Ereignis vom 1. Januar 1923

Radikale Maßnahmen zur Polonisierung der Deutschen Minderheit in Polen

Ethnografische Karte Polens von Edward Czyński und T. Tillinger (1912)

Der junge polnische Staat erließ 1923 existenzbedrohende Anordnungen gegen deutsche Organisationen, Kirchengemeinden und Schulen mit dem Ziel, sie zu polonisieren oder zu zerschlagen. Das wird an drei galiziendeutschen Beispielen aufgezeigt, die stellvertretend für die damaligen Nöte der Deutschen in Polen stehen.

Nach dem Vorbild völkischer Schutzvereine in anderen österreichischen Kronländern gründeten galiziendeutsche Persönlichkeiten 1907 den „Bund der christlichen Deutschen in Galizien“, dessen Aufgabe es war, die kulturellen und wirtschaftlichen Belange der Deutschen Galiziens zu fördern und ihre Interessen den Staats- und Landesbehörden gegenüber zu vertreten. Wichtig war, dass der „Bund“ die bislang lose nebeneinander lebenden deutschen Angehörigen beider Glaubensbekenntnisse zu einer Gemeinschaft zusammenschloss und auch die Trägerschaft über eine Anzahl deutschkatholischer Privatschulen übernahm. Nachdem seine segensreiche Arbeit im Ersten Weltkrieg eingeschränkt und im nachfolgenden polnisch-ukrainischen Krieg ganz unterbrochen werden musste, reaktivierte er sich im August 1922 und berief die nächste Jahrestagung zum 17. März 1923 nach Lemberg ein. Zu dieser erschienen neben etwa 700 Teilnehmern aus Galizien auch mehrere deutsche Sejmabgeordnete, Senatoren, Vertreter deutscher Vereinigungen aus den westpolnischen Gebieten und der Wiener Studentenschaft. Aber diese Kundgebung missfiel den polnischen Behörden, besonders der Verbrüderungsakt mit den Deutschen aus den ehemals preußischen Gebieten. Daraufhin löste der Wojewode den „Bund“ im April 1923 auf. Die deutschen Evangelischen scharten sich fortan um ihre deutschgeprägte evangelische Kirche, die deutschen Katholiken Galiziens, die zunächst große Schwierigkeiten hatten, ihre Privatschulen zu erhalten, suchten ab 1925 Anlehnung an den „Verband deutscher Katholiken“. – Das gleiche Schicksal wie der galiziendeutsche „Bund“ erlitt im Mai 1923 der Bromberger „Deutschtumsbund zur Wahrung der Minderheitenrechte“.

Die Zahl der evangelischen Gemeindemitglieder polnischer Nationalität in Lemberg war im 19. Jahrhundert gering, vermehrte sich aber zunehmend durch die Polonisierung der deutschen Stadtbevölkerung in der überwiegend polnisch geprägten Stadt. Das deutsche Übergewicht in der Gemeinde wurde nur dank des Zuzugs deutscher evangelischer Nachkommen aus den Landsiedlungen aufrechterhalten. Trotzdem wurde bereits ab 1874 für die evangelischen Polen einmal im Monat ein Gottesdienst in polnischer Sprache abgehalten, ferner polnischer Religionsunterricht erteilt. Es war in der damals österreichischen Zeit selbstverständlich, dass die deutschen Pfarrer perfekt polnisch sprechen mussten und von der polnischen Sprache auf der Kanzel und im allgemeinen Umgang Gebrauch machten. Außerdem wurde den evangelischen Polen damals im Presbyterium ein Viertel der Sitze eingeräumt. Aber je mehr sich die Macht der Polen in Galizien festigte, desto selbstbewusster traten sie in ihrer Kirchengemeinde auf, gaben sich nicht mit den eingeräumten Privilegien zufrieden und strebten schon vor 1914 nach der Führung der Gemeinde. Sie schufen sich im „Towarzystwo Polaków Ewangelików“ eine Kampforganisation zur Durchsetzung dieses Zieles. Dies führte zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen der deutschen Mehrheit und der polnischen Minderheit, doch wurden diese Gegensätze in österreichischer Zeit noch nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen.

Das änderte sich nach der Angliederung Galiziens an Polen. Jetzt trat ihr Verein mit aller Schärfe zum Kampf um die Polonisierung der deutschdominierten Gemeinde an. Zur Verstärkung ihres Einflusses in den Gemeindegremien warben sie ab Anfang der 20er Jahre unter ihren Gesinnungsgenossen um deren Übertritt vom römisch-katholischen zum evangelischen Glauben: Im Lemberger Staatsarchiv liegen die damaligen Pfarramtsakten, in denen alle diese Konvertiten namentlich aufgeführt sind.

Auslöser dieser Auseinandersetzung waren die Bestrebungen des polnischen Generalsuperintendenten Dr. Bursche in Warschau, der polnischen Minderheit das Übergewicht und die kirchliche Führung zu sichern und die evangelischen Kirchen in den übrigen Teilen des neu entstandenen Polen von Warschau abhängig zu machen. Seine 1920 eröffneten Angriffe im Kirchenblatt „Ewangielik“ gegen die galizische evangelische Kirche und die Rückendeckung, die die Polen jetzt von ihren staatlichen Behörden erhielten, waren Anlass, nun offensiv mit Presseangriffen, polnisch-nationalen Argumenten, Entschließungen und Eingaben gegen die „deutsche Kirche“ vorzugehen. Letztendlich erreichten sie aber nur in der evangelischen Gemeinde Krakau, an deren Spitze sowieso ein polnischer Pfarrer stand, den Anschluss an das Konsistorium in Warschau.

In der Lemberger evangelischen Gemeinde verlangten sie auf einer Versammlung im Januar 1923 die paritätische Vertretung in den Gemeindekörperschaften, ferner jede Woche einen polnischen Gottesdienst. Während die Deutschen die Regelung der letzten Forderung dem Ermessen des Ortspfarrers überließen, stieß die erste auf ihren Widerspruch, und sie entschieden sich für die Ausschreibung der Neuwahl der Gemeindevertretung und des Presbyteriums, um eine Entscheidung der Gemeindemitglieder herbeizuführen. Als Wahltermin wurde der 15. April 1923 festgesetzt. Diese Wahl wurde aber von der polnischen Seite sabotiert, weil sie wusste, dass sie dabei verlieren würde. Stattdessen beantragten die Polen bei dem Wojewoden die Auflösung der Gemeindekörperschaften und die Einsetzung eines Regierungskommissars. Obwohl es fraglich blieb, ob der Wojewode dazu überhaupt berechtigt war, entsprach er ihren Wünschen: Er verschob die Wahl, löste die Gemeindevertretung und das Presbyterium auf und setzte einen kommissarischen Verwaltungsausschuss ein, in dem Polen und Deutsche paritätisch vertreten waren. Gegen diese Verfügung protestierte die Leitung der evangelischen Kirche mit der Feststellung, dass „in Angelegenheit der Wahlen zu der kirchlichen Gemeindevertretung sich die politischen Behörden noch nie eingemischt haben“. Der zwischen den streitenden Parteien lavierende Lemberger Ortspfarrer sprach 1925 rückblickend vom „latenten Gegensatz zwischen den evangelischen Glaubensbrüdern deutscher und polnischer Nationalität, der in den letzten Jahren zu einem offenen Bruderzwist, zu Entgleisungen, Missverständnissen, Verdächtigungen hüben und drüben“ geführt hat. Erst zwei Jahre später verständigten sich die Kontrahenten auf Neuwahlen, in denen den Polen ein Drittel der Sitze in den Gemeindegremien und ihrem Sprecher das höchste Kirchenamt des Kurators zugebilligt wurden. Die Auseinandersetzungen um den deutschen Charakter der Gemeinde waren damit aber keineswegs beendet, sie setzten sich in den 30er Jahren mit zunehmender Schärfe fort. Als um 1930 beim Pfarrerwechsel erneut ein deutscher Pfarrer gewählt wurde, versagte diesem der polnische Wojewode die Bestätigung. So verfügte diese große Kirchengemeinde, zu der noch zahlreiche evangelische Siedlungen im Umfeld von Lemberg gehörten, bis zum Kriegsausbruch über keinen ordnungsgemäß bestellten Pfarrer und half sich mit Vikaren aus.

Richard Breyer formulierte es so, dass „ein zuverlässiger Gradmesser für die Beurteilung der Lebensbedingungen einer nationalen Minderheit die Entwicklung des Schulwesens ist“ und dass dieses eine Säule war, die deutsches Leben in Polen trug. „In ganz Polen fiel die Zahl der staatlichen deutschen Schulen und ihrer Schüler von 1 550 Schulen mit 93 214 Schülern im Jahre 1922/23 auf 768 Schulen und 62 700 Schülern im Jahre 1929/30 und auf 490 Schulen mit 55 000 Schülern im Jahre 1934/35“ (Richard Breyer: Das Deutsche Reich und Polen 1932-1937, Holzner Verlag 1955).

In Lemberg unterhielt die evangelische Gemeinde seit 1808 eine deutschsprachige Volksschule. Sie hatte sich zu einem Glanzstück der Pädagogik entwickelt und wurde deshalb auch von vielen deutschkatholischen Kindern und von Kindern des jüdischen Bürgertums besucht. Allerdings hatte das polnische Episkopat zu Beginn des 20. Jahrhundert mit Gründung deutschsprachiger katholischer Schulen bereits erreicht, dass viele deutschkatholische Kinder die evangelische Volksschule verließen; trotzdem wurde sie 1919/20 von 801 Schülern besucht. Dann gab es ab 1817 in Lemberg ein deutschsprachiges staatliches Obergymnasium. Als der polnische Staat dort die deutsche Unterrichtssprache durch die polnische ersetzte, gründete die evangelische Gemeinde ein deutschsprachiges privates Gymnasium, welches gleichfalls von Andersgläubigen, darunter vielen Juden, besucht wurde. Die Schülerzahl des Gymnasiums wuchs bis September 1923 auf 332 an, wobei die Jugendlichen in getrennten 7 Klassen für Jungen und 6 für Mädchen unterrichtet wurden. Nun mussten mitten im Schuljahr auf behördliche Anweisung 518 jüdische Kinder die beiden deutschen Schulen verlassen. Schwerwiegend war auch, dass den am Gymnasium tätigen Lehrkräften der Staatsschulen die Fortsetzung des Unterrichts verboten wurde. Damit wurde der Anstalt die Mehrheit der Lehrkräfte entzogen. Leitungsverbot erhielten auch die beiden deutschen Schuldirektoren.

Als erste Reaktion darauf stellte das Gymnasium seine Tätigkeit ein, nachdem alle Eingaben dagegen fruchtlos blieben. Es hatte den Anschein, dass das Gymnasium aufgelöst werden müsse, zumal vom Eindruck dieser Restriktion verschreckt auch evangelische Eltern begannen, ihre Kinder in polnischen Anstalten unterzubringen, besonders solche, die in Behörden beschäftigt waren und dort deshalb unter Druck gesetzt wurden. Nur mit großen Mühen und unter vielen persönlichen Opfern des verbliebenen Lehrkörpers und der Mitglieder der Gemeinde gelang es, die beiden deutschen Lemberger Schulen letztendlich am Leben zu erhalten.

Bild: Ethnografische Karte Polens von Edward Czyński und T. Tillinger (1912) / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Erich Müller