Ereignis vom 1. Januar 1847

Leopold von Rankens preussische Geschichte

Leopold von Ranke

1847/48 erschienen in drei Bänden Neun Bücher Preußischer Geschichte von Leopold von Ranke. Der Autor war 53 Jahre alt und hatte sich mit drei großen Geschichtswerken – Ge-schichte der romanisch-germanischen Völker von 1495 bis 1514 (1824), Die Römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im 16. und 17. Jahrhundert (3 Bände, 1834 bis 1836) und Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (6 Bände, 1839 ff.) – nicht nur eine angesehene akademische Stellung (seit 1825 Professor an der Universität Berlin) geschaffen, sondern auch einen über die deutschen Grenzen hinausreichenden Ruf als Geschichtsschreiber erworben. ”So war er schnell, nicht ohne Kämpfe und Gegensätze freilich, aber doch sieghaft der verwöhnte Liebling in der Wissenschaft und im geistigen Leben unserer Nation geworden.” (G. Küntzel)

Um so auffälliger ist es, dass Rankes Preußische Geschichte nur kühl aufgenommen wurde, stellenweise sogar – auf liberaler wie konservativer Seite – auf Ablehnung stieß. Der Grund dafür lag in der Tatsache, dass Ranke im Revolutionsjahr 1848 ein Werk vorgelegt hatte, das tief vom Geiste des Restaurationszeitalters durchdrungen war, das Preußen im Jahre 1815, auf dem Werke seiner beiden großen Könige beruhend, am Ziele seiner Entwicklung angekommen sah, als fünfte europäische Großmacht, in einem friedlichen Dualismus mit Österreich verbündet, als bisher fehlendes Element des europäischen Mächtesystems für Gleichgewicht und Frieden bürgend. So musste Rankes Werk, das nach einem Worte von Heinrich Ritter von Srbik von der Revolution von 1848 einstweilen begraben wurde, von der seit 1855 erscheinenden Geschichte der preußischen Politik des 18 Jahre jüngeren Johann Gustav Droysen übertroffen werden. Denn Droysen sah Preußen im Gegensatz zu Österreich in einem sittlichen Aufschwunge eine liberale und nationale Sendung erfüllen und wurde so der bürgerlichen Sehn¬¬sucht der Zeit nach Einheit und Freiheit gerecht.

Ranke hielt in einer veraltet erscheinenden Auffassung an seiner vormärzlichen Perspektive auch fest, als er an eine gründliche Überarbeitung und Erweiterung seines Werkes ging, das 1874 unter dem Titel Zwölf Bücher Preußischer Geschichte herauskam; die neu hinzugekommenen Bücher betreffen die vorabsolutistische Zeit. Rankes Erzählung endet auch jetzt nicht zufällig mit dem Frieden von Aachen des Jahres 1748, mit dem Preußen erstmals als europäische Macht allgemein anerkannt worden sei. Nach Rankes Ansicht war mit der Aufnahme Preußens in das Mächtesystem die Grundlage für den Zustand der deutschen Dinge seit 1815 und auch für den der Zeit nach 1871 gelegt worden. Die Akteure der preußischen Geschichte sind für ihn demnach die Hohenzollern-Dynastie, der Schwert- und Beamtenadel, Gegenstände seiner Erzählung die Machtpolitik nach innen und außen sowie die Rechtsordnung und die geistige Welt. Das unternehmende Bürgertum und die moderne Wirtschaft, die im 19. Jahrhundert für Preußen von entscheidender Bedeutung wurden, fehlen. Die räumlichen Grundlagen Preußens sind im Nordosten Deutschlands zu suchen, während der Westen kaum im Bilde erscheint. ”Preußen gewinnt und verteidigt den Rhein vom Osten her.” (G. Küntzel)

Demgemäß hat der Mitteldeutsche Ranke (1795 in Wie-he/Thüringen geboren), als er, seit 1841 ”Historiograph des Preußischen Staates”, die Geschichte seiner Wahlheimat schrieb, dem deutschen Osten die gehörige Aufmerksamkeit geschenkt. Die Grundlagen der preußischen Großmacht liegen nach seiner Darstellung in Brandenburg, Ost- und Westpreußen, Magdeburg, Pommern und in Schlesien. Hinzu kommt der Grundgedanke, dass im Verhältnis zwischen dem norddeutschen und dem südostdeutschen Großstaat, also Österreich, stets der eine des anderen bedurfte und beide Mächte auch nach der Reichsgründung aufeinander angewiesen seien, womit auch die Stellung des Deutschtums in Südosteuropa Berücksichtigung findet.

Die Keimzellen des brandenburgisch-preußischen Staates lagen nach Ranke in Brandenburg und im Ordensland Preußen, als Träger der ostdeutschen Kolonisation erscheinen Fürsten, Ritter, die Kirche und Mönche, während Bauern und Bürger nach seinem Verständnis zurücktreten. Die christlich-germanischen Staatsgründungen, von denen die in Brandenburg größere innere Kraft gehabt habe als die in Preußen, wo die Ordensobrigkeit landfremd geblieben sei, seien mehr auf dem Wege der Gewinnung der Slawen durch kulturelle Hebung als durch gewaltsame Unterwerfung vollzogen worden. Erst mit der Säkularisierung Preußens und dessen Umwandlung in ein weltliches Herzogtum unter den Ansbacher Hohenzollern im Jahre 1525 wurde nach Ranke der Weg beschritten, der beide Länder im Zeichen der Dynastie, des Deutschtums und des Protestantismus zueinander führte.

1618 fiel Preußen an Brandenburg, und 1660 konnte der Große Kurfürst im Frieden von Oliva die (seit 1466 bestehende) polnische Lehenshoheit über Preußen abschütteln, in Gemeinschaft mit Österreich und durch seine Unterstützung, wie Ranke betont. Der brandenburgische Sieg bei Warschau von 1657, die erste große Waffentat des brandenburgischen Heeres, die mit den Weg nach Oliva bahnte, erscheint dem Autor als Auslöschung der Niederlage des Deutschen Ordens im Kampf mit den Polen bei Tannenberg im Jahre 1410. Zur Souveränität Preußens kam 1701 die Begründung der Krone Preußen, wiederum mit Unterstützung Österreichs. Deren allgemeine staatsrechtliche Bedeutung liegt nach Ranke ”vornehmlich in dem Grundsatz, dass Könige untereinander gleich seien, einem Grundsatz, der den Nachkommen höchlich zustatten gekommen ist.” Von der Krone, d.h. vom Krönungsakt in der Schlosskirche zu Königsberg, ging, wie Ranke erkannte, für den preußischen Staat eine vereinheitlichende Kraft aus. Als weiteren Meilenstein beim Aufstieg Brandenburg-Preußens bezeichnet er die Vermehrung des 1648 gewonnenen pommerschen Besitzes durch Vorpommern mit Stettin, mit der die Hohenzollern neben Brandenburg und Ostpreußen (bis auf einen schwedisch verbleibenden Rest) eine dritte Frucht der mittelalterlichen Ostkolonisation zu ihren Territorien hinzugewannen. ”Eine feste Grundlage für eine eigentümliche innere Entwicklung und eine entsprechende Stellung nach außen war gewonnen”, stellt Ranke fest. ”Die geographische Lage gab den nunmehr vereinigten Landschaften [Pommerns] eine hohe Bedeutung für ganz Europa.”

Zu einer unabhängigen Macht indessen wurde Preußen nach Ranke erst durch den Gewinn Schlesiens, mit dem sich die Geschicke der deutschen Ostkolonisation vollendet hätten. Ranke fragt, wie wohl das historische Urteil über Friedrich den Großen ausgefallen wäre, wenn er die günstige Konstellation nicht genutzt hätte, die durch das Akutwerden der österreichischen Erbfolgefrage 1740 entstanden war, um die Vollendung des preußischen Staates, wenn auch mit Gewalt, zu ermöglichen. ”Was würden die späteren Jahrhunderte von Friedrich sagen, hätte er die Dinge gehen lassen, wie sie mochten, ohne sich einzumischen!” Dabei sei er vom Recht seines Hauses in Schlesien von Piastenzeiten her überzeugt gewesen. Auch habe die Besitzergreifung Schlesiens nicht allein auf Eroberung, ”sondern zugleich auf Abfall” beruht, wie Ranke mit Hinweis auf ein Versagen der alten Autoritäten im Lande und auf ein Hervortreten des protestantischen Bürgertums in den Städten bemerkt. Dabei sei es friderizianischer Grundsatz gewesen, dass die Großmachtstellung Österreichs niemals angetastet werden sollte. ”Der Besitz von Schlesien bildete die Bedingung der Existenz Preußens als unabhängiger Macht. Österreich war mächtig und groß auch ohne diese Provinz.” Damit sei zwischen den beiden deutschen Mächten eine dauernde Gemeinschaft begründet worden. Nur aufgrund dieser Entwicklung sei Preußen 1813 bis 1815 in der Lage gewesen, auch das Rheinland zu befreien und ein vollgültiges Mitglied der europäischen Rechtsordnung zu werden.

Ranke vertrat also eine ältere Auffassung der preußischen Geschichte, die die Auswirkungen der Industrialisierung auf Staat und Gesellschaft noch nicht kannte, die noch ganz aus den halkyonischen, den windstillen Tagen der Jahre nach 1815 lebte, sich dafür aber, ohne das Lebensrecht und den Lebenswillen der deutschen Nation zu verkennen, von dem überhitzten Nationalempfinden vieler seiner Zeitgenossen, wie auch des Kollegen Droysen, fernhielt. Er war davon überzeugt, dass die Deutschen der Staatlichkeiten Preußens bzw. Preußen-Deutschlands u n d Österreichs bedurften. Darüber hinaus vergaß er nicht, wie sehr der Frieden in Europa von der Einhaltung des Gleichgewichts im europäischen Mächtesystem, das ohne die beiden deutschen Mächte nicht zu denken war, abhing. Europa, Deutschland – und damit auch der deutsche Osten waren in Rankes Historiographie auf das engste aufeinander bezogen.

Text: Leopold von Ranke: Zwölf Bücher Preußischer Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe der Deutschen Akademie, 3 Bde., hrsg. von Georg Küntzel, München 1930.

Lit.: Georg Küntzel: Einleitung zur Akademie-Ausgabe (s.o.), Bd. 1, S. V-CLII.

Bild: Leopold von Ranke (Porträt nach Julius Schrader). / Quelle: Wikipedia.Gemeinfrei.

Peter Mast