Als sich die führenden Staatsmänner der siegreichen alliierten Mächte in Paris trafen, um nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung in Europa zu begründen, in der zukünftig alle noch schwebenden Streitfragen mit Hilfe eines erst noch zu schaffenden „Völkerbunds“ friedlich geregelt werden sollten, stellte sich schon bald heraus, daß das vor allem vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson als Grundprinzip einer künftigen Staatengemeinschaft selbstgewiß proklamierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ sehr rasch mit dem obsessiven Sicherheitsbedürfnis Frankreichs in Konflikt geriet, das nach dem Ausfall seines Partners im östlichen Europa in Gestalt des Russischen Reiches eines neuen möglichst starken Verbündeten bedurfte, um eventuellen deutschen Revanchegelüsten mit einiger Aussicht auf Erfolg entgegentreten zu können.
Dieser konnte nach Lage der Dinge nur Polen sein, das nach über einem Jahrhundert staatlicher Nichtexistenz infolge des militärischen Zusammenbruchs der drei östlichen Monarchien wieder auf der europäischen Landkarte erschien. Daß ihm am Ende des 18. Jahrhunderts von den Teilungsmächten, die nunmehr alle drei besiegt am Boden lagen, bitteres Unrecht widerfahren war, das unabweisbar nach Wiedergutmachung verlangte, wurde gerade von den angelsächsischen Regierungen nicht bezweifelt. Sowohl der britische Premierminister Lloyd George als auch Wilson hatten sich schon zu Beginn des Jahres 1918 für die Unabhängigkeit Polens ausgesprochen, wobei der Präsident der USA im berühmten 13. Punkt seiner „Vierzehn-Punkte-Erklärung“ vom 8. Januar noch zusätzlich von der Notwendigkeit gesprochen hatte, dem zukünftigen polnischen Staat „einen freien und sicheren Zugang zum Meer“ zu eröffnen.
Ihm legte der Sprecher des inzwischen in Paris tätigen „Polnischen National-Komitees“, der Nationaldemokrat Roman Dmowski, am 8. Oktober eine Denkschrift vor, in der er die Bildung eines starken unabhängigen polnischen Staates als einer „großen schöpferischen Demokratie“ und einer „Schanze gegen den deutschen Drang nach Osten“ anregte, dem im Westen außer Kongreßpolen noch Posen, Westpreußen, Oberschlesien und Teile Ostpreußens angehören sollten. Das restliche Ostpreußen sollte nach seinen Vorstellungen nach der Abtretung des Memellandes an ein polnisch-litauisches Kondominium vom Deutschen Reich getrennt und zu einer eigenen Republik umgebildet werden, da nur eine solche Lösung deutsche Versuche einer Grenzrevision würde verhindern können.
Die am 12. Februar 1919 unter dem Vorsitz von Jules Cambon gebildete „Kommission für polnische Angelegenheiten“ folgte zwar in fast allen Punkten den in diesem Memorandum niedergelegten polnischen Vorschlägen, sprach sich aber bereits in ihrem Bericht an den Rat der Zehn vom 12. März dafür aus, angesichts der komplizierten Nationalitätenverhältnisse im südlichen Ostpreußen eine Volksabstimmung durchzuführen, weil die dortige Bevölkerung ihrer Ansicht nach zwar mehrheitlich polnisch, aber evangelischer Konfession sei und man daher bezweifeln müsse, ob sie mit dem katholischen Polen vereinigt zu werden wünsche. Am 25. März wandte sich der britische Premierminister außerdem aus der Befürchtung heraus, das geschlagene und gedemütigte Deutschland könnte sich dem Bolschewismus in die Arme werfen, in einer geheimen Note an Wilson und Clemenceau sehr entschieden gegen die Abtretung nahezu geschlossen deutsch besiedelter Gebiete wie der Regierungsbezirke Danzig und Marienwerder an Polen als dem Selbstbestimmungsrecht widersprechend. Auf diesen britischen Einspruch hin, dem sich der amerikanische Präsident am 22. April zögernd anschloß, wurde aus der Stadt Danzig und ihrem Umland ein Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes gebildet, während die östlich der Weichsel gelegenen Gebietsteile der ehemaligen Provinz Westpreußen ebenfalls zum Abstimmungsgebiet erklärt wurden. Hier wie im Regierungsbezirk Allenstein und im Kreis Oletzko (Regierungsbezirk Gumbinnen) sollte die Bevölkerung über ihr ferneres Schicksal selbst entschieden.
Nachdem der Vertrag von Versailles am 28. Juni unterzeichnet worden war, der in den Artikeln 96 und 97 die Modalitäten des Plebiszits im südlichen Ostpreußen und im Weichselland bis in die Details fixiert hatte, und mit seiner Ratifizierung am 19. Januar 1920 in Kraft trat, begannen beide Seiten mit dem Aufbau von Abstimmungskomitees für die betroffenen Gebiete. Am 14. Juli 1919 gründete der masurische Schriftsteller Max Worgitzki aus der Überzeugung heraus, „daß die Schlacht schon geschlagen sein mußte, bevor die Interalliierte Kommission in Allenstein eintraf“, den „Masuren- und Ermländerbund“, der im September 1919 bereits 1046 Heimatvereine mit 206.313 Mitgliedern umfaßte und auch die entlegenste Ortschaft erreichte; ein dichtes Netz von Vertrauensleuten entstand. Dem hatte die polnische Seite von Anfang an nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Größtenteils in Warschau in Schnellkursen ausgebildete Emissäre stießen vor allem bei den evangelischen Masuren auf entschiedene Ablehnung; lediglich in einigen mehrheitlich polnisch besiedelten Dörfern im südlichen Ermland sowie in Teilen des Kulmerlandes durften sie zumindest auf einen Achtungserfolg hoffen.
Vom 1. bis 6. Februar verließen die deutschen Truppen das Abstimmungsgebiet, britisches und italienisches Militär rückte ein. Am 12. bzw. 17. Februar übernahmen Interalliierte Kommissionen in Allenstein und Marienwerder die oberste Regierungsgewalt. Die deutsche Verwaltung übte ihre Funktion weiter aus, mußte aber jeglichen Verkehr mit ihren vorgesetzten Dienststellen in Königsberg und Berlin einstellen und der Kommission einen Diensteid leisten. Die Grenze zum übrigen Ostpreußen wurde geschlossen, der Paßzwang eingeführt. Am 25. Mai 1920 setzte die Botschafterkonferenz in Paris den 11. Juli als Abstimmungstag fest.
Gemessen an der Größe des Gebietes und der Länge und Härte des nunmehr einsetzenden Abstimmungskampfes kam es – im Gegensatz zu Oberschlesien – zu verhältnismäßig wenigen gewalttätigen Auseinandersetzungen. Jedenfalls ist die polnischerseits bis in die jüngste Zeit wiederholte Behauptung, in den Abstimmungsgebieten habe der „deutsche Terror“ gewütet, in dieser Form nicht zu halten. Der Wahltag selbst verlief ohne jeden Zwischenfall.
Unstrittig ist hingegen, daß die polnische Delegation in Paris einem fundamentalen Irrtum unterlag, als sie sich mit der Klausel einverstanden erklärte, auch den nicht mehr im Abstimmungsgebiet wohnhaften, aber dort geborenen Personen das Stimmrecht zu gewähren, weil sie hoffte, daß vor allem die ins Ruhrgebiet abgewanderten Masuren die Zahl der polnischen Wähler verstärken würden. Bekanntlich trat ein genau entgegengesetzter Effekt ein. Die insgesamt 157.000 „Abstimmler“, die wegen der vielfachen Behinderungen des Eisenbahnverkehrs durch die polnischen Grenzbehörden mehrheitlich über See in die Abstimmungsgebiete gebracht wurden, haben beim deutschen Bevölkerungsteil sicherlich Hochstimmung und Zuversicht gefördert, das Plebiszit selbst aber keineswegs entschieden. (Würde man z. B. im Regierungsbezirk Allenstein nur die Stimmen der dort Ansässigen berücksichtigen, so stiege die Zahl der für Polen abgegebenen von 2,2% auf ganze 3,8%!). Vielmehr haben die im Lande geborenen, aber inzwischen in den Westen abgewanderten Ost- und Westpreußen „Meinungen widerlegt, die der großen Westwanderung der ostdeutschen Menschen andere als ökonomisch-soziale Gründe unterschieben wollten, ja in ihr geradezu den Willen zu Preisgabe Ostpreußens ausgesprochen sahen“ (Th. Schieder).
Gewichtiger scheint das polnischerseits ins Feld geführte Argument zu sein, das Plebiszit habe zu einem für Polen denkbar ungünstigen Zeitpunkt stattgefunden, da der polnisch-sowjetische Krieg eben jetzt in seine Kulminationsphase eingetreten sei und viele Wähler kein übermäßig großes Vertrauen in die Zukunft des sich eben erst konstituierenden polnischen Staates gesetzt hätten. Zwar stand die Rote Armee damals tatsächlich vor den Toren Warschaus, aber auch das Reich konnte seinen Landleuten angesichts der labilen innenpolitischen Verhältnisse wenig mehr als propagandistische Hilfe leisten.
Jedenfalls wurden am 11. Juli 1920 in Westpreußen östlich der Weichsel und Nogat 92,4 % und im südlichen Ostpreußen 97,8 % der Stimmen für den Verbleib dieser Gebiete beim Deutschen Reich abgegeben. Die Hoffnung der polnischen Seite, Kaschuben und Masuren würden geschlossen für Polen votieren, hatte getrogen; auch zwei Drittel der polnischsprachigen, katholischen Ermländer entschieden sich gegen einen Anschluß an Polen. Es hatte sich deutlich gezeigt, daß Muttersprache und nationales Bekenntnis einander nicht entsprachen; alle diese Volksgruppen waren dank der bewußtseinsprägenden Kraft des preußischen Staatsgedankens tatsächlich „polnisch sprechende Preußen“ geworden. Polnische Proteste wegen angeblichen Wahlbetrugs blieben in Paris wegen der Eindeutigkeit des Resultates unerörtert. Bis auf acht ost- und westpreußische Dörfer mit polnischen Mehrheiten kehrte das gesamte Abstimmungsgebiet am 20. August zu Deutschland zurück.
Lit.: Wilhelm Freiherr von Gayl: Ostpreußen unter fremden Flaggen. Ein Erinnerungsbuch an die ostpreußische Volksabstimmung vom 11. Juli 1920. Königsberg (Pr.) 1940. – Walther Hubatsch: Die Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen – ein demokratisches Bekenntnis zu Deutschland. Hamburg 1980, – Rudolf Klatt: Ostpreußen unter dem Reichskommissariat 1919/1920, Heidelberg 1958. – Piotr Stawecki/Wojciech Wrzesiñski: Plebiscyty na Warmii, Mazurach i Po-
wiœlu w 1920 roku. Wybór Ÿróde³ (Die Volksabstimmungen im Ermland, in Masuren und im Weichselland im Jahre 1920. Eine Quellensammlung). Allenstein (Olsztyn) 1986. – Wojciech Wrzesiñski: Plebiscyty na Warmi i Mazurach oraz na Powiœlu w 1920 roku (Die Volksabstimmungen im Ermland und in Masuren sowie im Weichselland im Jahre 1920). Allenstein (Olsztyn) 1974.
Bild: Mitglieder der interalliierten Kommission in Allenstein / Quelle: Von unbekannt – Archiv der Martin-Opitz-Bibliothek (ADMA 13066 Fasc. 7), PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=11664050
Hans-Werner Rautenberg