Ereignis vom 1. Januar 0321

JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND

Ein Erlass des römischen Kaisers Konstantin vom Jahre 321 ist das Dokument, das 2021 zu einer Reihe von Veranstaltungen in vielen Teilen Deutschlands zum Thema „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ führt. Als Konstantin herrschte, gab es noch kein Deutschland und es erhebt sich auch die Frage, wann man von deutschen Juden sprechen kann. Im 1990 durch die Wiedervereinigung kleiner gewordenen Deutschland hört heute Deutschland an Oder und Neisse auf, da seitdem Mitteldeutschland heute Ostdeutschland heißt. Der Schlesier Herbert Czaja hat kurz vor seinem Tode (1997) im Jahre 1996 Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik unter dem Titel Unterwegs zum kleinsten Deutschland? veröffentlicht und der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen damit ein Vermächtnis hinterlassen, die ostdeutsche Kultur nicht in Vergessenheit versinken zu lassen. Von der Newa bis zum Schwarzen Meer sind steinerne Denkmäler der ostdeutschen Kultur bis heute sichtbar und seit Jahrhunderten kennen wir jüdische ostdeutsche Persönlichkeiten dieser Kultur als Schriftsteller und Künstler, Politiker und Philo­sophen, Entdecker und Forscher nicht nur in ganz Europa, sondern auch durch Auswanderung und Flucht, Vertreibung und Emigration in anderen Kontinenten.

Juden in Ostmittel- und Osteuropa finden wir schon am Ende des ersten Jahrtausends. Die erste Nennung von Prag haben wir aus Beschreibungen jüdischer Händler bereits im 10. Jahrhundert. Die ersten Juden in Mähren erwähnt eine Zollurkunde in Mähren. Der Antisemitismus von Christen vertrieb bereits vor dem ersten Kreuzzug 1096 zahlreiche Juden vom Rhein nach Polen, wo die vertriebenen oder zur Flucht gezwungenen Juden ihre deutsche Sprache weiter bewahrten und im Laufe der Jahrhunderte ihr Judendeutschtum durch die Sprache, die sie in hebräischer Schrift schrieben, in die neue Sprache „Jiddisch“ ausbauten. Es gab sogar jüdische Minnesänger wie Süßkind von Trimberg und wir kennen mittelalterliche Handschriften jüdischer Lieder in mittelhochdeutscher Sprache und hebräischer Schrift.

Waren die ostdeutschen Juden eine nationale Minderheit oder Deutsche mosaischer Konfession wie im alten Österreich der Habsburger-Monarchie? Erst bei der ersten Volkszählung der 1918 gegründeten Tschechoslowakei konnten sich Juden auch unter „Nationalität“ eintragen, weil die Prager Regierung die Zahl der Deutschen kleiner haben wollte. Die zweisprachigen oder auch mehrsprachigen Juden bekannten sich in der Mehrzahl zur deutschen Kulturnationalität. Dabei war ein sichtbares Gefälle vom Westen Böhmens bis zur Karpato-Ukraine festzustellen. Waren in Böhmen und Mähren die Konfesssionsjuden mehrheitlich deutsch, so änderte sich dieses Bild schon in der Slowakei und der Karpato-Ukraine waren die Juden in der Mehrheit, die sich als Nationalität bekannten. In Böhmen waren es 76.309 Glaubensjuden, aber nur 1.569 Nationaljuden. In Mähren-Schlesien standen 41.250 Glaubensjuden 2.316 Nationaljuden gegenüber, während es in der Slowakei 136.737 Bürger jüdischen Glaubens, aber nur 72.670 mit jüdischem Volkstumsbekenntnis gab. Nur in der Karpato-Ukraine war die Zahl der Nationaljuden fast so hoch wie die der mosaischen Gläubigen. Die Tochter der bekannten böhmisch-jüdischen Intellektuellen Berta Fanta, Else Bergmann, schrieb „Die Juden hatten damals [1936] keine Ahnung davon, dass man ihr echtes Deutschtum einmal anzweifeln konnte…“ Bei der Volkszählung des Jahres 1930 gab es in der ČSR 356.820 Personen jüdischen Glaubens, aber nur 204.779 Bürger, die sich zur jüdischen Volkszugehörigkeit bekannten. Der Prager Kreis von Max Brod zählte auch zweisprachige jüdische Tschechen, und auch Berta Fanta betonte, wie sehr sich Prager Juden besonders in deutschen Vereinen engagierten.

 

 

Ausstellungskataloge wie der Germania Judaica kannten nur das kleiner gewordene Deutschland. Aber die drei Bände von Klaus-Dieter Alicki über die deutschen Judengemeinden, die auch im Internet zugängig sind, informieren auch über jüdische Gemeinden in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien und über die Gemeinden jenseits von Oder und Neisse. Alicki nennt alle jüdischen Gemeinden in Tschechien mit deutschem Namen und behandelt auch Preßburg in der Slowakei. Im Jahrbuch 2018 der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen Ostdeutsche Gedenktage wurden unter Historischen Ereignissen auch der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 gedacht. Die nach dieser euphemistisch sogenannten „Reichskristallnacht“ verschärften Diskriminierungen, Verbote und antijüdische Maßnahmen bis zum Holocaust betrafen nicht nur die Juden im Deutschen Reich in den Grenzen vom 31. Dezember 1937, sondern alle Juden in den 1938 an das Deutsche Reich angeschlossenen Gebieten wie Österreich und das Sudetenland; 1939 auch das Memelgebiet, Danzig, das Protektorat Böhmen und Mähren und durch den Zweiten Weltkrieg die späteren Umsiedlungs- und Vertreibungsgebiete.

In allen von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten lebten auch viele Juden wie in Galizien, in der Bukowina, im Baltikum und Wolhynien, aber auch in Weißrussland, in der Ukraine, in Russland und am Balkan. In der Sowjetunion führte die Wehrmacht seit 1941 einen Vernichtungskrieg. In den Ländern und Regionen, die sich Hitler und Stalin am Vorabend des Zweiten Weltkrieges aufteilten, lebten viele Juden, die der deutschen Kultur große Persönlichkeiten schenkten: Dichter und Schrift­steller, Maler und andere Künstler, berühmte Rabbiner und Politiker, Ärzte und Forscher. Noch mehr gilt das vom Sudetenland, der Slowakei und Ungarn. Jüdische Nobelpreisträger aus Schlesien sind ebenso zu nennen wie Komponisten aus Mähren und Schlesien und die Dichter und Autoren des Prager Kreises, der unter Max Brod in Palästina fortlebte. Marcel Ferber aus Ostrau gründete in Israel den „Verband der deutschen Schriftsteller“. Nach seinem Tod übernahm die nordböhmische Germanistin Rosa Pazi die Leitung des Verbandes, der Mitglieder aus der Bukowina, Schlesien, Pommern und Ostpreußen hatte.

Manche berühmten Juden starben in Theresienstadt, die meisten aber in Auschwitz, Treblinka oder in Lagern im Baltikum und in Weißrussland, wo z.B. der große Albanologe Norbert Jokl aus Bisenz (in Südmähren) im Lager Malý Prostinec bei Minsk den Tod fand. Mussolini wollte ihn retten und als Bibliothekar nach Tirana holen, denn Albanien war seit 1939 von den Italienern besetzt, aber Jokl befand sich bereits im Transport nach Minsk.

Die Vernichtung ostdeutscher jüdischer Kultur begann schon 1933, als das erste KZ in Dachau errichtet wurde und jüdische Professoren von den deutschen Universitäten entlassen wurden. 1935 folgten Judengesetze mit Berufsverboten und dem Reichsbürgergesetz, das am 14. November erklärte: „Ein Jude kann nicht Reichsbürger sein.“ Am 10. November 1938 berichtete Reinhard Heydrich an Hermann Göring nach der Reichspogromnacht „von rund 20.000 festgenommenen Juden. An Todesfällen wurden 36, an Schwerverletzten ebenfalls 36 gemeldet. Die Getöteten bzw. Schwerverletzten sind Juden.“ Professor Meier Schwarz hat mit Karin Lange für die Organisation „Synagogue Memorial“ in Jerusalem unter dem Titel Zur Tradierung falscher Opferzahlen: Die ‚Kristallnacht‘-Lüge herausgearbeitet, dass mindestens 30.000 Juden verhaftet wurden und von mindestens 1.000 Toten sowie Hunderten Suiziden auszugehen ist (http://antisemitismus.net/shoah/kristallnacht.htm). Es war der Anfang vom Ende, denn die „Kristallnacht“ war nur die Katastrophe vor der als ‚Endlösung‘ verbrämten unfassbaren Katastrophe, die das jüdische Leben im größenwahnsinnigen Nazi-Großdeutschland auslöschen sollte.

In Deutschland sollte man nach 1700 Jahren nicht nur an große Juden in der Bundesrepublik erinnern, sondern auch an deutsche Juden in Mittelost- Südost- und Osteuropa, an ostdeutsche Jüdinnen und Juden, die Dichterinnen und Schriftsteller waren, Forscher, Künstler, Politiker, Nobelpreisträger und Rabbiner aus Polen, der Ukraine und Mähren, die jüdische Rabbinate in Deutschland betreuten.  Der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1981, Elias Canetti, ist ein sephardischer Jude, ein sogenannter ‚Spaniole‘, dessen Vorfahren im 15. Jahrhundert aus Spanien vertrieben wurden. 1905 im bulgarischen Russe geboren, wuchs er mehrsprachig auf, wurde nach der Emigration nach England britischer Staatsbürger und lebte in der Schweiz. In der Wikipedia als bulgarisch-britischer Autor vorgestellt, verfasste Canetti seine durch den Nobelpreis und zahlreiche weitere Würdigungen und Preise ausgezeichneten Werke zeit seines Lebens auf Deutsch. In seinen eigenen Worten: „Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar, weil ich Jude bin.“

Lit.:  B. Heidingsfelder, Allgemeines Lexikon sämtlicher jüdischer Gemeinden Deutschlands nebst statistischen und historischen Angaben, Frankfurt/M. 1884. – Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, 22 Bände, 1992-2012, Bd. 1-15 München, Bd. 16-22 Berlin. – Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997. – A.B. Kilcher (Hrsg.), Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, Stuttgart-Weimar 2000. – Klaus D. Alicki, Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Gütersloh 2009. – Wolfdieter Bihl, Die Juden, in: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 3, Teil 2 (Die Völker des Reiches), Wien 1980, S. 880-948. – Wolfgang Häusler, Das österreichische Judentum zwischen Beharrung und Fortschritt, in: Die Habsburgermonarchie, Bd. 3 (Die Konfessionen), Wien 1985.

Abb.: Neue Synagoge in Breslau im 19. Jahrhundert. Zeichnung und Lithographie von Robert Geissler/ Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Rudolf Grulich