Ereignis vom 1. Januar 1521

LUTHERS ECHO IN SIEBENBÜRGEN DURCH FÜNF JAHRHUNDERTE

Die Siebenbürger Sachsen übernahmen die Reformation aus Wittenberg. Schon sehr früh – um 1520 – und seitdem bis in die Gegenwart fanden Luthers Schriften und Gedanken in Siebenbürgen nachhaltigen Widerhall. Methodisch muss man den Weg der geschichtlichen Ereignisse Siebenbürgens im 16. Jahrhundert nachvollziehen, aber nicht vom Ende her (teleologisch) denken und argumentieren, sondern umgekehrt, als wüsste man nicht von der Fortentwicklung. Auf diesem Weg kann man die Veränderungen nachvollziehen, die die jeweiligen Besonderheiten ausgemacht hatten und die nicht von Anfang an in allen Details bereits angelegt gewesen waren. Es wird also darum gehen, sich nicht mehr (wie im 19. und 20. Jahrhundert) durch Rückblicke leiten und durch Legitimitätskonstruktionen lenken zu lassen, sondern durch die zeitgenössischen Quellen. Daraus entsteht dann eine andere, vom bisherigen Geschichtsbild abweichende Einsicht.

Neben Luther gilt vor allem Melanchthon als Impulsgeber. Dessen Schüler, Damasus Dürr, der Pfarrer von Kleinpold zählte seine Gemeinde um 1570 zu den „lutrischen“. Schon 1565 haben sich die Siebenbürger Sachsen an der Confessio Augustana orientiert, und auch die Glaubensformel von 1572 lehnte sich an diese an. Allerdings entfaltete sich die reformatorische Bewegung, sodass unterschiedliche Richtungen sich auf Melanchthon beriefen. Der Landtag beschloss 1568 Verkündigungsfreiheit und verstärkte die bestehenden Tendenzen protestantischer Vielfalt. Schließlich beschloss der Landtag 1595 in Weißenburg offiziell die Garantie der erreichten Mehrkonfessionalität und etablierte Siebenbürgen als Pionierregion der Religionsfreiheit. Seit dem Beitritt zum Lutherischen Weltbund vor fast 60 Jahren gehört die Evangelische Landeskirche A. B. in Rumänien zum großen Weltverband der Lutheraner. Diese Konfessionsfamilie geht zurück auf Wirken und Ausstrahlung des Reformators Martin Luther und der Wittenberger Reformation im 16. Jahrhundert.

 

 

Weltgeschichtliche Begegnung: Am 17./18. April 1521 kam es zu einer weltgeschichtlichen Begegnung am Rande des Wormser Reichstags, wie sie ungewöhnlicher hätte kaum sein können. Martin Luther (1483-1546), der inzwischen äußerst populäre Universitätsprofessor einer „in termino civilitate“ (am Rande der Zivilisation) (Leppin 32017, Luther, 62; Blaschke, 1977, 13) gelegenen, erst kürzlich begründeten Landesuniversität Wittenberg und Bestsellerautor, war vom Reichsherold nach Worms geholt worden (Brecht 1981, Luther, 1, 427; Kaufmann, 291f.). Der jüngst vom Papst als Ketzer gebannte Mönch trat im Bischofshof vor Kurfürsten, Politiker und Zaungäste (unter anderem der ungarische Rechtsgelehrte Stephan Verböczy), vor allem aber vor den Universalmonarchen – Karl V. (1500-1558) (Schilling 2020, Karl V., 132-136).

Luthers Idee: Luthers Reise nach Worms hatte einem Triumphzug geglichen; überall war er erwartungsvoll aufgenommen und zum Predigen aufgefordert worden. Die Reichsstände befürchteten Aufruhr. Aber Luther ging es nie um gesellschaftliche Revolution. Seine Analyse sollte zum „nucleum nucis“ (zum Kern der Nuss) (WABr 1, Nr. 5) vorstoßen! Er wollte eine Kirchenreform oder Reformation: Ein Leben in der Nachfolge Jesu wie im Urchristentum. Sein Ziel war bedingungsloses und konsequentes Vertrauen in die Gnade Gottes, die sich im stellvertretenden Sühnetod des Heilands Jesus Christus am Kreuz auf Golgatha offenbart hatte. Intellektuell redlich sollte diese unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und dem gnädigen Gott sein. Glauben war Vertrauen in Gottes Zusage (Schwarz 22016, Luther, 355), die nur dann Heilsgewissheit begründete, wenn sie auch mit vernünftigen Gründen und dem biblischen Zeugnis in Deckung zu bringen war (Schilling 2018, Luther, 123). Inhalt der Verkündigung war für Luther das reine und lautere Evangelium. Und es galt allen Menschen, wofür ganz besonders die Bibel in die jeweilige Muttersprache übersetzt werden musste.

Auftritt vor Kaiser und Reich in Worms 1521: Luther hoffte, dass ihm der humanistisch gebildete und reformtheologisch erzogene Herrscher auf dem Wormser Reichstag eine angemessene Diskussionsatmosphäre für seine theologischen Reformansätze ermöglichen würde. Für ihn überraschend wurde er allerdings am ersten Abend ohne Umschweife und bedingungslos aufgefordert, zu widerrufen. Erst am nächsten Tag gelang es Luther, mit einer überzeugenden Rede die Propagandahoheit zu erlangen. Mit Freimut stellte er sich vor das Auditorium und berief sich auf sein subjektives Gewissen: „Gefangen im Gewissen an dem Wort Gottes, derhalben ich nicht mag noch will widerrufen, weil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und gefährlich ist. Gott helfe mir! Amen.“ Einen großen Teil der Zuhörer hatte Luther mit seiner Rede für sich eingenommen, und auch außerhalb des Saales machten die Menschen „ain gros geschrai“. Es folgte eine „Welle der Lutherbegeisterung“ (Schilling 22013, Luther, 239-240), die mit weiteren Flugschriften in der Folgezeit die öffentliche Meinung dominierte. Die „causa Lutheri“, die Luther-Sache, die eigentlich auf einem Nebenschauplatz des Reform-Reichstags abgehandelt werden sollte, bestimmte im Nachhinein das historische Bild des Wormser Reichstags von 1521.

Doch Luther hatte den Herrscher Karl V., nicht überzeugt (Kohler 32001, Karl V., 156). Auch dieser konnte nicht anders. Denn seine universalen, politischen Pläne konnte er nur mit einer die gesamte Christenheit umfassenden „Katholizität“, einer einheitlichen weltanschaulichen Basis erreichen. Auch er berief sich auf sein Gewissen, auf sein Majestätsbewusstsein, das auf objektiven Institutionen und Traditionen gründete, um das habsburgische Zukunftsmodell Europas voranzutreiben (Schilling 2020, Karl V., 131 und 138-145): Plus ultra – immer weiter, so sein Motto.

Politik der Habsburger: Der neue deutsche König, der erwählte Kaiser Karl V., hielt in Worms seinen ersten Reichstag auf deutschem Boden ab. Er war gerade 21 Jahre jung, in Burgund aufgewachsen, bereits regierender Herrscher über Spanien und dessen Weltreich (bis nach Mittel- und Südamerika). Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation – einer Wahlmonarchie – hatte er sich erfolgreich bei der Königswahl durchgesetzt. Damit schien er der von Gott auserwählte Weltherrscher werden zu können. Aber mit diesem Konzept sowie der konkreten, überdehnten Herrschaft (Schulin 1999, 9f. und 174) ist er gescheitert – auch wegen der verlorenen religiösen Einheit, die der rastlos reisende Kaiser benötigt hätte, aber durch seine auf diversen Kriegsschauplätzen verzettelte Energie verspielte. Nach der Königswahl war er im Oktober 1520 in Aachen zum deutschen König gekrönt worden und bestieg als Nachfolger seines Großvaters Maximilian den Thron. Dieser hatte zu Lebzeiten ein Europa überspannendes Netz von Heiratsverbindungen eingefädelt. Die Habsburgerdynastie hatte unverhofft viel Glück: Überall trat zu ihren Gunsten der Erbfall ein (gemäß dem berühmten Satz: tu felix Austria nube / du glückliches Österreich heirate). Kriege führten sie im 16. Jahrhundert trotzdem – in jahrzehntelanger Konkurrenz zu Frankreich (auch in Italien) und zu den Osmanen (auch in Afrika und auf dem Balkan). In Ungarn trat 1526 nach dem Schlachtentod König Ludwigs II. Jagiello der Erbfall ein. Aber eine klassische Doppelwahl trübte den politischen Erfolg der Heiratspolitik ein; gekrönt wurde zunächst der Konkurrent, der siebenbürgischen Woiwode János Szápolyai: „Hans kunig“, so eine Quelle. Erst mit einmonatiger Verspätung erfolgte im Dezember 1526 die Wahl des Habsburgers Ferdinand, des Bruders von Karl V. Weil sich Szápolyai 1528/29 freiwillig den Osmanen unterwarf, konnte er mit deren Unterstützung seinen Herrschaftsraum in Ungarn erhalten. Schließlich blieb Ungarn dreigeteilt: Den Westen und Norden beherrschten die Habsburger mit König Ferdinand, das Zentrum regierten die Osmanen direkt. Der östliche Bereich, das historische Siebenbürgen (mit angegliederten Teilen im Nordwesten, den Partes adnexae) bildete das sich entwickelnde Fürstentum Siebenbürgen (Fata 2000, Ungarn, 97f.). Jede politisch privilegierte Gruppe bildete eine natio: Das war die natio des ungarischen Adels, die natio der Szekler und die natio der „Saxones“ auf Königsboden (zusammengefasst in der Nationsuniversität der Sachsen). Alle drei Gruppen oder Nationen bildeten einen Regierungsverband: eine unio trium nationum (Gündisch 1998, Siebenbürgen, 79). Diese Art „Ständemonarchie“ oder „Bundesstaat“ wählte den Woiwoden bzw. Fürsten und regierte mit diesem zusammen auf Landtagen und mit der Regierungskanzlei in Weißenburg (Alba Iulia).

Erste Reaktionen in Hermannstadt: In den Jahren nach 1520 erreichten Ideen der Wittenberger Reformation das gebildete Bürgertum und Patriziat in Hermannstadt. Diese hatten Händler (wohl von der Leipziger Messe) in gedruckten Schriften importiert. Die Quellen berichten über Reaktionen in der Bevölkerung, in den ratsführenden Schichten, bei den irritierten Geistlichen, aber auch bei den Menschen in umliegenden Dörfern. Zettel mit spöttischen Versen gegen die bisherige Religionspraxis von Prozessionen oder geistlichen Bruderschaften wurden an die Kirchentüren geheftet. Andererseits sind muttersprachliche Predigten in Privathäusern gehalten worden, in denen auch deutsche (evangelische) Lieder gesungen wurden. Vermutlich haben auch evangelische Predigten in den Nebenkirche der Stadt stattgefunden (Keul 2009, Early, 51; Reinerth 1979, Gründung, 30f.). Dazu kam ein Kirchenstreik gegen den Priester in Baumgarten (rumän. Bungard) bei Schellenberg. Außerdem beunruhigte die nachlassende Bereitschaft, für kirchliche Zwecke zu stiften oder in Testamenten entsprechende Bestimmungen zu treffen, die kirchliche und weltliche Obrigkeit. 1525/26 erreichten schließlich die Gegenreaktionen von obrigkeitlicher Seite ihren ersten Höhepunkt: Auch vom ungarischen König wurden den „Luthe­ranern“ strenge Strafen angedroht. Im August 1526 wendete sich das Blatt: Die ungarische Elite (inklusive der mitkämpfenden Bischöfe) war auf dem Schlachtfeld bei Mohács fast vollständig ausgelöscht worden. Daher überlagerten auseinanderstrebende und sich in einem Bürgerkrieg äußernde politische Interessen die religiösen Kontroversen. Die reformatorische Bewegung in Hermannstadt „versandete“ (Schullerus 1923, Gottesdienst, 399). Eine offizielle Einführung der Reformation wie beispielsweise in den Reichsstädten Süddeutschlands unterblieb.

Unterschwellige Entwicklungen: Doch die Ideen blieben weiterhin unter der Oberfläche wirksam. Erste Studenten aus Siebenbürgen studierten an der Universität Wittenberg. Der spätere Ratsherr und Reformator Kronstadts, Johannes Honterus, hatte im Ausland (Regensburg, Krakau und Basel) höchstwahrscheinlich bis 1532 die reformatorische Bewegung kennengelernt und importiert (Wien 2019, Flucht). Kronstadt wurde für die offizielle Einführung der Reformation in Siebenbürgen entscheidend: Sie ist die allererste Stadt des christlichen, d.h. evangelischen Europas, über der die Sonne aufgeht, schreibt Johannes Honterus selbstbewusst in seiner Kosmographie. Der Rat von Kronstadt ergriff 1542 die Initiative. Als Motiv zur Kirchenbesserung wurde auch die Kritik der orthodoxen Gemeinden und Gläubigen an der westkirchlichen Religionspraxis erwähnt (Honterus 32020, Kosmographie, Z. 420). Damit erfolgte ein nicht unwesentlicher Verweis auf die Mehrkonfessionalität, die in dieser Überlappungszone von Ost- und Westkirche bereits längst existierte (Péter 2018, Studies, 39-43). 1543 wurden die wichtigsten Drucke veröffentlicht (Reformatio Coronensis ecclesiae, Constitutio Scholae Coronensis, Gesangbuch), und die humanistische Stadtreformation ergriff von Kronstadt aus die gesamte Nationsuniversität. Besonders die beiden ersten Superintendenten Paul Wiener und Matthias Hebler haben Luthers Theologie im Einflussbereich der Nationsuniversität dauerhaft verankert (Schwarz 2021, Wiener; Kolb 2021, Kurshalten). Der Sieg der Osmanen in Buda am 29. August 1541 hatte – mit kleinen Unterbrechungen – die antireformatorische Politik der Habsburger für 150 Jahre gestoppt. Im Einflussbereich des Osmanischen Reiches mussten die Anhänger einer „Religion des Buches“ zwar Sonderabgaben leisten, aber die Hohe Pforte hielt sich meistens aus den internen religiösen Angelegenheiten der nicht-muslimischen Untertanen heraus. Es entstand das den Osmanen souzeräne und tributpflichtige Fürstentum Siebenbürgen (Volkmer 2015, Siebenbürgen, 43). In ihm entwickelte sich innerhalb der kommenden fünf Jahrzehnte eine „Pionierregion der Religionsfreiheit“ (Wien 2000, Rex sum).

Reformation in Kronstadt 1542/43: Wittenberg war das früheste und entscheidende Ausstrahlungszentrum für die Reformation in Siebenbürgen. Dieses „Importgut“ wurde fast zeitgleich als „Exportgut“ sogar in die rumänische und ungarische Sprache übersetzt (Szegedi 2017, Konfessionsbildung; Brusanowski 2017, Wirkungen). Neben Martin Luther und dem Wittenberger Stadtpfarrer Johannes Bugenhagen befürwortete auch Philipp Melanchthon (1497-1560) die Kronstädter Reformation schriftlich. Vor allen anderen Reformatoren war der humanistische Gelehrte und Bildungsexperte „Melanchthon als Impulsgeber“ (Kohnle 2021, Von Wittenberg) jahrzehntelang die wichtigste reformatorische Persönlichkeit für Siebenbürgen (Mundhenk 2021, Beziehungen). Die Reformatio Coronensis ecclesiae wurde in Wittenberg sofort nachgedruckt: mit einem Vorwort von Melanchthon. Auch die Schulordnung nahm Melanchthons Ideen (dem Nürnberger Modell folgend) auf. Dadurch wurde die bereits jahrhundertelange enge Verbindung von Schule und Kirche nun auf eine solide und bis ins 20. Jahrhundert fortdauernde Basis gestellt wurde. Denn die Wittenberger Reformation war nicht zuletzt eine Bildungsbewegung. Luther hatte für ein allgemeines Schulwesen, sogar für Mädchenbildung in einer Flugschrift an die „Ratsherrn aller Städte deutsches Landes“ plädiert. Darüber hinaus wurden seine Katechismen weltweit gelesen und gelernt. Honterus bereitete mit der 1539 in Kronstadt begründeten Druckerei der Reformation die Bahn. Dort wurden zunächst humanistische Schulbücher gedruckt (Şindilariu 2017, Der Beginn, 12f.). Anschließend verließen kirchliche Reformtexte, Katechismen und Agenden sowie Gesangbücher die Druckerpresse und wurden verbindlich gemacht. Bemerkenswert ist die spirituelle Offenheit der Kronstädter Reformation. Obwohl sie sich generell am Wittenberger Vorbild ausrichtete, ging sie eigene Wege. Die Reformation war auch eine Singbewegung und fand besonders durch die vielen neuen religiösen Lieder und Gesangbücher lebhafte Aufnahme und Verbreitung in der breiten Masse der Bevölkerung. Lieder wurden vor allem zum auswendig gelernten Glaubensgut und tief verinnerlichten Seelentrost. Obwohl es schon rund 20 Jahre Wittenbergische Liedtradition gab (Schilling 2005, Musik, 239f.), entschied sich Kronstadt zunächst anders. Es behielt seinen eigenen Gesangbuchschatz konsequent bei und druckte ihn in späteren Gesangbuchausgaben immer wieder nach. Das erste Gesangbuch (1543) von Andreas Moldner zeigt eine eigengeartete Herzensfrömmigkeit (Wien 2021, Hymnal). Dazu zählen eine klare Absage an die altgläubige Rom-Orientierung christlicher Gemeinde. Sie ist aber vor allem in als bedrohlich empfundenen Zeiten für das Wirken des Heiligen Geistes offen und sieht sich in der Nachfolge Christi zu konsequentem Lebensstil und sittlichem Handeln verpflichtet. Damit griff die Kronstädter Reformation Ideen der Böhmischen Brüder und der Täufer auf (Rothkegel 2001, Vorfahr). Auch ließ sie in den Anfangsjahren die für Luther zentrale Rechtfertigungslehre, die besonders Gottes gnädige Barmherzigkeit gegenüber den notorischen Sündern herausstellte – das Heil allein aus Gnade –, unerwähnt. Stattdessen wurde die sittlich tugendhafte Haltung und Lebensweise beispielsweise von Valentin Wagner, dem Nachfolger des 1544 zum Pfarrer eingesetzten Reformators Johannes Honterus, in den Mittelpunkt gerückt: „… So wird dich Gott und deine Tugend in den Himmel tragen.“ (Elegie bei Müller 2000, Humanistisch, 244).

Melanchthon als prägende Gestalt: Während seiner vier Jahrzehnte dauernden Lehre in Wittenberg hat Melanchthon unter anderem hunderte Studenten aus Siebenbürgen und Ungarn weit mehr geprägt als Luther (Mundhenk, 117). Philipp Melanch­thons Rhetorik-Lehrbuch hat nachhaltigen Einfluss auf die reformatorische Predigt in diesem Raum ausgeübt (Kolb 2021, Preaching). Seine Theologie und sein brieflicher Rat waren vielfach gefragt, nicht zuletzt im Blick auf die seit Ende der 1550er Jahre in Siebenbürgen strittige Abendmahlslehre. Auch in dieser Hinsicht war seine deutungsoffene Antwort wesentlich: Beide theologischen Richtungen (die Schweizerische und die Wittenbergische) beriefen sich auf den Praeceptor Germaniae et Hungariae (Lehrer Deutschlands und Ungarns) (Verók 2020, Melanchthon-Rezeption, 127). Die sächsischen Pfarrer in Klausenburg, Franz Hertel (Davidis) und Kaspar Helth übernahmen mit ihrer Gemeinde zunächst die Theologie der Schweizerischen Reformation und nach 1566 sogar die Ideen der italienischen und polnischen Antitrinitarier, welche der Hofarzt Giorgio Biandrata nachdrücklich förderte (Balázs 2013, Davidis).

Vier rezipierte Religionen – Die Entstehung der Pionierregion der Religionsfreiheit: Die theologischen Positionen im Protestantismus des 16. Jahrhunderts waren in Bewegung. Die Weiterentwicklungen führten zu Vermittlungsbemühungen, Unsicherheiten, aber auch zu Gegensätzen. Das Fürstentum Siebenbürgen wurde in den 1560er Jahren als protestantischer Staat wahrgenommen, in dem die katholische Kirche verkümmerte und die rumänischen Orthodoxen durch den Landtagsbeschluss von 1568 zur Aufgabe ihrer religiösen Praxis genötigt werden sollten. Praktisch gestattete der Landtag den Pfarrern 1568 und 1571 Verkündigungsfreiheit, womit aber zunächst kein klares Profil verbunden war (Szegedi 2021, Uneindeutigkeit, 94). Der mit der antitrinitarischen Richtung sympathisierende Fürst János II. Zsigmond Szápolyai suchte eine Harmonisierung zu erreichen. Ob seine Strategie auf eine einheitliche unitarische Landeskirche hinauslief? Es ist zu vermuten. Aber das Projekt blieb Fragment, denn der Fürst starb im März 1571. Wenige römisch-katholische Gemeinden blieben – meist im Szeklerland – noch erhalten. Die den Osmanen genehmen, katholischen Báthory-Fürsten bemühten sich mit vielfältigen Maßnahmen, den Sog der antitrintarischen Bewegung zu brechen. Neben dem Neuerungs­verbot in religiöser Hinsicht nötigte István Báthory die Synode und den neuen, in Birthälm residierenden Superintendenten Lucas Unglerus zur Anerkennung der Confessio Augustana. Doch die 1572 von Unglerus verfasste Glaubensformel (Evangelische Kirchenordnungen 24, 331-356; Binder 2015) versuchte einen Spagat: Einerseits sollte dem Willen des Fürsten formell entsprochen werden, andererseits aber sollten die Formulierungen viel Auslegungsspielraum lassen, um vor allem in der Sakramentstheologie divergierende Positionen äußerlich zusammenzuhalten. „Eine konfessionelle Klärung (…) vollzogen sie nicht mit“ (Kolb, Kurshalten, 88). Einen gewissen Abschluss der organisatorischen und begrifflichen Klärung erzwang der Fürst Zsigmond Báthory mit einem für die Verfassungsgeschichte Siebenbürgens und Gesamteuropas denkwürdigen Landtags-Beschluss, indem er 1595 die zum Landtag in Weißenburg Versammelten militärisch belagerte. Diese beschlossen die Anerkennung von vier Konfessionen im Landtag als religio recepta (Szegedi, Uneindeutigkeit, 121; 137f.). Gewissermaßen grundgesetzlich verankert wurde die Existenzgarantie für Katholiken, Anhänger der Confessio Augustana, Kalvinisten und „Arianer“ (Unitarier). Die politisch nichtprivilegierten rumänischen Orthodoxen wurden nun aber „toleriert“. Diese Konstellation darf man allerdings nicht idealisieren. Denn Siebenbürgen war keine Insel der Toleranz. Die jeweiligen Landesfürsten förderten in der Folgezeit immer die eigene Konfession zum Nachteil der anderen. Trotzdem kann Siebenbürgen als Pionierregion der Religionsfreiheit bezeichnet werden, die bis ins 18./19. Jahrhundert hinein ihresgleichen sucht. Im Vergleich zu anderen Regionen Europas waren die dortigen Regelungen weder so weitgehend noch so dauerhaft gesichert wie in Siebenbürgen. Die bereits am Ende des Mittelalters erprobte, weitgehend friedliche Mehrkonfessionalität Siebenbürgens der Frühen Neuzeit hat sich als Markenzeichen bis in die Gegenwart der weltweiten Ökumene erhalten. Auch das in Hermannstadt angesiedelte Institut für Ökumenische Forschung sieht sich dieser Tradition verpflichtet.

1817 wurde auch in Siebenbürgen an den Beginn der Wittenberger Reformation und Luthers 95 Thesen erinnert. Vor der Kon­trast­folie des finsteren Mittelalters wurde durch Superintendent Daniel Georg Neugeboren im Geist der Aufklärung die Toleranzgeschichte Siebenbürgens als Frucht von Luthers Reformation erinnert – und damit eine das künftige Geschichtsbild prägende Deutung vorgenommen (Wien 2022, Reformationsmemoria). Luthers theologisches Freiheitskonzept wurde im 19. Jahrhundert kulturprotestantisch, manchmal sogar freisinnig verstanden. Luther wurde – prominent in Heinrich von Treitschkes Gedenkrede 1883 – als deutscher Nationalheld konstruiert (Treitschke 1929, Aufsätze, 233-249, Lehmann 2021, Luthergedächtnis, 63-66; Wendebourg 2017, So viele, 64-66). An diese Vorstellungen lehnte sich die siebenbürgisch-sächsische Lutherverehrung an, setzte aber eigene Akzente, die an die Frühzeit der Kronstädter Reformation anknüpften. Deren sittlicher, die christlichen Tugenden herausstellender Charakter fand in der Nächstenliebe, die in diakonischen Einrichtungen verwirklicht wurde, ein zeitgemäßes Echo. In diesem Sinne wurden „lebendige Denkmäler“ begründet. 1883 – im Gedenken an Luthers 400. Geburtstag – gab es zwei solcher Initiativen: das „Lutherhaus“ genannte Waisenhaus in Hermannstadt und die Idee der evangelischen Krankenpflegeanstalt in Hermannstadt, die 1887 schließlich eingeweiht werden konnte (Wien 2014, Diakonie, 114). In diese Linie ist auch der Reformations-Dank des Jahres 1917 einzuordnen: 200.000 Kronen spendeten die Gemeindeglieder der Landeskirche für die dringend nötige Erweiterung des Landeskirchlichen Waisenhauses in Birthälm.

Durchaus gegensätzlich verlief die Rückbesinnung auf die Reformation in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg. Einerseits beeinflusste die sogenannte Lutherrenaissance auch die theologisch redliche Luther-Rezeption, die von Bischof Viktor Glondys und Bischofsvikar Friedrich Müller-Langenthal gefördert wurde. Glondys begründete in Hermannstadt die Luthergesellschaft und setzte sich für den Bau des „Lutherheims für Volksmission“ ein, das 1939 in Heltau eingeweiht wurde. Andererseits wurde ein nationalistisch verengtes Verständnis von Volkskirche radikalisiert. Bischofsvikar Dr. Franz Herfurth meinte 1918, das allgemein geteilte kulturprotestantische Selbst­verständnis folgendermaßen definieren zu können: „Die sächsische Mutter führt ihr Kind früh zu Gott und kettet sein Herz an Familie und Volk. Evangelisch sein und sächsisch sein sind Wechselbegriffe. Recht und Brauch und Sprache haben uns zum Volk, der deutsche Glaube hat uns zur Gemeinschaft der Kirche, beides zur Volkskirche zusammen geschmiedet.“ (Herfurth 1918, Sachsenschiff, 400; Wien 2019, Landeskirche). Dieser „deutsche Glaube“ wurde ein Vierteljahrhundert später durch den Pfarrer im Landeskonsistorium Andreas Schreiner in nationalsozialistischen Sinne als „Volksreligion“ verstanden und präzisiert: Es sei weder Verrat noch Verleugnung des Christentums, wenn „mit Rücksicht auf das vorwiegend völkische Gemeinschaftsempfinden in unserer Landeskirche die […] Bezeichnung ‚evangelisch A. B.’ fallen“ gelassen würde, „um uns einfach eine ‚deutsche‘ Kirche zu nennen“. In „dogmatisch nachlässiger Haltung“ sollte das Augsburgische Bekenntnis der Landeskirche nur noch als formaljuristisches Feigenblatt dienen (Scheiner 1942, Dogma, 90; Wien 2014, Volkskirche, 226f.). Kein Wunder, dass die Landeskirche 1945 dem Vorwurf als „hitleristische Organisation“ ausgesetzt und vom Verbot bedroht war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Bischof Müller-Langenthal und die Professoren am Theologischen Institut die Landeskirche bewusst an der als Grundlage wiederentdeckten Theologie Luthers ausgerichtet. Dabei sollte vor allem die betonte Unterscheidung der kirchlichen und staatlichen Kompetenzen im Sinne von Luthers Zwei-Reiche-Lehre den Zugriff des Staates auf das innerkirchliche Leben weitestgehend zurückdrängen (Wien 1998, Kirchenleitung, 242-243). Je nach Gelegenheit geschah das mit Vorsicht, aber auch mit an Luthers Vorbild orientiertem Freimut. In der bedrückenden Lage des Jubiläumsjahres 1983 griff dies auch Bischof Albert Klein in seinem Kanzelwort auf. Er erinnerte nicht nur an Luthers Bibelübersetzung, seinen Katechismus und das „Herzstück“: die Kreuzestheologie. Darüber hinaus verwies er auf die diakonische Grundfunktion von Kirche und das protestantische Resistenzpotential, den christlichen Freimut: „Im Glauben an Jesus Christus hat Martin Luther die Befreiung von Menschenfurcht und Todesangst erfahren. Er ist nicht müde geworden, die evangelischen Gemeinden zum Bekenntnis der Wahrheit Gottes und zum Dienst der Liebe aufzurufen und so die Freiheit eines Christenmenschen zu bewähren.“ (Klein 2010, Kanzelwort, 665).

Gedruckte Quellen: Evangelische Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Band 24: Siebenbürgen, bearb. von Martin Armgart und Karin Meese. Tübingen 2012. – Formula Pii Consensus: Übersetzung durch Gerhardt Binder, in: Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde 30 (2015), p. 197-227. – Fr[anz] Herfurth, Das Sachsenschiff im Sturm! Predigt am Reformationsfest (10. November 1918) zu Matthäus 8,23-27, in: Kirchliche Blätter aus der ev. Landeskirche A. B. in den siebenbürgischen Landesteilen Ungarns. Ev. Wochenschrift für die Glaubensgenossen aller Stände Nr. 47, 10. Jg. (1918), Hermannstadt, 23. November 1918, S. 399-401. – Johannes Honterus, Kosmographie 1542, Hermannstadt/Sibiu 32020. – Johannes Honterus, Reformacio der kyrchen der statt Kronnen und des ganczen Bwrczelandts (Vorwort) 1543, in: Evangelische Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Band 24: Siebenbürgen, bearb. von Martin Armgart und Karin Meese. Tübingen 2012. – Albert Klein, Kanzelwort zum Reformationsfest 1983, in: Ein Leben im Glauben für Kirche und Gemeinschaft. Selbstzeugnisse. Aus dem Nachlass herausgegeben von Kindern und Enkeln zu seinem 100. Geburtstag am 16. März 2010, Hermannstadt 2010, S. 664f. – Martin Luther, WA Br 1, Nr. 5, 40-46 (Brief Martin Luthers vom 17. März 1509 an Johannes Braun). – Andreas Scheiner, Das Dogma der Evangelischen Landeskirche A. B. in Rumänien. Ein Vorwort. Hermannstadt 1942. – Heinrich von Treitschke, Aufsätze, Reden und Briefe, hrsg. von Karl Martin Schiller, Band 1: Gestalten und Charaktere. Meersburg 1929, S. 233-249.

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Bild: Luther auf dem Reichstag zu Worms 1521/ Quelle: Lithographie von Wilhelm von Löwenstern, ca.1827.

Ulrich A. Wien