Es gibt philosophische Werke, deren Inhalt sich über mehrerere Jahrhunderte hinweg von einer geradezu unheimlichen Aktualität erweist. Oft liegt sie darin begründet, daß die damals behandelten Probleme im wesentlichen auch unsere Probleme sind und wir anstelle der damals vorgeschlagenen Lösungen keine besseren kennen. Ein solcher Fall liegt auch mit Kants kleinem Traktat „Zum ewigen Frieden“, dem 1796 eine erweiterte zweite Auflage folgte, vor. Hier behandelt Kant auf der Basis seiner bis dahin entwickelten Rechtsphilosophie das Problem, wie ein dauerhafter Friede zwischen den Völkern und Staaten möglich sein kann und welche Vorbedingungen dazu notwendig sind. Die Wirkung dieser Schrift auf die Zeitgenossen war erheblich: Dies spiegelt die unten angegebene Textsammlung wider, die neben dem Kant-Text auch Beiträge von Herder, Fichte, Görres, Lichtenberg, Schlegel u.a. enthält. Die grundsätzliche philosophische Frage, die uns Kant stellt, lautet: Ist ein „ewiger“ Friede überhaupt möglich? Und hat uns die Etablierung von Organisationen wie des Völkerbundes bzw. der UNO über den Kantischen Lösungsansatz hinaus grundsätzlich weitergebracht? Oder wiegen wir uns nach Meinung unseres Königsberger Philosophen hier nicht in einer trügerischen Sicherheit? Kurz sei das Problem skizziert, das Kant anspricht, dann Kants Lösung mit ihrem aktuellen Bezug.
Das Problem: Es geht Kant zunächst nicht um „Krisen-Management“ oder um „Friedens-Missionen“. Es geht Kant auch nicht um die Frage, wie dieser oder jener bestimmte bewaffnete Konflikt geschlichtet oder vermieden werden kann. Ebensowenig geht es ihm um die Frage, wie ein tatsächlicher Friedenszustand aufrechterhalten werden kann, denn dieser kann jederzeit in einen kriegerischen Zustand umschlagen. Der tatsächliche Frieden ist für Kant eher ein Waffenstillstand, ein Zwischenstadium zwischen möglichen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Staaten. Die Möglichkeit eines dauerhaften Friedens zwischen den Völkern ist vielmehr eine Frage, die für Kant nicht historisch-empirisch, sondern nur durch den Rückgriff auf rechtsphilosophische Überlegungen beantwortet werden kann. Denn man muß nach Kant nicht nur erklären, warum es notwendig ist, keinen Krieg zu führen, sondern vor allem die Kriegsmöglichkeit zwischen den Staaten beseitigen. Kants Fassung des Friedensproblems greift hier noch hinter bloß pazifistische Überlegungen, die sich allein auf die zweifellos berechtigte Verabscheuung kriegerischer Gewalt gründen, zurück und macht auf folgendes grundsätzliches Problem aufmerksam. Staaten sind souveräne Gebilde, d.h. jeder Staat hat das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht, daß andere Staaten sich nicht in seine Belange einmischen, ihre Politiker bestimmen selbst über Verhalten und Interessen ihres Staates. Selbst wenn man allen Staatsmännern Gutwilligkeit und Uneigennützigkeit unterstellen würde, bliebe die Möglichkeit eines Krieges durchaus bestehen, denn selbst unter Gutwilligen können sich Interessenkollisionen ergeben. Es muß darum nach Kant alles darauf ankommen, den Staaten die Streitgründe zu nehmen. Kann also das Verhältnis der Staaten ebenso nach Rechtsgrundsätzen geordnet werden, wie die inneren Angelegenheiten der Bürger eines Staates durch Recht, Gesetz und Sanktionen geordnet werden können? Kant macht geltend, daß das Völkerrecht eine wesentliche Besonderheit hat: Das Recht der Staaten untereinander wird nicht durch allgemeine Gesetze geschützt, denn aufgrund der Souveränität der Staaten existiert keine Zwangsinstanz, die Rechtsverstöße ahnden könnte. Das Völkerrecht ähnelt darum in vieler Hinsicht dem vor-rechtlichen Naturzustand, in dem Krieg die Regel und Frieden eher die Ausnahme darstellt. Wie aber ist dann Frieden möglich?
Kants Lösungsansatz: Die Lösung, die uns Kant vorschlägt, kleidet er direkt in einen konkreten Vertragsentwurf mit diversen Erläuterungen. Der Frieden selbst – nicht als Waffenstillstand, sondern als Verhinderung der Kriegsmöglichkeit verstanden – muß zum Gegenstand eines völkerrechtlichen Vertrages gemacht werden. Dazu reicht keine unverbindliche Absichtserklärung der Staaten aus. Bevor überhaupt ein Friedensvertrag möglich ist, bedarf es dazu einiger unerläßlicher Vorbedingungen – in den sog. Präliminar-Artikeln niedergelegt – und den näheren Ausführungsbestimmungen, den sog. Definitiv-Artikeln, die der Verwirklichung dienen. Der leitende Rechtsaspekt ist für Kant, daß den Staaten zwar die Freiheit, diesen Rechtsartikeln zuwider zu handeln eingeräumt werden muß, diese Zuwiderhandlung aber zugleich den potentiellen Kriegszustand zwischen den Völkern notwendig machen würde. Zu diesen Voraussetzungen gehört beispielsweise die wechselseitige Akzeptierung des Status quo (sonst ist gleich der Grund des nächsten Krieges gegeben, weil jedes Staatengebilde irgendwann durch Krieg entstanden ist), weiterhin der Grundsatz der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates. Von besonderer Aktualität ist der dritte Artikel. Modern ausgedrückt bedeutet er, daß vor Friedensabschlüssen zuerst (ausgewogen) abgerüstet werden muß, bis schließlich an die Stelle stehender Heere eine Miliz treten kann. Denn für Kant birgt jedes Rüsten, jeder Unterhalt stehender Berufsheere schon den Keim des Wettrüstens, das unvermeidlich zum Kriege führt, in sich.
Die drei Definitivartikel schlagen dann folgende Regelungen vor, die hier nur kurz benannt seien. Von besonderer Wichtigkeit ist der erste Artikel. Er besagt, daß die innere bürgerliche Verfassung in jedem Staat, modern gesprochen, eine rechtsstaatliche (Kant sagt: eine republikanische) sein soll. Das heißt, mit Diktaturen oder totalitär verfaßten Staaten ist ein solcher Friedensvertrag unmöglich zu schließen. Der Grund dafür ist einfach der: man kann diesen Systemen nicht trauen. Denn solche Staaten sind dadurch gekennzeichnet, daß sich ihre Machtinhaber beliebig und willkürlich über die Interessen ihrer Bürger hinwegsetzen können, also über die Verhältnisse derjenigen, die im Kriegsfalle Eigentum und Leben riskieren müßten, so daß also so etwas wie ein natürlicher Druck, eine Kontrolle der Bürger auf die Staatsführung unmöglich zustande kommen kann. In einem solchen nicht rechtsstaatlich verfaßten Staate hängt es also bloß vom Zufall ab, ob die Erhaltung des Friedenszustandes seinen Machthabern gelegen ist oder nicht. Der zweite Definitiv-Artikel fordert, daß das Völkerrecht auf einer Föderation freier Staaten gegründet werden muß, die ein freiwilliger Zusammenschluß gleichberechtigter freier Partner ist. Dieser Artikel bedeutet die wechselseitige Verpflichtung, sich gegenseitig in der Verteidigung beizustehen und im Falle von Interessenkollisionen unter keinen Umständen Krieg gegeneinander zu führen, sondern diese friedlich zu lösen. Jedem Staat muß es freistehen, sich dieser Föderation anschließen zu können. Der letzte Definitiv-Artikel schließlich räumt allen Nicht-Staatsbürgern ein Besuchsrecht, das noch kein Gastrecht (Asylrecht) ist, ein. Daraus folgt unmittelbar, daß kein Staat das Recht hat, seine Bürger in seinen Grenzen einzusperren. Dieser von Kant skizzierte Zustand eines dauerhaften Friedens zwischen den Völkern und Staaten ist auch heute noch nicht erreicht. Vielleicht ist er historisch niemals zu verwirklichen. Dennoch ist der „ewige Friede“ eine notwendige Idee, denn sie ist die einzige, die das Verhältnis souveräner Staaten untereinander nach Rechtsgesichtspunkten bestimmt. Der dauerhafte Friede hat seinen Grund – so Kants Auskunft – allein in der philosophischen Idee des Rechts.
Aktualität: Ist die soeben nur kurz angedeutete Lösung Kants denn alles, so könnte man fragen, was die Philosophen hier zustande gebracht haben? Kant selbst hat etwas sarkastisch in der Vorbemerkung auf das Schild eines Gasthofs, das einen Friedhof abbildete und mit der Überschrift „Zum ewigen Frieden“ versehen war, hingewiesen und bemerkt, daß Politiker auf den Philosophen „mit großer Selbstgefälligkeit“ herabsehen, den man immer „seine elf Kugeln auf einmal werfen lassen kann, ohne daß sich der weltkundige Staatsmann daran kehren darf“. Kants Schluß ist einfach und radikal: Es gibt keine gerechten und keine ungerechten Kriege. Denn der Krieg hebt jeden Rechtszustand auf, in dem allein über gerecht und ungerecht entschieden werden kann. Daß ein Staat sich gegen die Aggressionen eines anderen Staates wehren muß, kann nicht rechtlich geboten werden, weil es ohnehin schon naturnotwendig (Selbsterhaltung) ist. Sobald das Völkerrecht durch einen Staat außer Kraft gesetzt wird, befinden sich diese Staaten quasi im Naturzustand, also in einem rechtsfreien, in einem kriegspotentiellen Zustand. Und dieser ist es, der die Kriegsmöglichkeit nicht nur wahrscheinlich macht, sondern mit Notwendigkeit herbeiführt, weil jeder Frieden einseitig gegen die Mehrheit der Staatengemeinschaft aufgehoben werden kann. Unser Dilemma ist also so zu charakterisieren: entweder verzichten alle Staaten auf eine souveräne Außenpolitik und unterstellen diese einer allgemeinen Instanz mit Zwangsbefugnissen, die etwa eine internationale Polizeitruppe ausüben müßte. Entscheiden wir uns aber für eine souveräne Außenpolitik, so führt die Vorstellung von einer Organisation souveräner Staaten, die mit Zwangsbefugnissen gegenüber ihren Mitgliedstaaten ausgestattet ist, zu einem inneren Widerspruch.
Kants Traktat vom ewigen Frieden beinhaltet aber auch ein Stück Hoffnung. Die Geschichte der Staaten ist nicht bloß blindem Zufall überlassen, denn die Friedensidee kann grundsätzlich realisiert werden. Das Gegenteil würde nicht nur bedeuten, daß wir nach besseren Vorschlägen Ausschau halten müßten, sondern daß jedes politische Handeln nach Rechtsgrundsätzen zuletzt unmöglich und sinnlos sein würde. Es gibt viele verbindliche gute Gründe für den Frieden und gegen den Krieg – Kant hat sie uns in seinem Traktat Zum ewigen Frieden mit aller Klarheit entwickelt.
Lit.: (Textsammlung): Anita und Walter Dietze: Ewiger Friede? Eine deutsche Diskussion um 1800. Leipzig und Weimar/München 1989. – Julius Ebbinghaus: Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage, in: Hariolf Oberer, Georg Geismann (Hg.): Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften Bd. I. Bonn 1986, S. 1-34. – Ders.: Der Völkerfriede als Möglichkeit, in: Gesammelte Schriften Bd. II. Bonn 1988, S. 11-16. – Ders.: Die christliche und die kantische Lehre vom Weltfrieden, ebd., S. 23-34. – Georg Geismann: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden in: ZphF 37 (1983), S. 363-388. – Otfried Höffe: Kategorische Rechtsprinzipien: Ein Kontrapunkt der Moderne. Frankfurt a.M. 1990, S. 249-279.
Bild: Immanuel Kant, 1791 (Gemälde von Gottlieb Doebler. Zweite Ausführung für Johann Gottfried Kiesewetter, 1795) / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.
Reinhold Breil