Am 31. Oktober 1353 erhielt Allenstein durch das ermländische Domkapitel eine Handfeste nach kulmischem Recht verliehen. Diese in Frauenburg ausgestellte Urkunde gab den Anlaß für die 2003 erfolgten Feierlichkeiten zum 650. Jubiläum der Stadtgründung. Wäre man jedoch dem Brauch gefolgt, dem Jubiläum die erste urkundliche Erwähnung zugrundezulegen, so hätten die Feiern schon fünf Jahre früher stattfinden müssen. In der Verschreibung über Friedrichsdorf (Köslienen) vom 31. Dezember 1348 wird die Freiheit einer „noue ciuitatis“ erwähnt. Zwar nennt die Quelle den Namen dieser neuen Stadt nicht ausdrücklich, doch kann es sich aufgrund der örtlichen Gegebenheiten nur um Allenstein gehandelt haben. Man hatte demnach mindestens fünf Jahre vor Ausstellung der Gründungshandfeste mit den Arbeiten zur Anlage der Stadt begonnen. Ein solches Vorgehen läßt sich auch an einigen anderen Orten nachweisen. Offenbar wartete der Landesherr zunächst ab, ob eine in Angriff genommene Siedlung die schwierige Anfangsphase tatsächlich auch überdauerte. Erst dann wurden die Rechte und Pflichten des Lokators und der Siedlern endgültig und dauerhaft durch eine Handfeste fixiert. Sicherlich hat es auch irgendeine Art von Vorvertrag gegeben, doch fehlt hierzu eine Überlieferung.
Die zentrale Figur bei einer Ortsgründung in den Gebieten der mittelalterlichen Ostkolonisation war der Lokator. Dabei handelte es sich um einen Siedlungsunternehmer, der die gesamte organisatorische und finanzielle Verantwortung für die Anlage einer Stadt oder eines Dorfes übernahm. Als Belohnung für dieses riskante und mühsame Geschäft erhielt der Lokator nach der erfolgreichen Siedlungsgründung eine Reihe von einkunftsträchtigen Privilegien. So standen ihm ein Zehntel der gesamten Gemarkungsfläche als abgabenfreies Eigentum zu, er erhielt das Schulzenamt, die niedere Gerichtsbarkeit, Einnahmeanteile an städtischen Einrichtungen und oft auch das Recht zur Anlage einer Mühle oder eines Kruges. Der Lokator Allensteins war Johannes von Layß, der aus dem gleichnamigen Dorf im Kreis Braunsberg stammte. Dieses hatte sein Großvater, der ermländische Siedlungspionier Martin von der Mark, 1304 gegründet. Die Lokatorentätigkeit lag somit schon in der Familientradition von Johannes, der später noch weitere Dörfer (Rosenau und Altkirch) gegründet hat. Eine erfolgreiche Dorf- oder Stadtlokation konnte ein sehr einträgliches Geschäft sein. Johannes erhielt in Allenstein nicht nur acht abgabefreie Hufen Ackerland (fast 135 Hektar) zur Bewirtschaftung, sondern in seiner Funktion als Stadtschulze auch die Einnahmen des Niedergerichts sowie jeweils ein Drittel aller Zinsen, die von den öffentlichen Einrichtungen (Kaufhaus, Badstube, Waage) und den Verkaufsständen der Bäcker, Fleischer, Krämer, Schneider und Barbiere anfielen. Weiterhin durfte Johannes eine Herberge errichten.
Insgesamt umfaßte das zu Allenstein gehörende Gebiet 171 Hufen, umgerechnet über 2870 Hektar (eine Hufe entspricht 16,8 Hektar). 100 Hufen waren als Weideland und Wald zum gemeinschaftlichen Nutzen der Stadt bestimmt. Die übrigen 71 Hufen wurden unter den Bürgern aufgeteilt. Dabei erhielten der Lokator acht abgabefreie Hufen und der Pfarrer sechs Freihufen. Die restlichen 57 Hufen wurden jeweils den Hofstellen der Bürger zugeordnet. Eine Hofstelle bestand aus einem Baugrundstück innerhalb des eigentlichen Stadtkerns und aus einem außerhalb liegenden Garten. Wie in allen Kleinstädten des Preußenlands bezogen auch die Allensteiner Bürger einen Großteil ihrer Ernährung aus eigener Land- und Viehwirtschaft, die neben dem Handwerksberuf betrieben werden mußte. Die Nutzung der 57 Hufen war zinspflichtig. Für jede Hufe hatten die Bürger jährlich eine halbe preußische Mark und zwei Hühner an das Domkapitel zu entrichten. Während der entbehrungsreichen Aufbauphase wurde den Siedlern jedoch diese Abgabe erlassen. Die Allensteiner erhielten 14 Freijahre, so daß sie erst ab dem Jahr 1367 ihre ‚Steuern’ zu entrichten hatten.
Das Domkapitel war als Landesherr aber auch darauf bedacht, daß die Bürger sich nicht zuviele Freiheiten herausnahmen. So durfte die Stadt nicht eigenmächtig Satzungen und Willküren erlassen oder Ratsleute ohne Wissen und Einverständnis des Kapitels wählen. Das Fischen in den an die Stadtfreiheit grenzenden Seen war den Bürgern untersagt, in den Bächen und Flüssen konnten sie jedoch mit „kleinem Zeug“ Fische fangen. Vögel, Füchse und Hasen durften die Allensteiner jagen, größere Tiere dagegen nicht. Weitere Bestimmungen betrafen die landesherrlichen Besitzungen im Stadtgebiet, insbesondere die schon bestehende Burg, deren Besitz sich das Domkapitel vorbehielt. Die Burg, die den Verwaltungsmittelpunkt des Kammeramts Allenstein bildete, existierte jedoch nicht allein, sondern war das Zentrum eines größeren Besitzkomplexes. Zu diesem gehörte ein suburbium (eine Burgsiedlung, deren Einwohner nicht dem städtischen Rechtsbezirk zugeordnet waren), eine Mühle und ein Eisenwerk. Weiterhin hielt sich das Kapitel das Recht offen, eine Ziegelscheune in der Stadtfreiheit zu betreiben. Dies ist im Übrigen ein Hinweis darauf, daß die damalige Burg kein Steinbau, sondern aus Holz errichtet war. Die heute noch bestehende massive Anlage ist jedoch bald darauf begonnen worden. Nach aktuellen dendrochronologischen Untersuchungen wurden die Deckenbalken sowie die Hölzer des Dachwerks im Nordflügel 1372 gefällt. Die Bauarbeiten müssen daher spätestens in den 1360er Jahren in Angriff genommen worden sein.
Die junge Stadt im südlichen Zipfel des Hochstifts Ermland entwickelte sich so gut, daß 1378 eine Erweiterung um 30 halbe Höfe erfolgte. An der damals erreichten Dimension der Kleinstadt mit etwa 100 Erben, ergänzt durch die landesherrliche Burg und deren suburbium, änderte sich bis zum 18. Jahrhundert nichts Wesentliches. Allenstein dürfte im Mittelalter wohl kaum über 1000 Einwohner gezählt haben. Auch am Beginn des 18. Jahrhunderts bevölkerten gerade einmal 1500 Menschen die Stadt. Erst das Zusammenspiel der industriellen Revolution (Bahnanschluß) mit einem massiven Ausbau zum preußischen Militärstandort im späten 19. Jahrhunderts gab der Stadt einen gewaltigen Entwicklungsschub. Nach der Teilung Ostpreußens infolge des Zweiten Weltkriegs gewann Allenstein (nun als polnisches Olsztyn) weitere zentrale Funktionen hinzu. Heute zählt die Stadt über 170.000 Einwohner, ist Sitz einer Woiewodschaft sowie eines Erzbistums und beherbergt seit 1999 sogar eine Universität in seinen Mauern. Das moderne Allenstein begrüßt seine Besucher mit einem breiten Gürtel häßlicher Plattenbausiedlungen. Wer diesen jedoch durchdrungen hat, gelangt zur Belohnung zum strukturell fast unveränderten mittelalterlichen Kern des 14. Jahrhunderts. Die Wohnbebauung der Altstadt fiel 1945 leider einem sinnlosen Freudenfeuer der Roten Armee zum Opfer. Die Häuser wurden anschließend in historischen Proportionen wiederaufgebaut, so daß auch der heutige Besucher noch die netzartige Straßenstruktur mit den giebelständigen Häusern und den Laubengängen am Markt erfahren kann. Die öffentlichen Gebäude des 14. und 15. Jahrhunderts blieben dagegen unzerstört erhalten: die Kapitelsburg, die Pfarrkirche St. Jakob (heute Kathedrale), das im Jubiläumsjahr freigelegte alte Rathaus sowie das Hohe Tor und einige nicht unbeträchtliche Stadtmauerreste. Insgesamt hat sich hier das Bild eines idealen Kolonisationsstädtchens aus dem mittleren 14. Jahrhunderts bewahrt.
Bild: Burg Allenstein / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.
Christofer Herrmann (OGT 2003, 309)