelle der damals vorgeschlagenen Lö­sun­gen keine besseren kennen. Ein solcher Fall liegt auch mit Kants kleinem Traktat „Zum ewigen Frieden“, dem 1796 eine erwei­ter­te zweite Auflage folgte, vor. Hier behandelt Kant auf der Basis seiner bis dahin entwickelten Rechtsphilo­sophie das Pro­blem, wie ein dauerhafter Friede zwischen den Völkern und Staaten möglich sein kann und welche Vorbe­dingungen dazu not­wen­dig sind. Die Wirkung dieser Schrift auf die Zeitgenos­sen war erheblich: Dies spiegelt die unten angegebene Text­sammlung wider, die neben dem Kant-Text auch Beiträge von Herder, Fichte, Görres, Lichtenberg, Schlegel u.a. enthält. Die grundsätzliche philosophische Frage, die uns Kant stellt, lautet: Ist ein „ewiger“ Friede überhaupt mög­lich? Und hat uns die Etablierung von Organisatio­nen wie des Völkerbundes bzw. der UNO über den Kantischen Lösungsansatz hinaus grund­sätz­lich weitergebracht? Oder wie­gen wir uns nach Mei­nung unse­res Königs­ber­­ger Philoso­phen hier nicht in einer trüge­rischen Sicherheit? Kurz sei das Problem skizziert, das Kant anspricht, dann Kants Lösung mit ihrem aktuellen Bezug.

Das Problem: Es geht Kant zunächst nicht um „Krisen-Mana­gement“ oder um „Frie­dens-Missionen“. Es geht Kant auch nicht um die Frage, wie dieser oder jener bestimmte bewaff­nete Konflikt geschlichtet oder vermieden werden kann. Ebensowenig geht es ihm um die Frage, wie ein tatsächlicher Frie­denszustand aufrechterhalten werden kann, denn dieser kann jederzeit in einen kriegerischen Zustand umschlagen. Der tat­sächliche Frieden ist für Kant eher ein Waf­fenstillstand, ein Zwischenstadium zwischen möglichen gewalttätigen Ausein­andersetzungen zwischen Staaten. Die Möglichkeit eines dau­erhaften Friedens zwischen den Völkern ist vielmehr eine Frage, die für Kant nicht historisch-empirisch, sondern nur durch den Rückgriff auf rechtsphilosophische Überlegungen beantwortet werden kann. Denn man muß nach Kant nicht nur er­­klären, warum es notwendig ist, keinen Krieg zu füh­ren, sondern vor allem die Kriegsmöglichkeit zwischen den Staaten beseitigen. Kants Fassung des Frie­densproblems greift hier noch hinter bloß pazifistische Überlegungen, die sich allein auf die zweifellos berechtigte Verabscheuung krie­gerischer Gewalt gründen, zurück und macht auf folgendes grundsätzli­ches Problem aufmerksam. Staaten sind souveräne Gebilde, d.h. jeder Staat hat das Recht auf Selbst­bestimmung und das Recht, daß andere Staaten sich nicht in seine Be­lan­ge einmi­schen, ihre Politiker bestimmen selbst über Verhalten und Interes­sen ihres Staates. Selbst wenn man allen Staats­män­nern Gutwilligkeit und Un­ei­gennützigkeit unterstellen würde, bliebe die Möglich­keit eines Krieges durch­aus beste­hen, denn selbst unter Gut­willigen können sich Interes­sen­kol­li­sionen ergeben. Es muß darum nach Kant alles darauf ankom­men, den Staaten die Streitgründe zu nehmen. Kann also das Verhältnis der Staaten ebenso nach Rechtsgrundsät­zen geord­net werden, wie die inne­ren Angelegenheiten der Bürger eines Staates durch Recht, Ge­setz und Sanktionen ge­ordnet wer­den können? Kant macht geltend, daß das Völker­recht eine we­sent­li­che Beson­der­h­eit hat: Das Recht der Staaten unter­einander wird nicht durch all­gemeine Gesetze geschützt, denn aufgrund der Souveränität der Staaten exi­stiert kei­ne Zwangsinstanz, die Rechtsverstöße ahnden könn­te. Das Völ­kerrecht ähnelt da­rum in vieler Hin­sicht dem vor-rechtlichen Naturzustand, in dem Krieg die Re­gel und Frieden eher die Ausnahme darstellt. Wie aber ist dann Frieden mög­lich?

Kants Lösungsansatz: Die Lösung, die uns Kant vorschlägt, kleidet er direkt in einen konkreten Vertragsentwurf mit di­ver­sen Erläuterungen. Der Frieden selbst – nicht als Waffen­still­stand, sondern als Verhinderung der Kriegsmög­lich­keit ver­standen – muß zum Gegenstand eines völkerrechtlichen Ver­trages ge­macht werden. Dazu reicht keine unverbindliche Ab­sichtserklärung der Staaten aus. Bevor überhaupt ein Frie­dens­vertrag möglich ist, bedarf es dazu ei­ni­ger unerläßlicher Vor­bedingungen – in den sog. Präliminar-Artikeln nieder­ge­legt – und den näheren Ausführungsbestimmungen, den sog. Defini­tiv-Ar­tikeln, die der Verwirklichung dienen. Der lei­tende Rechts­aspekt ist für Kant, daß den Staaten zwar die Frei­heit, diesen Rechtsartikeln zuwider zu han­deln einge­räumt werden muß, diese Zuwiderhandlung aber zugleich den po­­ten­tiellen Kriegszustand zwischen den Völkern notwen­dig machen wür­de. Zu die­sen Voraussetzungen gehört bei­spiels­weise die wech­selseitige Akzeptierung des Status quo (sonst ist gleich der Grund des nächsten Krieges gegeben, weil jedes Staaten­gebilde irgendwann durch Krieg entstanden ist), wei­terhin der Grundsatz der Nichteinmischung in die Angele­gen­heiten eines anderen Staates. Von besonderer Aktualität ist der dritte Arti­kel. Modern ausgedrückt bedeutet er, daß vor Frie­densab­schlüssen zuerst (ausgewogen) abgerüstet wer­den muß, bis schließlich an die Stelle stehender Heere eine Miliz treten kann. Denn für Kant birgt jedes Rüsten, jeder Unterhalt ste­hender Berufsheere schon den Keim des Wettrüstens, das un­vermeidlich zum Kriege führt, in sich.

Die drei Definitivartikel schlagen dann folgende Regelungen vor, die hier nur kurz benannt seien. Von besonderer Wich­tigkeit ist der erste Artikel. Er besagt, daß die innere bürgerli­che Verfassung in jedem Staat, modern ge­spro­chen, eine rechtsstaatliche (Kant sagt: eine republikanische) sein soll. Das heißt, mit Diktaturen oder totalitär verfaßten Staaten ist ein solcher Friedens­vertrag unmöglich zu schließen. Der Grund dafür ist einfach der: man kann diesen Systemen nicht trauen. Denn solche Staaten sind dadurch ge­kenn­­zeich­net, daß sich ihre Machtinhaber beliebig und willkürlich über die In­teressen ihrer Bürger hinwegsetzen können, also über die Verhältnisse der­jenigen, die im Kriegsfalle Eigentum und Leben riskieren müßten, so daß also so etwas wie ein natürli­cher Druck, eine Kontrolle der Bürger auf die Staatsführung unmöglich zustan­de kommen kann. In einem solchen nicht rechtsstaat­lich ver­faßten Staate hängt es also bloß vom Zufall ab, ob die Erhal­tung des Friedenszustandes seinen Machtha­bern gelegen ist oder nicht. Der zweite Definitiv-Artikel for­dert, daß das Völ­kerrecht auf einer Föderation freier Staaten gegründet werden muß, die ein freiwilliger Zusammenschluß gleichberechtigter freier Partner ist. Dieser Artikel bedeutet die wechselseitige Verpflichtung, sich gegenseitig in der Ver­teidigung beizuste­hen und im Falle von Interessenkollisionen unter keinen Um­ständen Krieg gegeneinander zu führen, son­dern diese fried­lich zu lösen. Jedem Staat muß es freistehen, sich dieser Föde­ration anschließen zu können. Der letzte De­finitiv-Artikel schließlich räumt allen Nicht-Staatsbürgern ein Besuchsrecht, das noch kein Gastrecht (Asylrecht) ist, ein. Daraus folgt un­mittelbar, daß kein Staat das Recht hat, seine Bürger in sei­nen Grenzen einzusperren. Dieser von Kant skizzier­te Zustand eines dauerhaften Friedens zwischen den Völkern und Staaten ist auch heute noch nicht erreicht. Viel­leicht ist er historisch niemals zu verwirklichen. Dennoch ist der „ewige Friede“ eine not­wen­dige Idee, denn sie ist die einzige, die das Verhältnis souveräner Staaten untereinander nach Rechtsgesichtspunkten bestimmt. Der dauerhafte Friede hat seinen Grund – so Kants Auskunft – allein in der philosophi­schen Idee des Rechts.

Aktualität: Ist die soeben nur kurz angedeutete Lösung Kants denn alles, so könnte man fragen, was die Philosophen hier zustande gebracht haben? Kant selbst hat etwas sarkastisch in der Vorbemerkung auf das Schild eines Gast­hofs, das einen Friedhof abbildete und mit der Überschrift „Zum ewigen Frie­den“ versehen war, hingewiesen und bemerkt, daß Politiker auf den Phi­lo­so­phen „mit großer Selbstgefälligkeit“ herab­sehen, den man immer „seine elf Kugeln auf einmal wer­fen las­sen kann, ohne daß sich der weltkundige Staatsmann daran kehren darf“. Kants Schluß ist einfach und radikal: Es gibt keine ge­rechten und keine ungerechten Kriege. Denn der Krieg hebt jeden Rechtszu­stand auf, in dem allein über ge­recht und ungerecht entschieden werden kann. Daß ein Staat sich gegen die Aggressionen eines anderen Staates weh­ren muß, kann nicht rechtlich geboten werden, weil es ohne­hin schon na­turnotwendig (Selbsterhaltung) ist. Sobald das Völkerrecht durch einen Staat außer Kraft gesetzt wird, befin­den sich diese Staaten quasi im Naturzustand, also in einem rechtsfreien, in einem kriegspotentiellen Zustand. Und dieser ist es, der die Kriegsmöglichkeit nicht nur wahrscheinlich macht, sondern mit Notwendigkeit herbeiführt, weil jeder Frie­den einseitig ge­gen die Mehrheit der Staatengemeinschaft auf­gehoben werden kann. Unser Dilemma ist also so zu cha­rak­terisieren: entweder verzichten alle Staaten auf eine souve­räne Außenpolitik und unterstellen diese einer allgemeinen Instanz mit Zwangsbe­fugnissen, die etwa eine internationale Polizei­truppe ausüben müßte. Entscheiden wir uns aber für eine sou­veräne Außen­politik, so führt die Vor­stellung von einer Or­ganisation souve­räner Staaten, die mit Zwangsbefug­nissen gegenüber ihren Mitgliedstaaten ausgestattet ist, zu einem in­neren Widerspruch.

Kants Traktat vom ewigen Frieden beinhaltet aber auch ein Stück Hoffnung. Die Geschichte der Staaten ist nicht bloß blindem Zufall überlassen, denn die Friedensidee kann grund­sätzlich realisiert werden. Das Gegenteil würde nicht nur be­deuten, daß wir nach besseren Vorschlägen Ausschau halten müßten, sondern daß jedes politische Handeln nach Rechts­grundsätzen zuletzt unmöglich und sinnlos sein würde. Es gibt viele verbindliche gute Gründe für den Frieden und gegen den Krieg – Kant hat sie uns in seinem Traktat Zum ewigen Frieden mit aller Klarheit entwickelt.

Lit.: (Textsammlung): Anita und Walter Dietze: Ewiger Friede? Eine deutsche Dis­kussion um 1800. Leipzig und Weimar/München 1989. – Julius Ebbinghaus: Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegs­schuldfrage, in: Hariolf Oberer, Georg Geismann (Hg.): Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften Bd. I. Bonn 1986, S. 1-34. – Ders.: Der Völkerfriede als Möglichkeit, in: Gesammelte Schrif­ten Bd. II. Bonn 1988, S. 11-16. – Ders.: Die christliche und die kanti­sche Lehre vom Weltfrieden, ebd., S. 23-34. – Georg Geismann: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden in: ZphF 37 (1983), S. 363-388. – Otfried Höffe: Kategorische Rechtsprinzipien: Ein Kontrapunkt der Moderne. Frankfurt a.M. 1990, S. 249-279.

Bild: Immanuel Kant, 1791 (Gemälde von Gottlieb Doebler. Zweite Ausführung für Johann Gottfried Kiesewetter, 1795) / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Reinhold Breil