Ereignis vom 1. Januar 1724

Stadtwerdung von Gumbinnen im Zuge des „Retablissement“

Gumbinnen östlich der Stadt Königsberg i. Pr. und östlich der Stadt Insterburg auf einer Landkarte von 1908

Nach der großen Pest, die 1708/09 vor allem die östlichen Be-reiche des vormaligen Herzogtums Preußen erfasst hatte, war mit Wiederbesiedlungsmaßnahmen schon unter dem ersten König, Friedrich I., begonnen worden, große Erfolge stellten sich jedoch erst danach auf Grund der intensiven Bemühungen König Friedrich Wilhelms I. ein. “Repeuplirung” wurde das Schlagwort seiner bevölkerungs- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Mit den angeworbenen Siedlern – in der frühen Zeit sind die Schweizer hervorzuheben – wurden zunächst auf dem Lande die Dörfer mit Ansiedlern wiederbesetzt. Aber wie schon in der Deutschordenszeit war es nötig, in gewissen Ab-ständen für einen engeren Raum städtische Zentren mit Han-del und Handwerk anzulegen. Die Kulturlandschaft des östlichen Ostpreußens, die aus der ordenszeitlichen Großen Wildnis hervorgegangen war, ist auch in der frühen Neuzeit – im Ver-gleich zum preußischen Altsiedelland vom Oberland bis zum Samland – dünner besiedelt geblieben, insbesondere gab es nur wenige Städte. Daher planten der König und die Kammerverwaltung, sechs Lischken oder Dörfer zu Kleinstädten auszubauen. Nachdem 1722 mit Ragnit (s. OGT 1997, S. 293-298) und Stallupönen ein Anfang gemacht worden war, folgten 1724/25 Gumbinnen, Darkehmen, Pillkallen und Schirwindt. Diese Stadtgründungsphase fiel zeitlich mit einer grundlegen-den Verbesserung der Verwaltungseinrichtungen in Brandenburg-Preußen zusammen. Nachdem Anfang 1723 in Berlin aus den damals miteinander heftig konkurrierenden Behörden des Generalfinanzdirektoriums und des Generalkriegskommissariats das General-direktorium (“General-Ober-Finanz-, Krieges- und Domänen-Directorium”) geschaffen worden war (s. OGT 1998, S. 380-385), folgten entsprechend auf mittlerer Ebene die Zusammenlegung von Amtskammer und Kriegskommissariat zur Kriegs- und Domänenkammer, wobei in Preußen 1724 für den östlichen Landesteil als Zweigstelle der Königsberger Kammer eine besondere Kammerdeputation geschaffen wurde (vgl. S. 363ff.), die sich 1736 zu einer eigenen Kriegs- und Domänenkammer mit Sitz in Gumbinnen verselbständigte. Die straffere Verwaltung ermöglichte es, die Maßnahmen des Retablissements erfolgreicher durchzuführen. Dazu gehörten auch die Staatsgründungen.

Im östlichen Teil des herzoglichen Hauptamtes Insterburg hatte es beim Zusammenfluss der Pregelquellflüsse Pissa und Rominte schon im Zeitalter von Herzog Albrecht dörfliche Siedlungen gegeben. Im Türkensteuerregister von 1539/40 und anderen zeitgenössischen Quellen wird erstmalig Kulligkehmen mit seinen Bewohnern genannt. Zu dessen Dorfteilen gehörte Pisserkeim, das seit 1557/58 als eigene Ortschaft geführt wird. Für 1564/65 wird der erste Krüger überliefert, um 1570 ist die erste Kirche entstanden. Damit wird die Umbenennung des Dorfes zusammenhängen, das urkundlich im Jahre 1580 erstmalig als Gumbinnen bezeichnet wird. Das dürfte ‘Krumm-dorf’ bedeuten, weil es nämlich an einer Flußschleife gelegen ist. Mit der Pfarrkirche wurde das Dorf zum Mittelpunkt des Baltzerischen Schulzenamtes. Das kleine Kirchdorf lag auf einer erhöhten Stelle an der Nordseite der Pissa unterhalb der Einmündung der Rominte, auf dem Gelände der späteren Altstadt. Dort verlief eine in Ostwestrichtung sich hinziehende Straße, von der eine Brücke über die Pissa führte. Die wirtschaftliche Entwicklung des 16. Jahrhunderts wurde durch die Kriege in der Mitte des 17. Jahrhunderts und insbesondere durch die schon erwähnte Pest von 1708/09 unterbrochen. Als unter Friedrich Wilhelm I. die Wiederbesiedlungsmaßnahmen in Gang gekommen waren und es nun Anfang der 20er Jahre um die Förderung des örtlichen Marktverkehrs und Warenaustauschs ging, gehörte Gumbinnen noch nicht gleich in die Reihe der Orte, die nach der ursprünglichen Vorstellung des Königs städtische Aufgaben hätten übernehmen sollen. Das änderte sich erst auf Vorschlag eines Kommissariats unter besonderer Mit-wirkung des Kammerrates Albrecht Lölhöffel von Löwensprung, eines der wichtigsten preußischen Mitarbeiter des Königs bei der Durchführung des Retablissements. Der Bericht über eine Ortsbegehung durch die Kommissare 1721 stellte dem Ort mit seiner frisch gemauerten Kirche, vier Krügen, einigen Handwerkern, der Gelegenheit zur Errichtung einer Wassermühle und anderen Vorzügen ein gutes Zeugnis aus, das dafür sprach, dort eine Stadt zu errichten, die eine befriedigende wirtschaftliche Entwicklung erwarten ließe.

Die Planungen für den Ausbau der werdenden Stadt sind sofort begonnen worden. Die baulichen Maßnahmen folgten einem Entwurf des Oberbaudirektors Joachim Ludwig Schultheiß von Unfried aus dem Jahre 1723. Im Mittelpunkt lag der rechteckige Marktplatz, von dem rechtwinklig in alle vier Richtungen die Stallupöner, Tilsiter und Insterburger Straße sowie über die Pissa die Königstraße in Richtung Darkehmen abgingen. Einige Nebenstraßen kreuzten diese Straßen rechtwinklig, so dass ein schachbrettähnliches Muster entstand. Zuvor wurde der Fluss begradigt, so dass südlich anschließend teilweise auf einer Insel seit 1727 eine Neustadt angelegt wurde. Doch wurde gegenüber der altstädtischen lutherischen Kirche, der alten Dorfkirche, ein Überschwemmungsgebiet zunächst frei gelassen. Für die werdende Stadt wurden neue Bewohner angeworben. Als in den ersten Jahren nicht sogleich genügend Menschen zur Verfügung standen, wurden einige vom Lande um-gesetzt. Die Neubürger bekamen freie Bauplätze sowie Einquartierungs- und Abgabenfreiheit für sechs Jahre. Das Baumaterial wurde unter günstigen Bedingungen zur Verfügung gestellt. Für die entstehenden Wohn- und Stallhäuser sind zahlreiche Pläne erhalten, die zwar alle eine gewisse Ähnlichkeit zeigen, aber dennoch nicht völlig gleich sind. Daneben war auch die Errichtung der aufwendigeren Häuser für das höhere Verwaltungspersonal nötig.

Die Stadtrechtsverleihung für das bisherige Dorf wurde nicht mehr wie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit – in Preußen zuletzt 1642 für Labiau – durch die Aushändigung einer Siegelurkunde vollzogen, denn damit war im 18. Jahrhundert keine eigentliche Selbstverwaltung weder im mittelalterlichen noch im modernen Sinne verbunden. Es handelte sich vielmehr um einen Verwaltungsakt, denn auch die neue Stadt Gumbinnen unterstand wie ihre zeitgenössischen Schwesterstädte der Kriegs- und Domänenkammer. Der Magistrat als Spitze der Stadtverwaltung wurde ernannt, nicht gewählt. Es gab zwar ein königliches “Patent”, mit dem die Umwandlung eines Dorfes in eine Stadt rechtskräftig wurde, doch ist dieses im Falle von Gumbinnen aus nicht erklärlichen Gründen nicht datiert. Als ‘Gründungstag’ der Stadt gilt daher der Tag, an dem der neu berufene Magistrat zum ersten Mal zusammengetreten ist, nämlich der 25. März 1724. Der erste Magistrat bestand aus dem Bürgermeister, der zugleich Richter des neueingerichteten Kriminalgerichts war, sowie aus dem Stadtkämmerer und zwei Ratsverwandten. Die ersten Amtsinhaber waren als Bürgermeister der verabschiedete Leutnant Johann Heinrich Mörlin, ein Preuße, als Stadtkämmerer der Sachse Christian Limbach sowie als Ratsverwandte der ehemalige Kalkulator Johann Heinrich Emmerich, ein Preuße, sowie der frühere Feldscher Johann Gottfried Simson aus Schaumburg in Hessen, der 1729 Bürgermeister wurde. Schon dieser Personenkreis wirft ein Licht auf die gemischte Herkunft der Bevölkerung der werdenden Stadt. Die Magistratsangehörigen erhielten lediglich eine Aufwandsentschädigung, sie mussten also weiterhin ihrem bürgerlichen Beruf in der Stadt nachgehen. In der Mitte des Markt-platzes wurde 1726/27 das Konferenz- und Magistratshaus errichtet. Dieses beherbergte die Kammerdeputation und spätere Kriegs- und Domänenkammer sowie für die ersten 14 Jahre auch den Magistrat, dessen Abhängigkeit damit sehr deutlich war. 1741 wurde jedoch auf königliche Kosten in der Neustadt ein neues eigenes Rathaus für den Magistrat gebaut, der auf sieben Mitglieder angewachsen war, darunter war ein studierter Staatssekretär.

Inzwischen hatte die Stadt eine merkliche Bevölkerungszunahme erlebt, denn 1732 sind von den rund 16000 evangelischen Salzburgern, die auf Einladung des Königs nach Preußen gekommen waren, allein 237 in Gumbinnen eingezogen. Die noch immer kleine Stadt hatte 1738 schon über 2000 Einwohner. Um diese Zeit entstanden neben der altstädtischen Kirche, deren Neubau 1685/90 errichtet worden war, eine reformierte Kirche vorwiegend für die Schweizer sowie eine eigene Kirche für die Salzburger, die 1839/40 erneuert und nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs vor wenigen Jahren wieder restauriert worden ist. Daneben entstand ein Salzburger Hospital. Träger war die Salzburger Anstalt, die sich aus den zu-nächst in der Heimat verbliebenen Vermögenswerten finanzierte, soweit diese nicht mehr bestimmten Geschädigten überwiesen werden konnten, nachdem sie auf Betreiben des Königs vom Erzstift Salzburg etwas verzögert herausgegeben werden mussten. Gumbinnen wurde damit wenigstens teilweise eine “Salzburgerstadt”, die Anstalt besteht nach Flucht und Vertreibung auch heute noch. Daneben wurde der Charakter Gumbinnens durch die Beamten der Kammerverwaltung bestimmt, die 1808 in eine Regierung umgewandelt wurde, sowie die anderer Behörden und Bildungseinrichtungen. Gumbinnen erwies sich als natürlicher Mittelpunkt des östlichen Ostpreußens, so dass hier und nicht in dem als Stadt bedeutenderen Tilsit an der Memel im 18. Jahrhundert auf Dauer das Verwaltungszentrum blieb. Das änderte sich auch nicht, als 1830 das Gebäude der Regierung niederbrannte und zunächst an der-selben Stelle auf dem Markt ein Neubau entstand, ehe 1911 daneben das wirklich neue Regierungsgebäude errichtet wurde, das gegenwärtig wieder in einem restaurierten Zustande zu sehen ist. Die regelmäßige Anlage der Stadt hat dazu geführt, dass schon nach wenigen Jahrzehnten August Hermann Lucanus, ein Magdeburger in Insterburg, schreiben konnte, Gumbinnen sei die “regulairste Stadt” in Preußen, auch wurde ein Vergleich mit Potsdam bei Berlin gewagt, obwohl es an Pissa und Rominte kein Stadtschloß oder andere Zeichen einer Residenz gab. Der Vergleich mit Potsdam war nicht nur wegen einiger Anklänge im Stadtplan verständlich, sondern weil bei den Planungen für die Bürger- und Handwerkerhäuser 1723 ausdrücklich auf das Potsdamer Vorbild verwiesen wurde. Gumbinnen war zwar im großen Preußen des 19./20. Jahrhunderts der entlegenste Regierungsbezirk, dessen Mittelpunkts-stadt mit offiziell 21588 Einwohnern im Jahre 1937 noch nicht einmal die größte Stadt im Bezirk war, dennoch haben auch hier zeitweilig bedeutende Persönlichkeiten gewirkt. Unter den Präsidenten seien Johann Friedrich Domhardt unter Friedrich dem Großen und der spätere Oberpräsident Theodor von Schön (vgl. S. 419 ff.) in der Reformzeit hervorgehoben.

Lit.: Otto Barkowski: Die Besiedlung des Hauptamtes Insterburg 1525-1603, in: Prussia 28, 1928, S. 159-243 u. 30, 1930, S. 1-131; Ndr. Hamburg 1993. – Hans Frederichs: Art. Gumbinnen, Kr. Gumbinnen, in: Deutsches Städtebuch, hg. v. Erich Keyser, Bd. 1. Stuttgart, Berlin 1939, S. 57. – Fritz Terveen: Gesamtstaat und Retablissement. Göttingen 1954. – Walter Grunert: Art. Gumbinnen, in: Ost- und Westpreußen, hg. v. Erich Weise (Handbuch der historischen Stätten). Stuttgart 1966, S. 76 f. – Stadt und Kreis Gumbinnen, zusammengest. u. erarb. v. Rudolf Grenz. Marburg/Lahn 1971.

Bild: Gumbinnen östlich der Stadt Königsberg i. Pr. und östlich der Stadt Insterburg auf einer Landkarte von 1908 / Quelle: Von unbekannt – Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage, Band 15, Leipzig/Wien 1908 (Karte kopiert von Zeno.org), PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=9396861

Bernhart Jähnig