Ereignis vom 17. Juli 1524

Reformation in Livland

Karte von Livland, 15.-16. Jahrhundert

Am 17. Juli 1524 fanden sich im Rathaus zu Reval die Vertreter der Städte und Ritterschaften Livlands zusammen und fassten den Beschluss, sich fortan nach der evangelischen Lehre zu richten und sie gegen alle Anfeindungen zu verteidigen. Mit diesem Ereignis fasste die Reformation in Livland endgültig Fuß. In ihren Voraussetzungen und in ihrem Verlauf unter-schied sie sich von der Reformation in Deutschland. Während hier die Landesherren für die spätere Konfession ihres Territoriums den Ausschlag gaben, ließ sich in der livländischen Konföderation kaum umfassendes Einvernehmen über die Konfession herstellen. Zudem war mit dem Nebeneinander der deutschen Ober- und der undeutschen Unterschicht eine gänzlich andere Konstellation als in Deutschland gegeben. So bildete sich in Livland eine Kirche “unmittelbar unter dem Wort”, die Räte der Städte übernahmen das Kirchenregiment, und von lutherischer Seite erfuhr das neue System seine Approbation (Wittram).

Der Zusammenkunft am 17. Juli 1524 war eine Entwicklung vorausgegangen, die von der im Reich weitgehend getrennt verlief. Bereits seit längerem hatte sich wie in anderen Teilen der römischen Kirche eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit den kirchlichen Verhältnissen gezeigt. Der Lebenswandel der katholischen Geistlichkeit, der Ablasshandel und sittliche Verfehlungen der Nonnen riefen auch in Livland Unmut gegen die Kirche hervor. Am 28. Juni 1521 wurde in Ronneburg beim Prälatentag das Edikt von Worms – Reichsacht und päpstlicher Bann über Luther – bekanntgemacht. Die livländischen Stände waren aber im Juni 1522 auf dem Landtag zu Wolmar nicht bereit, die Schriften Luthers zu verdammen, wie dies die Prälaten gefordert hatten. Man kam wegen Martin Luther überein, diese Angelegenheit in Livland so lange auf sich beruhen zu lassen, bis durch “den Papst, den Kaiser, Könige und Kurfürsten, Fürsten, Prälaten, geistliche und weltliche Herren, Hochschulen und Gelehrte, ein Konzil oder auf sonstigem Wege” eine Entscheidung herbeigeführt sei. Sollte der Bann über Livland verhängt werden, wollte man diesen nicht akzeptieren, da das Land mit dem Schwert und nicht mit dem Bann erobert worden sei (Akten und Rezesse, Bd. 3, Nr. 136). Anlass für die Erklärung vom Juli 1524 waren der Konflikt um den Mönch Bomhower in Riga und die Vertreibung des Predigers Marsow aus Dorpat. Die Lehre des Wittenberger Reformators war hin-gegen bis zu diesem Zeitpunkt in Livland kaum allgemein bekannt geworden.

In Riga predigte der Kaplan an St. Peter, Andreas Knopken, seit dem Spätsommer 1521 evangelisch. Seine Ideen waren aber nicht lutherisch, sondern vom Gedankengut des Erasmus und Bugenhagens bestimmt. Knopken predigte die Abkehr von den “guten Werken”, wobei er Widerspruch nur von den Mönchen, aber weder vom Rat der Stadt noch vom Erzbischof Jasper Linde oder von Ordensmeister Wolter von Plettenberg erfuhr. Im Herbst 1522 wurde Knopken vom Rigaer Rat zum ordentlichen Prediger an St. Peter ernannt, an St. Jakob Sylvester Tegetmeyer aus Rostock. Der Ratssekretär von Riga, Johann Lohmüller, schrieb bereits im August 1522 an Martin Luther in Wittenberg und bekundete ihm gegenüber das in Livland bestehende Interesse an der Reformation. Doch erst im November 1523 antwortete der mit den livländischen Verhältnissen kaum vertraute Luther in einem allgemein gehaltenen Sendschreiben an die Städte Riga, Reval und Dorpat, in denen, geht man vom Stand der Dinge innerhalb des Reiches aus, die Reformation bereits verhältnismäßig weit fortgeschritten war. In Riga waren wie übrigens auch in Hasenpoth, einer kleinen Bischofsstadt in Kurland, bereits 1523 Minoriten durch evangelische Bürger aus ihrem Kloster vertrieben worden. Da-nach bemühten sich die Minoriten Antonius Bomhower und Burkhard Waldis, beim Kaiser die Bannung Rigas zu erreichen. Dies und die evangelische Predigt steigerten sich zur Unzufriedenheit mit allem, was nicht der Heiligen Schrift entsprach. So kam es im Frühjahr 1524 zum Bildersturm durch die Rigaer Schwarzenhäupter in beiden Stadtkirchen. Daran schlossen sich vierwöchige Unruhen an. Der schwere Konflikt der Stadt mit ihrem Landesherren führte am 8. August zum Sturm auf die Domkirche.

In Dorpat verursachte 1522 die Androhung des geistlichen Bannes gegen Anhänger der lutherischen Lehre durch Bischof Johannes Blankenfeld ein Bündnis der Stadt mit der Ritterschaft gegen den Bischof. So leistete Blankenfeld energischen Widerstand, als seit dem Frühjahr 1524 in Dorpat der in Wittenberg ausgebildete Hermann Marsow als vom Rat eingesetzter Prediger an St. Marien wirkte. Der Rat musste Marsow bereits im Juli 1524 wieder absetzen, der nun nach Reval zog. Wenig später, im Herbst 1524, trat in Dorpat der schwärmerische Laienprediger und Kürschner Melchior Hofmann auf, der insbesondere die Handwerker ansprach. Als man ihn im Januar 1525 verhaften wollte, brach der Bildersturm los: die Pfarrkirchen St.Marien und St. Johann, später auch die Domkirche St.Peter und Paul und die Domherrenhäuser wurden ebenso wie die Mönche und Nonnen Opfer des Volkszorns.

Der Revaler Rat befürwortete offensichtlich von Beginn an die reformatorischen Ansätze. Als nämlich beim erwähnten Wolmarer Landtag im Juni 1522 auf den Antrag der Prälaten hin über die Verurteilung der lutherischen Lehre beraten wurde, trat Reval mit den anderen Städten gegen den Antrag der Geistlichen ein. 1524 verteidigte der Revaler Rat seine evangelischen Geistlichen gegen Ordensmeister und Bischof. Es hatten sich die Priester von St. Nikolai, Johann Lange, und St. Olai, Zacharias Hasse, dem evangelischen Glauben zugewandt. Hinzu kam der aus Dorpat vertriebene Hermann Marsow. So gewann in Reval die evangelische Lehre allmählich die Ober-hand, wenn auch der Klerus Widerstand leistete. Auf Drängen der Altgläubigen richtete die Ritterschaft ein Klageschreiben über die Bedrängung der Dominikanermönche an Ordens-meister Wolter von Plettenberg, der beim Revaler Rat Ein-spruch dagegen einlegte und so den Volkszorn hervorrief, der am 14. September im Bildersturm gipfelte, dem die St. Olai-, die Heiligengeist- und die Dominikanerkirche zum Opfer fielen. Durch glückliche Umstände blieben der Dom und die St. Nikolaikirche von den Ausschreitungen verschont, die bereits am 15. September vom Rat verurteilt wurden; die geraubten Kirchenschätze sollten zurückgegeben werden.

Nach dem Beschluss vom 17. Juli und dem Bildersturm konsolidierte sich in Livland die Reformation. In Reval wurde das Kirchenvermögen im sogenannten Gotteskasten zusammengefasst, der fortan zum Unterhalt der Kirchen und ihrer Prediger, der Armenhäuser und Schulen eingesetzt werden sollte; ähnlich verfuhr man in Riga. In beiden Städten übernahm der Rat die Aufsicht über das gesamte Kirchenwesen, nachdem unter Federführung der Pastoren entsprechende Kirchenordnungen ausgearbeitet worden waren. Sowohl Sektenbildung, die von Predigern wie Melchior Hofmann provoziert wurde, als auch die alte Kirche ¬stellten eine Gefährdung des evangelischen Glaubens dar. Dem sollte mit einer einheitlichen neuen Gottesdienstordnung begegnet werden, deren Erarbeitung 1529 bei einem Städtetag Riga auferlegt wurde. Um eine dem neuen Glauben gemäße Erziehung der Jugend zu gewährleisten, war auch das Schulwesen neu zu organisieren: in Riga wurde mit der Dom-schule und in Reval mit der Schule bei St. Olai eine reformierte Lateinschule eingerichtet. Auf dem Wolmarer Landtag von 1533 legte man die livländische Kirche einheitlich auf die lutherische Lehre fest. Reval fand nach dem Tod der ersten Predigergeneration durch die Pest 1532 in dem von Martin Luther empfohlenen Heinrich Bock einen Superintendenten, der die Revaler Kirche endgültig lutherisch prägte.

Weniger als in den Städten breitete sich in den Jahren nach 1524 die Reformation im übrigen Livland aus, da die Vasallen in stärkerer Abhängigkeit von den Prälaten bzw. dem Deutschen Orden als die Städte standen. Andererseits hatten Bildersturm und die Möglichkeit von Bauernunruhen den Adel bald in eine Ablehnung der Reformation gebracht. Er nahm erst zwei bis drei Jahrzehnte später den evangelischen Glauben an. Der livländische Ordensmeister Wolter von Plettenberg wirkte ausgleichend zwischen den Anhängern der katholischen und der evangelischen Seite. Die mit der Heiligen Schrift legitimierte Erhebung der Bauern in weiten Teilen des Reiches konnte auf Livland auch wegen der eingangs erwähnten besonderen sozialen Konstellation nicht übergreifen.

Mit der lutherischen Kirche erhielt Livland das Element, das über die kommenden Jahrhunderte hinweg die Anbindung an das seit 1525 ebenfalls lutherische Preußen zu sichern half und für die Deutschbalten bis zur Umsiedlung im Jahre 1939 wesentlicher Teil ihrer Identität war. Für die Esten bedeutete die Reformation den Anfang der Kultur ihrer Sprache, denn ein Katechismus in estnischer Sprache wurde bereits 1535 gedruckt. Sogar in sowjetischer Zeit ist der evangelische Glaube in Lettland und Estland bewahrt und in die postsowjetische Zeit hinübergerettet worden.

Quellen: Akten und Rezesse der livländischen Ständetage, Bd.3, bearb. von Leonid Arbusow, Riga 1910. – Friedrich Bienemann: Die Anfänge unserer Reformation im Lichte des Revaler Ratsarchivs, in: Baltische Monatsschrift XXIX (Riga 1882), S.415-460. – Bruchstücke eines niederdeutsch-estnischen Katechismus, hrsg. von Helmuth Weiss und Paul Johansen, in: Beiträge zur Kunde Estlands 15 (1929/30), S.95-133. – D.Martin Luther. Werke. Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe): Brief-wechsel, Bd.2 (1520-1522), 3 (1523-1525), 6 (1531-1533), 12 (Nach-träge); Werke Bd.12, Weimar 1931-1967.

Lit.: Leonid Arbusow (jun.): Die Beziehungen des Deutschen Ordens zum Ablasshandel seit dem 15. Jahrhundert, Diss. Phil. Göttingen 1909. – Leonid Arbusow (jun.): Die Einführung der Reformation in Liv-, Est- und Kurland, Leipzig 1921 (Quellen und Forschungen des Vereins für Reformationsgeschichte 3). – Edgar Hark: Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche (EELK). Von Martin Luther bis zur Gegen-wart, in: Luther und Luthertum in Osteuropa. Selbstdarstellungen aus der Diaspora und Beiträge zur theologischen Diskussion, hrsg. von Gerhard Bassarak und Günter Wirth, Berlin (Ost) 1983, S.330-342. – Jüri Kivimäe: Luterliku reformatsiooni kulturirimőjud Eestis XVI sajandil, in: Religioni ja ateismi ajaloost Eestis. Artiklite Kogumik 3, Tallinn 1987, S.33-56 [S.269-271 dt. Résumé: Die kulturellen Einflüsse der lutherischen Reformation in Estland im 16. Jahrhundert]. – Joachim Kuhles: Die livländische Reformation unter vergleichenden Aspekten, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsordnung 3 (1993), Heft 1/2,S.144-160. Heft 3,S.98-105. – Gunnar Mickwitz: Johann Selhorst und der Druck des ältesten estnischen Buches, in: Beiträge zur Kunde Estlands 21 (1938), S.1-8. – Heinz von zur Mühlen: Livland von der Christianisierung bis zum Ende seiner Selbständigkeit (etwa 1180 – 1561), in: Baltische Länder, hrsg. von Gert von Pistohlkors, Berlin 1994 (Deutsche Ge-schichte im Osten Europas), S.25-172, hier S.134-146. – Ralph Ruhtenberg: Die Beziehungen Luthers und der anderen Wittenberger Reformatoren zu Livland, in: Baltische Kirchengeschichte. Beiträge zur Geschichte der Missionierung und der Reformation, der evangelisch-lutherischen Landeskirchen und des Volkskirchentums in den baltischen Ländern, hrsg. von Reinhard Wittram, Göttingen 1956, S.56-76. – Reinhard Wittram: Die Reformation in Livland, in: Baltische Kirchengeschichte. Beiträge zur Geschichte der Missionierung und der Reformation, der evangelisch-lutherischen Landeskirchen und des Volkskirchentums in den baltischen Ländern, hrsg. von Reinhard Wittram, Göttingen 1956, S.35-56.

Bild: Karte von Livland, 15.-16. Jahrhundert / Quelle: Teadmata – http://www.nlib.ee/html/digi/maps/Pomerania.jpg, original in the National Library Cartography Collection, Avalik omand, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4337810

Alfred Ritscher