Ereignis vom 1. Januar 1932

Polens Schulreform und deren Auswirkungen auf das Deutsche Privatschulwesen

Die Universität Lembergs

Der polnische Staat setzte sich ab 1920 aus Bevölkerung und Gebieten zusammen, die viele Jahrzehnte lang von den unterschiedlichen Gesetzen Deutschlands, Russlands und Österreichs sowie den dort praktizierten Gewohnheiten geprägt waren. Diese erbte die junge polnische Republik, dazu Millionen Menschen anderer Nationalität, Sprache und Religion, welche diese ihren Kindern in eigenen, unterschiedlich betriebenen Privatschulen vermittelten. Polens Regierende sahen es daher als ihre Aufgabe an, die Schulausbildung in allen Regionen einander anzugleichen, zu reformieren und bei nichtpolnischen Schulen gleichzeitig die Weichen in Richtung Poloni­sierung zu stellen.

Der Bearbeiter ist nicht sachkompetent genug, um alle Aspekte dieser Schulreform beschreiben zu können. Er ist angewiesen auf die schriftlichen Aussagen einiger damals davon betroffener Persönlichkeiten und auf das von ihm selbst erschlossene Dokumentationsmaterial in verfilmten Schulakten, die in Lem-berg lagern. Kernstück dieser fraglos schwierig zu bewältigenden Schulreform war die Festlegung eines verbindlichen Bildungsganges für alle polnischen Gebiete, wonach die Kinder bis zum 12. Lebensjahr sechs Klassen einer Volksschule besuchen mussten, danach ein vierklassiges Gymnasium absolvieren konnten, um bei besonderer Begabung schließlich mit 16 Jahren auf ein zweijähriges Lyzeum zu wechseln, welches nach Bestehen (dem Abitur) den Besuch einer Universität erlaubte. Bereits die Aufnahme ins Gymnasium hing von einer Prüfung ab, die auch beim Wechsel von der deutsch-evangelischen Volksschule in das deutsche Privatgymnasium in polnischer Sprache zu absolvieren war. Einer solchen musste sich seinerzeit auch der Verfasser dieses Berichts in Lemberg unterziehen. Weitaus schwieriger war die sog. „kleine Reifeprüfung“, die die 16jährigen zum Abschluss der Gymnasialzeit bestehen mussten, wollten sie zum Lyzeum zugelassen werden. Der Lemberger Schuldirektor J.V. Rollauer schrieb dazu: „Für die deutschen Schulen Galiziens gab es mancherlei Erschwernisse. Die Erteilung des Öffentlichkeitsrechts war immer ungewiss. Infolgedessen umfassten die Abschlussprüfungen eine weit größere Anzahl von Gegenständen als an öffentlichen Schulen, was eine schwere Belastung der Gedächtniskraft und Nervenenergie der Schüler zur Folge hatte. Schon die sog. ‚kleine Reifeprüfung‘ für die sechzehnjährigen Absolventen der vierten Gymnasialklasse wurde auch von polnischen Pädagogen, die der Anstalt fern standen, als Härte bezeichnet.“

Kirchenrat Dr. Oskar Wagner bemerkte zu der Reform, dass damals die Schulstruktur völlig umgebaut wurde. „Hinsichtlich der Privatschulen hob es die in der Staatsverfassung für die evangelischen Schulen und auch in der Kirchenverfassung verankerten Rechte auf eine Beaufsichtigung der Privatschulen durch ihre Träger auf. Die deutschen Privatschulen waren durch die Auflage, dass die Fächer Geschichte, Erdkunde und Staatsbürgerkunde in polnischer Sprache unterrichtet werden mussten, zu deutsch-polnischen Simultanschulen geworden. Die an Privatschulen tätigen Lehrer hatten die polnische Staatsbürgerschaft nachzuweisen und unter Vorlage eines politischen und moralischen Führungszeugnisses bei der Schulbehörde eine Unterrichtserlaubnis nachzuholen. Die Schulen mussten ausreichend mit Lehrmitteln und Einrichtungen wie Werkräumen, Schulgärten u.a. ausgestattet sein, die Schulträger hatten nachzuweisen, dass sie über die Mittel zur Erhaltung der Schulen verfügen und woher sie sie nähmen. Das Schulgesetz brachte auch eine Änderung der Lehrerausbildung, die fortan an den dreijährigen staatlichen polnischen Lyzeen nach Abschluss des Gymnasiums zu erfolgen hatte… Nach Erlass des Schulgesetzes von 1932 unternahmen (für die galiziendeutschen evangelischen Privatschulen) die Kirchenleitung (Zöckler) und Gemeinden das Menschenmögliche (Fortbildungs- und Sprachkurse für Lehrer, einige Schulneubauten, Erweiterung oder Renovierung von Schulgebäuden), um ihre Kirchenschulen zu retten. Ohne Hilfe von auswärts (Gustav-Adolf-Verein, Deutscher Schulverein) war es nicht möglich, den staatlichen Anforderungen nachzukommen …

Ungleich schwieriger gestaltete sich die Lage der galizien­deutschen Katholiken und ihres privaten Schulwesens … Bereits das österreichische Schulgesetz von 1868 brachte die Trennung von Kirche und Schule … und stellte die Schulgemeinden vor die Entscheidung, ihre Schulen zu verstaatlichen oder sie als Privatschulen auf eigene Kosten weiterzuführen. Während die deutschen katholischen Gemeinden Galiziens unter dem Einfluss ihrer polnischen Geistlichkeit… ihre Schulen der staatlichen Verwaltung übergaben (und sie damit der Polonisierung zuführten), entschieden sich die evangelischen deutschen Gemeinden … für die Beibehaltung ihres konfessionellen Schulwesens als Privatanstalten… den (wenigen, vom Verband deutscher Katholiken unterhaltenen) deutsch-katho­lischen Privatschulen gegenüber wandte die polnische Regierung das Schulgesetz mit Rücksicht auf das polnische Privatschulwesen in Deutschland nicht mit aller Schärfe an, auch wenn vier Lehrern die Unterrichtserlaubnis entzogen wurde und keine der katholischen deutschen Privatschulen das Öffentlichkeitsrecht zuerkannt bekam, das jährlich neu zu beantragen war.“

Im Ostdeutschen Volksblatt, Lemberg, vom 30. Oktober 1932, lesen wir: „Mit dem begonnenen neuen Schuljahr 1932/33 ist auch die neueste durchgreifende Schulreform in Polen eingeführt worden. Sie … ist so radikal, dass sie z.B. in Universitätskreisen großen Widerspruch hervorrief. Es ist ein gewaltiges Experiment, das sich erst bewähren muss.“ Weiter befasst sich das Volksblatt mit der Schulstatistik. Sie weist aus, dass das deutsche Schulwesen in Polen, welches 1925/26 noch 1.550 deutsche Volksschulen mit 92.214 Schulkindern betrug, bis 1930/31 auf 778 Volksschulen mit 62.700 Kindern schrumpfte. Gegenwärtig gibt es 29 deutsche private Gymnasien mit 7.700 Schülern. Was nun die Erteilung des Öffentlichkeitsrechts an diese Gymnasien betrifft, so erhielt dieses kein einziges deutsches privates Gymnasium in Oberschlesien, Posen und Pommerellen, nicht einmal das Goethe-Gymnasium in Grau­denz … Auch unsere beiden Gymnasien in Kleinpolen, das zu Stanislau und zu Lemberg, bekommen seit zwei Jahren kein Öffentlichkeitsrecht. Groß ist der moralische und materielle Schaden, der dadurch der Schule, den Schülern und Eltern angerichtet wird …“.

1931 unterhielt die evangelische Kirche in Galizien 85 Privatvolksschulen mit deutscher Unterrichtssprache (Evangelisches Gemeindeblatt, Stanislau, 28. Jg. 1931). Zur Einstimmung auf die schulischen Zustände in den damaligen deutschen Kolonien Galiziens sei Walter Kuhn 1930 zitiert: „Das ganze Unterrichtssystem hatte einen bäuerlichen, einfachen und robusten Charakter… Das dörfliche Schulwesen Galiziens im 19. Jhdt. gehört eben nicht dem binnendeutschen Kulturbereich an, sondern dem der jungen deutschen Sprachinseln. Seine nächsten Parallelen hat es bei den deutschen Siedlern in Kongresspolen und Wolhynien, wo es sich bis heute in den alten Formen erhalten hat, während in Galizien später eine Hebung erfolgte.“ 1869 wurde die Gestaltung des Schulwesens in Österreich ganz in die Hände der staatlichen Behörden gelegt. So kam es in Galizien, das in der gleichen Zeit seine Sonderstellung durchsetzen konnte, unter polnische Verwaltung. Das bedeutete die Unterstellung unter eine polnische und katholische Behörde. Bei den Protestanten, die ihre Schulen als private behielten und damit den Anspruch auf staatliche Unterstützung verloren, wirkten dabei religiöse und nationale Besorgnisse zusammen.

Der in den 30er Jahren an einer deutsch-evangelischen Schule in Galizien tätig gewesene Oberlehrer Leopold Höhn berichtete, dass sich die polnische Schulreform anfangs verheerend in den deutschen Siedlungen auswirkte. „Alle Lehrkräfte mussten vom Staate bestätigt werden. Außer ihren Berufszeugnissen waren sie gezwungen, eine Staatsbürgerurkunde, ein Heimat­certificat, ein politisches und moralisches Führungszeugnis und einen Gesundheitsschein vorzulegen. Die Schulerhalter mussten für das Schulgebäude Sorge tragen, das allen Anforderungen in pädagogischer, hygienischer und sanitärer Hinsicht entsprach. Die Gemeinden wurden gezwungen, einen Etat vorzulegen, der den Nachweis erbrachte, wie die Lehrerschaft bezahlt und die sonstigen Erfordernisse der Schule finanziert wurden. Kreisärzte erklärten viele Schulgebäude als ungeeignet zu Schulzwecken. Den Aushilfslehrern, die in den Kleinst­schulen tätig waren, wurde die weitere Unterrichtserlaubnis wegen mangelhafter pädagogischer Vorbildung entzogen. Leh­rer und Lehrerinnen, die sich bei den polnischen Behörden unbeliebt gemacht hatten, wurden nicht bestätigt.“ Die verordneten Unterrichtsprogramme wiesen nur polnische Kulturleistungen aus und ließen keinen Raum für die Kultur des deutschen Volkes. „In der Praxis waren wir daher gezwungen, unseren deutschen Kindern bei jeder Gelegenheit auch deutsche Kulturerzeugnisse … nahe zu bringen. Große Schwierigkeiten bereitete die Erteilung des Geographie- und Geschichtsunterrichts in polnischer Sprache, weil es unsere deutsch sprechenden und fühlenden Kinder ungemein belastete und auch sonst unsere Schulen zu zweisprachigen machten. Manche übereifrige Inspektoren verlangten auch den Gebrauch der polnischen Sprache in den anderen Unterrichtsfächern … Mir war damals kein wahrheitsgetreues Geschichtsbuch für die Volksschule in die Hand gekommen. Auch da waren deutsche Lehrer gezwungen, manche Korrektur selbst vorzunehmen.“

In den im Lemberger Archiv (Central´nyj Derzavnyj Istoricnyj Archiv Ukrajiny u L´vovi) verfilmten Archivalien fand der Verfasser eine Reihe polnischer Schulakten zu diesem Thema, die es für einzelne deutsche Gemeinden ermöglichen, die damaligen Vorgänge zu rekonstruieren und die zugehörigen Dokumente zu veröffentlichen (Zeitweiser 2012 der Galiziendeut­schen, Hrsg. Hilfskomitee der Galiziendeutschen). Demnach sah sich in den evangelischen Gemeinden das Presbyterium gezwungen, bei der lokalen Schulbehörde ein Bittgesuch um weitere Betriebserlaubnis ihrer damals meist schon 150 Jahre lang bestehenden Volksschulen zu stellen. Dazu musste ein ganzes Paket von Anlagen beigefügt werden, reich versehen mit Siegeln und Unterschriften, auch solchen des zuständigen Pfarrers und des Superintendenten. Der deutsche Dorfschulze und der evangelische Pfarrer mussten den Lehrern ein Leumundszeugnis (Świadectwo moralności) ausstellen, ein Liste der Lehrer mit Angabe deren Qualifikation und ein weiteres Lehrerverzeichnis mit Nennung der Fächer und Wochenlehrstunden einreichen, Angaben über die Zahl der Schüler, ihre Geburtsjahrgänge, Religion etc. sowie die Auslastung der Schule machen, eine Zeichnung des Schulgebäudes vorlegen, sich mit dem Statut der Schule ausweisen, Listen zuschicken, die das Inventar der Schule, die Bibliothek der Lehrer, die Schulbibliothek der Kinder und speziell polnische Literatur beinhalteten und mit genauen Angaben belegen, welche Kosten der Schulbetrieb erfordert und wie die Gelder dafür bereit gestellt werden. Letzteres führte in der Regel zu einer Zuzahlung durch die Kirchenkasse und aus Mitteln eines Fonds des Superintendenten, was dieser ausdrücklich erklären und mit Unterschrift und Siegel bestätigen musste. Da die Mittel in den meisten Fällen trotzdem nicht reichten, wurden die Restkosten auf die Mitglieder der Gemeinde umgelegt und die Zustimmung dazu von jedem dieser Mitglieder durch eigenhändige Unterschrift bestätigt. Schließlich musste darüber von der Gemeinde ein ausführliches Protokoll in polnischer Sprache erstellt werden, von denen mehrere in den Akten gefunden wurden.

Der polnische Schulinspektor prüfte all diese Unterlagen und sandte sie dann mit seinem Gutachten, welches auch politische Aspekte berücksichtigte und daher häufig mit Tajne = Geheim versehen war, seiner vorgesetzten Schulbehörde zu. Dieser auf­wendige Vorgang spielte sich nach 1932 Jahr für Jahr für Privatschulen ab. Die Unterrichtserlaubnis für den Lehrer hing dann davon ab, ob ihm der Starost die Unbedenklichkeitserklärung (Zaświadczenie) ausstellte. Es kam auch vor – wie im Fall der dreiklassigen Dornfelder Schule – dass die Behörde dem Schulleiter, der den Polen nicht passte, die Leitung der Schule entzog, ihn aber als Lehrer bestätigte.

Lit.: J.V. Rollauer, Aus der Geschichte des Deutsch-Evangelischen Gymnasiums in Lemberg (1918-1939), in: Heimat Galizien. Ein Gedenkbuch. Hrsg. Hilfskomitee der Galiziendeutschen 1965, S. 224. – Oskar Wagner, Das deutsche Schulwesen in Galizien in der Zeit der Republik Polen 1918-1939, in: Kulturwart. Beiträge zur deutsch-polnischen Nachbarschaft. Nr. 161 (Nov. 1985) und 162 (Febr. 1986) und Zeitweiser 2007 der Galiziendeutschen. – Walter Kuhn, Die jungen deutschen Sprachinseln in Galizien. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung Münster 1930. – Leopold Höhn, Das deutsch-evan­gelische Privatvolksschulwesen in Galizien (1782-1939). Das heilige Band – Der Galiziendeutsche 1960, Hefte 1 -9.

Bild: Die Universität Lembergs. / Quelle: Von Alex Zelenko, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1306678

Erich Müller