Ereignis vom 11. Juli 1920

Ost- und westpreussische Volksabstimmung


Mitglieder der interalliierten Kommission in Allenstein

Als sich die führenden Staatsmänner der siegreichen alliierten Mächte in Paris tra­fen, um nach dem Ende des Ersten Welt­krieges eine dauerhafte und gerechte Frie­densordnung in Eu­ropa zu begründen, in der zukünftig alle noch schwebenden Streitfragen mit Hilfe eines erst noch zu schaffenden „Völker­bunds“ friedlich geregelt werden sollten, stellte sich schon bald heraus, daß das vor allem vom amerikani­schen Präsidenten Woodrow Wilson als Grundprinzip einer künftigen Staatenge­meinschaft selbstgewiß proklamierte „Selbst­be­stim­mungs­recht der Völker“ sehr rasch mit dem obsessiven Sicherheits­be­dürf­nis Frankreichs in Konflikt geriet, das nach dem Ausfall seines Partners im östlichen Europa in Gestalt des Russischen Reiches eines neuen möglichst starken Verbündeten bedurfte, um even­tuel­len deut­schen Revanchege­lüsten mit einiger Aussicht auf Erfolg entgegentreten zu kön­nen.

Dieser konnte nach Lage der Dinge nur Polen sein, das nach über einem Jahrhun­dert staatlicher Nichtexistenz infolge des militärischen Zusammenbruchs der drei östlichen Monarchien wieder auf der europäischen Landkarte erschien. Daß ihm am Ende des 18. Jahrhunderts von den Teilungsmächten, die nunmehr alle drei besiegt am Boden lagen, bitteres Unrecht widerfahren war, das unabweisbar nach Wieder­gutmachung verlangte, wurde gerade von den angelsächsischen Regierun­gen nicht bezweifelt. Sowohl der britische Premierminister Lloyd George als auch Wilson hat­ten sich schon zu Beginn des Jahres 1918 für die Unabhängigkeit Polens ausge­sprochen, wobei der Präsident der USA im berühmten 13. Punkt seiner „Vierzehn-Punkte-Erklärung“ vom 8. Januar noch zusätzlich von der Notwendigkeit gesprochen hatte, dem zukünftigen polnischen Staat „einen freien und sicheren Zugang zum Meer“ zu eröffnen.

Ihm legte der Sprecher des inzwischen in Paris tätigen „Polnischen National-Komi­tees“, der Nationaldemokrat Roman Dmowski, am 8. Oktober eine Denkschrift vor, in der er die Bildung eines starken unabhängigen polnischen Staates als einer „großen schöpferischen Demokratie“ und einer „Schanze gegen den deutschen Drang nach Osten“ anregte, dem im We­sten außer Kongreßpolen noch Posen, Westpreußen, Ober­schle­sien und Teile Ostpreußens angehören sollten. Das restli­che Ost­preußen sollte nach seinen Vorstellungen nach der Ab­tre­tung des Memellandes an ein pol­nisch-litauisches Kon­do­mi­nium vom Deutschen Reich getrennt und zu einer eigenen Repub­lik umgebildet werden, da nur eine solche Lösung deut­sche Versuche einer Grenzrevision würde verhindern können.

Die am 12. Februar 1919 unter dem Vorsitz von Jules Cambon gebildete „Kommission für polnische Angelegenheiten“ folgte zwar in fast allen Punkten den in diesem Memorandum nieder­gelegten polnischen Vorschlägen, sprach sich aber be­reits in ihrem Bericht an den Rat der Zehn vom 12. März dafür aus, an­gesichts der komplizierten Nationalitätenverhältnisse im süd­­­lichen Ostpreußen eine Volksabstimmung durchzuführen, weil die dortige Bevölkerung ihrer Ansicht nach zwar mehr­heitlich polnisch, aber evangelischer Konfession sei und man daher bezweifeln müsse, ob sie mit dem katholischen Polen ver­einigt zu werden wünsche. Am 25. März wandte sich der britische Premierminister außerdem aus der Befürch­tung her­aus, das geschlagene und gedemütigte Deutschland könnte sich dem Bol­schewismus in die Arme werfen, in einer geheimen Note an Wilson und Clemenceau sehr entschieden gegen die Abtretung nahezu geschlossen deutsch besiedelter Gebiete wie der Regierungsbezirke Danzig und Marienwerder an Polen als dem Selbstbestimmungsrecht widersprechend. Auf diesen bri­ti­schen Einspruch hin, dem sich der amerikanische Präsident am 22. April zögernd anschloß, wurde aus der Stadt Danzig und ihrem Umland ein Freistaat unter dem Schutz des Völ­ker­bun­des gebildet, während die östlich der Weichsel gelegenen Gebiets­­teile der ehemaligen Provinz Westpreußen ebenfalls zum Abstimmungsgebiet erklärt wurden. Hier wie im Regie­rungs­bezirk Allenstein und im Kreis Oletzko (Regie­rungs­be­zirk Gumbinnen) sollte die Be­völkerung über ihr ferneres Schick­sal selbst entschieden.

Nachdem der Vertrag von Versailles am 28. Juni unterzeichnet worden war, der in den Artikeln 96 und 97 die Modalitäten des Plebiszits im südlichen Ostpreußen und im Weichselland bis in die Details fixiert hatte, und mit seiner Ratifizierung am 19. Januar 1920 in Kraft trat, begannen beide Seiten mit dem Auf­bau von Abstimmungs­komitees für die betroffenen Gebiete. Am 14. Juli 1919 gründete der masurische Schriftsteller Max Worgitzki aus der Überzeugung heraus, „daß die Schlacht schon geschlagen sein mußte, bevor die Interalliierte Kommis­sion in Allenstein eintraf“, den „Masuren- und Ermländer­bund“, der im September 1919 bereits 1046 Heimat­vereine mit 206.313 Mitgliedern umfaßte und auch die entlegenste Ort­schaft er­reichte; ein dichtes Netz von Vertrauensleuten ent­stand. Dem hatte die polnische Seite von Anfang an nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Größtenteils in War­schau in Schnellkursen ausgebildete Emissäre stießen vor allem bei den evangeli­schen Masuren auf entschiedene Ablehnung; lediglich in einigen mehrheitlich pol­nisch besiedelten Dörfern im südli­chen Ermland sowie in Teilen des Kulmerlandes durften sie zumindest auf einen Achtungserfolg hoffen.

Vom 1. bis 6. Februar verließen die deutschen Truppen das Abstim­mungsgebiet, britisches und italienisches Militär rückte ein. Am 12. bzw. 17. Februar übernahmen Interalliierte Kom­mis­­sionen in Allenstein und Marienwerder die oberste Regie­rungs­ge­walt. Die deutsche Verwaltung übte ihre Funk­tion weiter aus, mußte aber jeglichen Verkehr mit ihren vorge­setz­ten Dienststellen in Königsberg und Berlin einstellen und der Kommission einen Diensteid leisten. Die Grenze zum übrigen Ostpreußen wurde geschlossen, der Paßzwang eingeführt. Am 25. Mai 1920 setzte die Botschafterkon­ferenz in Paris den 11. Juli als Abstimmungstag fest.

Gemessen an der Größe des Gebietes und der Länge und Härte des nunmehr ein­setzenden Abstimmungskampfes kam es – im Gegensatz zu Oberschlesien – zu ver­hältnismäßig wenigen gewalt­tätigen Auseinandersetzungen. Jedenfalls ist die polni­scherseits bis in die jüngste Zeit wiederholte Behauptung, in den Abstimmungsge­bieten habe der „deutsche Terror“ gewü­tet, in dieser Form nicht zu halten. Der Wahltag selbst verlief ohne jeden Zwischenfall.

Unstrittig ist hingegen, daß die polnische Delegation in Paris einem fundamentalen Irrtum unterlag, als sie sich mit der Klausel einverstanden erklärte, auch den nicht mehr im Ab­stimmungsgebiet wohnhaften, aber dort geborenen Personen das Stimm­recht zu gewähren, weil sie hoffte, daß vor allem die ins Ruhrgebiet abgewanderten Masuren die Zahl der polni­schen Wähler verstärken würden. Bekanntlich trat ein genau entgegengesetzter Effekt ein. Die insgesamt 157.000 „Abstimmler“, die we­gen der vielfachen Behinderungen des Eisen­bahnverkehrs durch die polnischen Grenzbehörden mehrheit­lich über See in die Abstimmungsgebiete gebracht wurden, haben beim deutschen Bevölkerungsteil sicherlich Hochstim­mung und Zuversicht gefördert, das Plebiszit selbst aber kei­neswegs entschieden. (Würde man z. B. im Regie­rungsbezirk Allenstein nur die Stimmen der dort Ansässigen berücksichti­gen, so stiege die Zahl der für Polen abgegebenen von 2,2% auf ganze 3,8%!). Vielmehr haben die im Lande geborenen, aber inzwischen in den Westen abgewanderten Ost- und West­preußen „Meinungen widerlegt, die der großen Westwande­rung der ostdeutschen Menschen andere als öko­nomisch-soziale Gründe unterschieben wollten, ja in ihr gera­dezu den Willen zu Preisgabe Ostpreußens ausgesprochen sahen“ (Th. Schieder).

Gewichtiger scheint das polnischerseits ins Feld geführte Argu­ment zu sein, das Plebiszit habe zu einem für Polen denk­bar ungünstigen Zeitpunkt stattgefunden, da der polnisch-sow­je­ti­sche Krieg eben jetzt in seine Kulminationsphase eingetreten sei und viele Wähler kein übermäßig großes Vertrauen in die Zukunft des sich eben erst konstituierenden polnischen Staa­tes gesetzt hätten. Zwar stand die Rote Armee da­mals tat­säch­lich vor den Toren Warschaus, aber auch das Reich konnte sei­nen Landleuten angesichts der labilen innenpoliti­schen Ver­hältnisse wenig mehr als pro­pagandistische Hilfe leisten.

Jedenfalls wurden am 11. Juli 1920 in Westpreußen östlich der Weichsel und Nogat 92,4 % und im südlichen Ostpreußen 97,8 % der Stimmen für den Verbleib dieser Gebiete beim Deut­schen Reich abgegeben. Die Hoffnung der polnischen Seite, Ka­schuben und Masuren würden geschlossen für Polen votie­ren, hatte getrogen; auch zwei Drittel der polnischsprachigen, katholischen Ermländer entschieden sich gegen einen Anschluß an Polen. Es hatte sich deutlich gezeigt, daß Mutter­sprache und na­tionales Bekenntnis einander nicht entsprachen; alle diese Volksgruppen waren dank der bewußtseinsprägenden Kraft des preußischen Staatsgedankens tatsäch­lich „pol­nisch sprechende Preußen“ geworden. Polnische Proteste we­gen angebli­chen Wahlbetrugs blieben in Paris wegen der Ein­deu­tigkeit des Resultates unerör­tert. Bis auf acht ost- und west­preu­ßische Dörfer mit polnischen Mehrheiten kehrte das ge­samte Abstimmungsgebiet am 20. August zu Deutschland zu­rück.

Lit.: Wilhelm Freiherr von Gayl: Ostpreußen unter fremden Flaggen. Ein Erinne­rungsbuch an die ostpreußische Volksabstimmung vom 11. Juli 1920. Königsberg (Pr.) 1940. – Walther Hubatsch: Die Volksab­stimmung in Ost- und Westpreußen – ein demokratisches Bekenntnis zu Deutschland. Hamburg 1980, – Rudolf Klatt: Ost­preußen unter dem Reichskommissariat 1919/1920, Heidelberg 1958. – Piotr Sta­wecki/Wojciech Wrzesiñski: Plebiscyty na Warmii, Mazurach i Po­­-

wiœlu w 1920 roku. Wybór Ÿróde³ (Die Volksabstimmungen im Erm­land, in Masuren und im Weichsel­land im Jahre 1920. Eine Quellen­sammlung). Allenstein (Olsztyn) 1986. – Wojciech Wrzesiñski: Plebi­scyty na Warmi i Mazurach oraz na Po­­wiœlu w 1920 roku (Die Volks­ab­stimmungen im Ermland und in Masuren sowie im Weichselland im Jahre 1920). Allenstein (Olsztyn) 1974.

Bild: Mitglieder der interalliierten Kommission in Allenstein / Quelle: Von unbekannt – Archiv der Martin-Opitz-Bibliothek (ADMA 13066 Fasc. 7), PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=11664050

Hans-Werner Rautenberg