Ereignis vom 1. Januar 1947

Preussen zwischen Idee, Realität und Legende 1947-1997

Niederwalddenkmal mit bekrönender Germania zur Erinnerung an die Einigungskriege

Preußen, dieses geschichtlich zugleich junge und kurzlebige, aber gleichwohl wirkungsmächtige Gebilde neuzeitlicher Staatsordnung in Europa, besteht bekanntlich nicht mehr. Der Streit um das Ende seiner Existenz konnte bisher nicht abschließend entschieden werden bzw. bleibt eine Frage der historischen Perspektive. Nur als ein Nachklang oder „Nach-Tauroggen“ kann jenes Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 gelten, mit dem vor nunmehr fünfzig Jahren die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges den Staat Preußen für aufgelöst erklärten, da er „von jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ gewesen sei. Damals war Preußen bereits in seinen östlichen Provinzen teils auf fremde Staaten, im übrigen aber auf die deutschen Nachfolgeländer im Osten und im Westen des ehemaligen Deutschen Reiches aufgeteilt, die sich gerade neu konstituiert hatten. Aber auch unabhängig davon stehen sich nach wie vor hinsichtlich des Endes der preußischen Geschichte mehr oder weniger unvermittelt konkurrierende Auffassungen gegenüber, ob Preußen bereits 1871 oder 1918 oder aber 1932 oder schließlich erst infolge der nationalsozialistischen Politik untergegangen sei.

Geblieben sind indessen die unübersehbaren geschichtlichen Nachwirkungen Preußens, und überdauert haben jene mehr oder weniger plausiblen Zäsuren die nach wie vor erstaunlich verschiedenen „Preußenbilder“, in denen die preußische Geschichte bis in die Gegenwart fortlebt. In ihnen spiegeln sich nicht nur die geschichtlichen Realitäten samt ihrem ideellen Substrat wider, sondern ebenso zahlreiche Legenden; mit ihnen blieben die Urteile über Preußen von alters her, vor allem aber seit den Reichseinigungskriegen von 1866 bis 1871, verknüpft. Der Historiker, der sich mit „Preußen als historischem Problem“ auseinandersetzen will, sieht sich noch immer mit der Aufgabe konfrontiert, diese alten und neuen, oft hartnäckig wiederholten Legenden von der geschichtlichen Realität zu scheiden. Seine Aufgabe mag insofern einfacher geworden sein, als die allzu offensichtlichen Legenden, wie sie teils gerade wieder nach 1945 gepflegt wurden, mögen sie nun „golden“ oder „schwarz“ gewesen sein, inzwischen zumeist als obsolet gelten dürfen. Ein gewiss unverdächtiger Kronzeuge dafür ist wohl der für seine ambivalente Stellung zu Deutschland bekannte, kürzlich verstorbene französische Staatspräsident François Mitterand, der in seinen Memoiren (1996) subtil zwischen dem aufgelösten und großenteils der Sowjetunion überlassenen Preußen und dem Nationalsozialismus zu unterscheiden wusste: „In der Verdammung dessen, was geschehen war, wurden Nazismus und Preußentum gleichgesetzt. Man warf die Leichen beider in das Massengrab. Ein bisschen Nachdenken hätte indessen zur Einsicht geführt, dass die Nazis die zivilisatorischen Werte, die Friedrich II. hoch-hielt, verleugnet hatten. Hitler wollte die preußische Identität zerschlagen, so wie es nach ihm Stalin tat. Zusammen haben sie schließlich ihr Ziel erreicht. Das war das große Unglück dieses Landes, dem man nicht verzieh, dass es auf dem Schlachtfeld gefürchtet worden war.“

Es kann wohl nach diesem Ende kein Zweifel sein, daß Preußen nach wie vor kontrovers diskutiert und beurteilt wird. Von einer distanziert-leidenschaftslosen, lediglich historischen („antiquarischen“) Betrachtung, wie sie manche Historiker bereits während der fünfziger Jahre vorhersagten, kann noch immer nicht die Rede sein. Affirmation findet sich seltener als häufig unsachliche Kritik mit teils schwer nachprüfbaren Begründungen. Dies dokumentiert sich bereits in den Reaktionen auf die mit der großen Preußenausstellung im Sommer 1981 eingeleiteten, im Gedächtnisjahr 1986 zum 200. Todestag König Friedrichs II., des Großen, fortgeführten und dann aus Anlass der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten für einen kurzen geschichtlichen Moment wiederbelebten Bemühungen um Preußen als einen Integrationsfaktor deutscher Geschichte und Gegenwart. Dabei ging es schwerlich um eine sogleich befürchtete „Preußenrenaissance“ oder „Preußenwelle“, sondern lediglich darum, nach den umwälzenden weltpolitischen Ereignissen des Herbstes 1989, in dessen Zentrum das geteilte Deutschland stand, Preußen als ein nachhaltig prägendes Element der neueren (und neuesten) deutschen Geschichte wieder stärker zu beachten, statt es, wie in einem Teil der westdeutschen Historie, auszuklammern oder aber allein dem östlichen deutschen Teilstaat zu überlassen, dessen Geschichtspropagandisten in der Tat seit den siebziger Jahren beträchtliche Anstrengungen unternahmen, das „preußische Erbe“ in die Vorgeschichte der früheren DDR einzubeziehen.

Es wäre in der Tat erstaunlich, wenn die mit dem Jahre 1989 eingeleiteten politischen Veränderungen, die ungeachtet aller festen Westintegration der (alten) Bundesrepublik Ostmitteleuropa und sogar Osteuropa wieder stärker ins deutsche Blickfeld rückten, nicht auch Konsequenzen für das Geschichtsbild und für die Akzentuierung der historischen Perspektive haben sollten. Das vereinte Deutschland in den 1991 festgeschriebenen Grenzen ist, wie wiederholt bemerkt wurde, wieder östlicher geworden, übrigens kaum zugleich wieder protestantischer. Die Vorgänge um die zögerliche Verwirklichung des knappen Hauptstadtbeschlusses des Deutschen Bundestages vom Sommer 1991 zugunsten der alten preußisch-deutschen Hauptstadt Berlin dokumentieren allerdings eindringlich die großen Schwierigkeiten, die mit einer derartigen Schwerpunktverlagerung verbunden bleiben, und zwar keineswegs allein aus finanziellen oder technischen Gründen. Damit werden aber sicherlich diejenigen Faktoren unserer Geschichte wieder größere Bedeutung und Beachtung erlangen, die für das Werden des mittleren und östlichen Deutschland konstitutiv gewesen sind: Zu ihnen gehörte neben Sachsen, das in der ehe-maligen DDR vorübergehend seine im 18. Jahrhundert an den Rivalen Preußen verlorene Vorrangstellung wieder erringen konnte, an bevorzugter Stelle das historische Brandenburg-Preußen, dessen öffentliche Wiederaneignung während der achtziger Jahre einsetzte, ohne indessen zu einer Rehabilitierung zu führen.

Es steht nach den Ergebnissen der jüngeren kritischen wissenschaftlichen Literatur wie außerdem der recht umfangreichen Preußenpublizistik der letzten Jahrzehnte nicht zu befürchten, daß alte Preußenlegenden oder gar ein neuer Preußenmythos wieder an Bedeutung gewinnen. Es zeigt sich zugleich, daß die Geschichtswissenschaft wie in der Vergangenheit zu keinem einheitlichen „Preußenbild“, vor allem aber zu keiner übereinstimmenden Beurteilung Preußens gelangt ist. Dies rührt letzt-lich daher, daß Preußen selbst in den Jahrhunderten seiner Existenz eine „dialektische Einheit von Gegensätzen“ gewesen ist, daß es im Verlauf der Geschichte sehr unterschiedliche Erscheinungsformen angenommen hat, die sich schwerlich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.

Auf das Ganze gesehen, müssen wir uns daher mit dieser Mehrgesichtigkeit Preußens, mit seiner vielzitierten „Janusköpfigkeit“ (Madame de Staël), abfinden: Der preußische Macht- und Militärstaat absolutistischer Prägung, wie er sich seit dem 17. Jahrhundert, seit der langen Regierung des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, ausbildete und im 18. Jahrhundert unter dem zweiten und vor allem unter dem dritten preußischen König seinen Zenit erreichte, war gemäß den Zeitumständen zugleich ein hoch effizienter Verwaltungs-, Finanz- und Wirtschaftsstaat; seine geschichtliche Eigenart wie seine besondere Stellung im Ver-band des römisch-deutschen Reiches wie dann im europäischen Staatensystem beruhte primär auf seiner Staatlichkeit, die erst im Laufe des 18. Jahrhunderts zur vollen Entfaltung gelangte.

Brandenburg-Preußen verknüpfte kein unmittelbares Band mit dem alten Ordensstaat, sondern es entwickelte sich von der Kurmark aus schwerpunktmäßig im Raum zwischen Elbe und Oder, ehe es dann durch die im Erbgang zu Beginn des 17. Jahrhunderts hinzu erworbenen und 1648 durch Kompensationsgebiete für das entgangene Vorpommern noch vermehrten reichischen Territorien aus einem dynastisch zusammengefügten „Konglomerat von Ständestaaten“ im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einer zentralisierten Monarchie wurde; es war mithin kein nationalstaatliches Gebilde, der übersteigerte, aber zeittypische Nationalismus des späteren 19. Jahrhunderts daher kein altpreußisches Erbe. Aus altpreußischer Wurzel stammte hingegen der Toleranzgedanke, der in einem mehrkonfessionellen Staatswesen von ganz unterschiedlicher landsmannschaftlicher Zusammensetzung frühzeitiger einen Nährboden finden konnte als in den geschlossenen deutschen Konfessionsstaaten, zumal wenn sich Wirtschafts- und Religionspolitik mit der Aufnahme großer Einwandererströme von Glaubensflüchtlingen während des späten 17. und des 18. Jahrhunderts in dem menschen- und ressourcenarmen Land sinnvoll ergänzten. Dieser ältere preußische Staat und zumal seine expandierende Hauptstadt Berlin wurden unter dem dritten Preußenkönig zugleich ein Eingangstor der westeuropäischen Aufklärung im Reich, an deren Staatslehre und Regierungsmaximen sich Friedrich der Große orientierte, wenngleich er als regierender Monarch des „aufgeklärten Absolutismus“ die daraus abgeleiteten, geradewegs zur Revolution von 1789 führenden radikalen politisch-sozialen Emanzipationslehren für sich verständlicher-weise nicht nachvollziehen wollte. So blieb sein auch theoretisch reflektiertes Reformprogramm eher begrenzt; es orientierte sich am eigenen Staatsinteresse mindestens ebenso stark wie am „Gemeinwohl“ oder am von der aufgeklärten Staatslehre propagierten „Glück“ der Bevölkerung. Immerhin führte dies zu einer Selbstbeschränkung der monarchischen Gewalt, zu rechtsstaatlichen Ansätzen im „Gesetzes- und Verwaltungsstaat“ Preußen. Dort löste dann seit der Wende zum 19. Jahrhundert eine aufgeklärte und fähige, in den Spitzen vielfach nichtpreußische und teilweise bürgerliche Bürokratie den zuletzt übersteigerten monarchischen Absolutismus weitgehend ab; sie konnte in der schweren außenpolitisch-militärischen Krise von 1806/07 weitreichende gesellschaftspolitische wie administrative Reformen unter dem Druck des napoleonischen Systems wenigstens einleiten. Allerdings stagnierten diese Reformen seit 1815, und ein konstitutioneller Wandel zum Verfassungsstaat ließ sich gegen den Widerstand des privilegierten Adels nicht durchsetzen. In der damaligen prekären Situation vermochte der preußische Staat ein geistiges Potential zu mobilisieren, das ihm auch kulturell, namentlich durch die modellhafte Berliner Universitätsgründung von 1810, eine Führungsposition während der Nationalstaatsbewegung verschaffte, woran die glänzende preußische Wissenschaftspolitik des späteren 19. Jahrhunderts anschließen konnte.

Das modernisierte Preußen als Träger der Reichsgründung nach der monarchischen Verweigerung von 1848 entfaltete gegen-über Österreich und den deutschen Mittelstaaten eine überlegene Rolle als Wirtschaftsmacht. Sein Aufstieg beruhte von alters her auf einer unerhörten Anspannung aller Kräfte; er vollzog sich mit scharfer Sozialdisziplinierung seiner Bewohner, ohne viel Rücksicht auf deren Glück, wenngleich bereits nach dem Ende der friderizianischen Ära eine deutliche Abmilderung und zugleich Erschlaffung eintrat, die dann durch das Engagement der Reformergeneration kompensiert werden konnte. Im Ringen um die deutsche Einheit nach dem Scheitern der liberalen deutschen Nationsbildung 1848 kehrte der preußische Staat alsbald nach Olmütz wieder die Politik des harten und unerwarteten Zugriffs, der militärischen Erfolge und des rücksichtslosen Strebens nach territorialer Ausdehnung hervor, wie vor allem die Annexionen von 1866 zeigten. Da-durch und durch die strukturverändernde „Realpolitik“ des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck wurden Trennungslinien zwischen den altpreußischen Traditionen und dem auf anderer Legitimationsbasis geschaffenen neuen deutschen Reich von 1871 gezogen, die ungeachtet der fortdauernden Dominanz Preußens in diesem Reich zu wachsenden Spannungen und einer inneren Entfremdung führten. Die Reichsidee des Kaiserreichs und der „preußische Staatsgedanke“ traten auseinander, obwohl sie durch die Verfassung von 1871 kunstvoll miteinander verklammert waren und preußische Elemente, namentlich das Beamtentum und das Militär, weiterhin einflussreich blieben. Die Niederlage des Reiches im Ersten Weltkrieg zog dann automatisch den Sturz der preußischen Monarchie nach sich; aber der preußische Staat wurde ungeachtet starker Kontinuitäten zur Vorkriegszeit in der labilen Republik von Weimar zu einem ruhenden demokratischen Pol und stabilisierenden Faktor auf der Basis eines Bündnisses der die Republik tragenden Parteien, jedenfalls von 1919 bis 1932.

So muß es bei der historischen Rückbesinnung auf Preußen als eine der zentralen historischen Kräfte unserer lange verdrängten geschichtlichen Herkunft auch 1997 bei der Ambivalenz bleiben, die diesen Staat im Verlaufe seines Auf- und Abstieges geprägt hat: Neben einer Geschichte der Leistungen und Erfolge, die das verunsicherte gesamtdeutsche Selbstbewusstsein in der Gegenwart stärken kann, steht zugleich, und keines-wegs in geringem Umfang, eine Geschichte von „Irrwegen“, Versäumnissen und Fehlschlägen, vor deren Wiederholung der Historiker warnen sollte, wie er andererseits die positiven Seiten nicht minder bewahrt sehen möchte.

Lit: Otto Büsch (Hrsg.): Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2: Das 19. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 1992; Gerd Heinrich: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt a. M. 1981 (u. ö.); Ulrich Scheuner: Der Staatsgedanke Preußens, Köln/Wien 1983; Manfred Schlenke (Hrsg.): Preußische Geschichte. Eine Bilanz in Daten und Deutungen, 2. Aufl. Freiburg/Würzburg 1991; Wolf Jobst Siedler: Abschied von Preußen, Berlin 1991; Rudolf v. Thadden: Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, München 1981.

Bild: Niederwalddenkmal mit bekrönender Germania zur Erinnerung an die Einigungskriege / Quelle: Von Johannes Schilling – Selbst fotografiert durch Martin Kraft, 8. März 2014, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31510792

Peter Baumgart