Ereignis vom 9. Oktober 1807

„Oktoberedikt“ – Bauernbefreiung in Preussen

Titelblatt des Oktoberedikts

Das sogenannte Oktoberedikt, welches der preußische König Friedrich Wilhelm III. am 9. Oktober 1807 in Memel unterzeichnete, wird selten mit seiner vollständigen Bezeichnung genannt: „Edikt, den erleichterten Besitz und den freien Ge­brauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend“. Dies ist gewiss der Umständlichkeit des Titels geschuldet, die Verkürzung der Bezeichnung geht allerdings vielfach auch mit einer gravierenden Verkürzung des Wissens um Inhalt und Bedeutung des Oktoberediktes einher. Landläufig wird es mit dem Begriff der Bauernbefreiung in Verbindung gebracht, was sachlich richtig ist. Die gewöhnlich positive Wahrnehmung dieses Begriffs verkennt allerdings nicht selten die aus der Sicht der Betroffenen vielfach mindestens zwiespältigen, wenn nicht negativen Erfahrungen, die diese mit dem überaus komplexen, langwierigen, durch mannigfaltige regionale und zeitliche Unterschiede gekennzeichneten Gesamtprozess der preußischen Agrarreform seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert machten.

Die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Bedeutung dieses Pro­zesses insgesamt ist schlechterdings nicht zu überschätzen. Der Historiker Werner Conze hat nicht von ungefähr bezüglich der Bauernbefreiung von einem „der wichtigsten und folgenreichsten Vorgänge der neueren deutschen Geschichte“ gesprochen. Tatsächlich muss der säkulare, unsere heutige Lebenswelt noch immer wesentlich bestimmende, sich vor allem im 19. Jahrhundert vollziehende Prozess der Industrialisierung in hohem Maße unverständlich bleiben, wenn nicht dessen agrargeschichtliche Voraussetzungen mit einbezogen werden. Und dies ist mit dem Schlagwort von der Bauernbefreiung allein nicht zu leisten. Der fundamentale Stellenwert der damit gemeinten weitgehenden Neuregelung der personen- und eigentumsrechtlichen Beziehungen im Agrarsektor der Volkswirtschaft ist freilich einer modernen Gesellschaft, in der nur noch rund zwei Prozent der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt sind, besonders schwer zu verdeutlichen. Für den Beginn des hier zu behandelnden Zeitraums galt nämlich, dass – mit erheblichen regionalen Unterschieden – 80 bis weit über 90 Prozent aller Erwerbstätigen ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft verdienten.

Das grundlegende Ziel der Agrarreform – in deren Verlauf das Oktoberedikt lediglich eine Etappe darstellt – bestand darin, die jahrhundertealten Rechtsbeziehungen im Agrarsektor neu zu regeln. Das konstituierende Prinzip der sich im Mittelalter herausbildenden, agrarisch dominierten Wirtschaft des sog. Feudalismus bestand darin, dass diejenigen, die den Boden bearbeiteten, im Regelfalle nicht dessen Eigentümer waren. Im Gegenzug für das seitens der Grundeigentümer zugestandene Recht der Bodennutzung übernahmen sie die Verpflichtung zu Leistungen an erstere; diese Leistungen konnten in Naturallieferungen, Geldzahlungen und der Erbringung von Diensten für den Eigenbetrieb des Grundeigentümers bestehen. Daneben gab es noch Leistungen, die sich aus personenrechtlichen Beziehungen ableiteten, also dem jeweiligen Rechtsverhältnis zwischen dem Grundeigentümer, der meist auch Herrschaftsträger, also „Herr“ war, und dem Bodennutzer, der auch Untertan, also „Knecht“ war.

Das größtmögliche Missverständnis des modernen Menschen hinsichtlich der Verhältnisse in der Feudalgesellschaft besteht in der Annahme, dass es den Grund- oder Gutsherrn und den Bauern gegeben habe, deren Beziehungen durch die Agrarreform kurzerhand eine neue Geschäftsgrundlage erhielten. Lediglich ein sehr grobes Unterscheidungsraster stellt die Aufteilung der Rechtsbeziehungen zwischen Grundeigentümern und Bodennutzern in die beiden Typen der Grund- und der Gutsherrschaft dar. Unterhalb dieser Ebene gab es innerhalb jeder einzelnen feudalen Dorfgemeinschaft ein breites Spektrum unterschiedlicher Rechtstellungen der einzelnen Bodenbearbeiter und dementsprechend keineswegs gleichartige, daraus folgende Abgabe- und Dienstverpflichtungen. Auf die Angehörigen einer Dorfgesellschaft einfach pauschal den Begriff „Bauern“ anzuwenden, missachtet die große Heterogenität der agrarischen Gesellschaft – und verführt dazu, den Prozess der Bauernbefreiung in seiner diffizilen Komplexität zu verkennen. Die zeitgenössische Vielfalt der Bezeichnungen für Dorfbewohner (Meier, Kätner, Häusler, Hintersassen, Lassiten u.a.) spiegelt deren Ungleichheit weitaus besser wider.

In die weitere Vorgeschichte des Oktoberediktes gehört die bereits im 18. Jahrhundert virulente Kritik an den bestehenden Verhältnissen in der Landwirtschaft. Diese Kritik speiste sich nicht zuletzt aus der Entstehung der liberalen Wirtschaftstheorie, welche insbesondere die mangelnde Flexibilität, Produktivität und Innovationsfähigkeit der feudalen Landwirtschaft monierte. Den Hintergrund dazu bildete ein seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts stetig zunehmendes Bevölkerungswachstum, wo­durch der Bedarf an Agrarprodukten ebenso anstieg.

In Preußen freilich wurden kaum praktische Schritte in Richtung Agrarreform unternommen. Erst mit der katastrophalen Niederlage Preußens im Krieg gegen das napoleonische Frankreich 1806/07 beginnt die engere Vorgeschichte des Oktoberediktes. Diese erhöhte nämlich den politischen Reformdruck enorm: König Friedrich Wilhelm III. und seine neu berufenen Minister sahen sich vor die Aufgabe gestellt, das weitgehend von französischen Truppen besetzte Land, dem Kaiser Napoleon I. im Frieden von Tilsit (9. Juli 1807) harte Bedingungen auferlegt hatte, möglichst rasch wieder zu stärken. Das Oktoberedikt steht daher zeitlich an der Spitze einer ganzen Reihe von Reformmaßnahmen bezüglich unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Bereiche, deren Umsetzung über das Ende der Befreiungskriege gegen Frankreich (1815) zum Teil weit hinausreicht (Heeresreform, Kommunalreform, Verwaltungs- und Finanzreform, Bildungsreform, Schaffung der Gewerbefreiheit, Judenemanzipation).

Inhaltlich hatte das Oktoberedikt nur eine sehr begrenzte Wirkung. Es hob die personengebundene Erbuntertänigkeit auf, wodurch die Betroffenen persönlich frei wurden. Zudem ermöglichte es den freien Kauf und Verkauf von Rittergütern, deren Eigentümer künftig auch bürgerlich sein durften. Unangetastet blieben indessen die an bestimmte Grundstücke gebundenen Verpflichtungen der Bodennutzer. Damit blieben einstweilen auch die meisten Leistungsverpflichtungen der Bodennutzer gegenüber den Bodeneigentümern bestehen. Die Ablösung dieser Verpflichtungen hatten die Reformer allerdings bereits fest ins Auge gefasst, wobei jedoch von vornherein Konsens darüber bestand, dass das Eigentumsrecht gewahrt bleiben müsse, die Aufhebung der Verpflichtungen also nur gegen angemessene Entschädigungen geschehen könne.

Die logische Fortführung des Oktoberediktes bestand folglich im Regulierungsedikt (14. September 1811) und im Deklara­tionsedikt (29. Mai 1816). Mit diesen wurde grundsätzlich festgelegt, dass die Bodennutzer, die nunmehr Eigentümer des von ihnen bewirtschafteten Bodens wurden, die bisherigen Ei­gen­tümer in Form von Geldzahlungen zu entschädigen hatten. Da dies aber vielfach für die Betroffenen nicht möglich war, konnte die Entschädigung auch in Form von Landabtretungen erfolgen. Dies bedeutet, dass bisherige Höfe zwar nunmehr in das Eigentum der Inhaber übergingen, dabei aber hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Nutzfläche eine gravierende Verkleinerung in Kauf zu nehmen hatten. Deren Leistungsfähigkeit sank also. Umgekehrt bedeutete dies, dass die Eigenbetriebe der Alteigentümer erheblich arrondiert und damit leistungsfähiger wurden.

Seitens des Adels wurde dies gelegentlich auf die Formel gebracht: „Den Bauern die Freiheit und uns das Land“. Hierin liegen auch die Ursachen dafür, dass die Bauernbefreiung von den Betroffenen nicht selten in dieser Form keineswegs begrüßt wurde. Generell lässt sich sagen, dass die kleinen Agrar­betriebe die Verlierer des Gesamtvorgangs Agrarreform wa­ren. Sie gerieten in vielen Fällen unter die Rentabilitätsgrenze und mussten von ihren nunmehrigen Eigentümern, sofern kein außerlandwirtschaftlicher Nebenverdienst möglich war, aufgegeben werden. Die Kleinbetriebe litten zudem in besonderem Maße darunter, dass im Zuge der Agrarreform die bisher gemeinschaftlich genutzten Flächen (Allmenden) aufgeteilt wurden, meist nicht zu ihrem Vorteil (Verlust insbesondere von Weidemöglichkeiten für den Nutztierbestand). Die mittleren und großen bäuerlichen Betriebe hatten oft noch jahrzehntelang Ablöseverpflichtungen nachzukommen und unterlagen dadurch erheblichen Belastungen. Schon die genaue Festlegung der Höhe der Ablösungen war ein äußerst langwieriges Unternehmen, da eben sehr unterschiedliche Verpflichtungen und deren Wert berechnet werden mussten. Die Ablösungsleistungen zogen sich zum Teil bis in die Zeit der Reichsgründung (1870/71) hin.

Die bäuerliche Bilanz der mit dem Oktoberedikt angestoßenen Agrarreform war mithin keineswegs nur positiv. Für die Gesamtbilanz ist jedoch festzuhalten, dass sie die Innovationshemmnisse der feudalen Agrarordnung beseitigte (insbesondere die Statik der Bodenverteilung) und damit zum gewaltigen Produktivitätsgewinn der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert beitrug. Auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs lebten um 1800 rund 23 Millionen Menschen. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges lebten auf dem gleichen Territorium rund 65 Millionen Menschen, die im Durchschnitt jedoch erheblich besser ernährt waren als ihre Vorfahren hundert Jahre zuvor. Das immense Bevölkerungswachstum mündete nicht in eine Hungerkatastrophe, weil die von den feudalen Fesseln befreite Landwirtschaft riesige Zuwächse erzielte (dies allerdings auch durch Faktoren wie verbesserte Düngung, Zuchtwahl u.a.), obwohl in ihr prozentual immer weniger Menschen arbeiteten (sinkender Anteil an der Zahl der Gesamtbeschäftigten bis um 35 Prozent vor 1914). Zugleich wurden der sich entwickelnden städtischen Industrie im Zuge einer massiven Binnenwanderungsbewegung die erforderlichen Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt, die sich vielfach aus den klein- und unterbäuerlichen Schichten rekrutierten, denen die Agrarreform eine ausreichende Lebensgrundlage auf dem Land entzog. Das Oktoberedikt und seine Folgewirkungen gehören folglich in die Entstehungsgeschichte der industriell geprägten Massengesellschaft.

Lit.: Werner Conze, Quellen zur Geschichte der deutschen Bauernbefreiung (Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Bd. 12), Göttingen, Berlin, Frankfurt/M. 1957. – Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993. – Dieter Ziegler, Die industrielle Revolution, Darmstadt 2005. – Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 4. Aufl., München 2007.

Bild: Titelblatt des Oktoberedikts / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Winfrid Halder (OGT 2007, 356)