Ereignis vom 1. Januar 1722

Stadtwerdung von Ragnit im Zuge des „Retablissements“

Friedrich Wilhelm I.

Die große Pest der Jahre 1708/09, eine durch Missernten verursachte Hungersnot und der damit verbundene Staats-bankrott brachten dem vormaligen Herzogtum Preußen wenige Jahre nach der Krönung des ersten Königs, Friedrichs I., 1701 in Königsberg eine Zeit großer Not, insbesondere eine Entvölkerung vor allem der nordöstlichen und östlichen Landesteile. Nach ersten Ansätzen noch unter Friedrich I. war es dann sein Sohn und Nachfolger Friedrich Wilhelm I., der eine Wiederbelebung des Wirtschaftslebens dieses Raumes in Gang setzte und jahrzehntelang mit großem Einsatz verfolgte. Die Steuerreform, die unter maßgeblicher Mitwirkung von Karl Heinrich Erbtruchseß Graf zu Waldburg zur Einführung des Generalhufenschoßes führte (vgl. OGT 1989, S. 239-243), war hierfür nur eine einleitende Maßnahme. „Repeuplirung“ (Wiederbesied¬lung) wurde das Schlagwort für die Bevölkerungspolitik, die ein wesentlicher Teil des „Retablissements“ des östlichen Preußens unter Friedrich Wilhelm I. war.

Zur Förderung der Domänenverwaltung und zur Neugründung oder Wiederbevölkerung von Bauerndörfern gehörte die Anlage von Städten, die die Aufgabe von örtlichen Märkten wahrnehmen sollten. Ähnlich wie schon im Mittelalter der Deutsche Orden in den mittleren Teilen des Preußenlandes planmäßig die kleineren Zentren angelegt hatte, wurde die Gründung von Kleinstädten im Zuge des Retablissements von der königlichen Verwaltung in Angriff genommen. Die Standorte wurden je nach den landschaftlichen Bedingungen in gleichmäßigen oder wechselnden Abständen bestimmt. Bei Regierungsantritt von Friedrich Wilhelm I. gab es im nord-östlichen Preußen, das Preußisch Litthauen genannt wurde, nur vier Städte, nämlich Memel, Tilsit, Insterburg und Goldap. Nun sollten an sechs weiteren Plätzen, an denen bisher eine Lischke (Flecken) oder ein Dorf bestanden hatte, Städte entstehen. Nach einer nicht allzu langen Diskussion fiel die Entscheidung für Gumbinnen, Darkehmen, Stallupönen, Pillkallen, Schirwindt und Ragnit.

Bevor Ragnit Stadt wurde, hatte es schon eine jahrhundertelange Tradition als zentraler Ort. Als der Deutsche Orden im 13. Jahrhundert die untere Memel erreichte, befand sich dort am südlichen Hochufer eine Burg des Prußenstammes der Schalauer. 1275 hat der Orden diese Burg erobert und errichtete an deren Stelle 1289 eine eigene Burg, die zunächst Landeshut genannt wurde, bis sich bald wieder der alte Name durchsetzte. Gleichzeitig ging der im Jahr zuvor, 1288, in Labiau gegründete Konvent mit seinem Komtur in die neue Burg. Diese diente in erster Linie als Etappe für die Litauerreisen. Das ganze 14. Jahrhundert über war Ragnit eine Siedlungsinsel mit hauptsächlich militärischer Bedeutung. Zur Unterhaltung Ragnits und der anderen Burgen im Schalauerland diente das im ganzen Ordensland eingezogene Schalwenkorn. Erst 1397 bis 1409 wurde die wiederholt zerstörte und wiederaufgebaute Holz-Erde-Befestigung durch eine Burg in Stein ersetzt. Dieser Neubau mit einem quadratischen Konventshaus war eine der stärksten Ordensburgen. Der Versuch des Ordens, die vor der Burg entstandene Lischke 1409 zu einer Stadt auszubauen, scheiterte an den wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Schwierigkei-ten der Zeit nach der Schlacht bei Tannenberg. Nach der Teilung des Ordenslandes 1466 erhielt Ragnit im verkleinerten Ordensstaat als Komturssitz eine wachsende Bedeutung und wurde Mittelpunkt ländlicher Neusiedlungen dieses Raumes. Nach der Säkularisierung der Ordensherrschaft 1525 wurde Ragnit Sitz eines der Hauptämter des Herzogtums, die jedoch erheblich kleiner waren als die früheren Komtureien. In wirtschaftlicher Hinsicht geriet Ragnit bald in den Schatten des memelabwärts gelegenen Tilsit, das 1552 zur Stadt erhoben worden war.

Im Jahre 1721 veranlasste König Friedrich Wilhelm I. die Überlegungen und Planungen für die Stadtgründungen im Zuge des Retablissements von Preußisch Litthauen. Die im Juli 1721 vom König eingesetzte Kommission bestand aus einer Reihe leitender Beamter, die zumeist Adelsfamilien angehörten, die im vormaligen Herzogtum Preußen ansässig waren. Von den zunächst hinsichtlich einer Stadtgründung ins Gespräch gebrachten und erwogenen Orten hat die Kommission von Ragnit abgeraten, weil dessen Erhebung zur Stadt dem Handel der nur eine Meile flussabwärts gelegenen Stadt Tilsit stark schaden würde. Es wurde auch bezweifelt, ob die von einer künftigen Stadt Ragnit zu erwartende Akzise zu höheren Einnahmen führen würde als die bisherige Steuer („Kriegs- und Domänen-Prästanda“). Der König war mit diesem Ergebnis nicht zufrieden und veranlaßte eine Ortsbesichtigung als Grundlage für ein weiteres Gutachten. Auch die neu¬erliche Stellungnahme riet von einer Stadtgründung ab, und zwar einerseits wiederum wegen der zu erwartenden Schädigung des benachbarten Tilsit. Andererseits wurde geltend gemacht, daß die Flußhandelsschiffe aus Polen-Litauen an Ragnit vorbeifahren würden, so daß sich hier kein nennenswerter Handel entwickeln könne.

Den König konnten diese und weitere Argumente nicht überzeugen. Er ließ vielmehr Ragnit – und gleichzeitig auch noch Heydekrug – vermessen, um Grundrisse erstellen zu lassen, die einerseits die vorhandenen Haus- und Hofstellen ausweisen sollten, die andererseits zu zeigen hatten, wie unter Berücksichtigung dieser Altsiedlungen neue Straßen und Hausstellen angelegt werden könnten. Es wurde auch der Auftrag erteilt, einen Haustyp für die neuen Bürgerhäuser zu entwerfen. In den Akten ist eine ganze Reihe von Auf- und Grundrissen überliefert, die unterschiedliche Haustypen zeigen. Auf dieser Grundlage sollten die entstehenden Investitionskosten des Königs und die zu erwartenden Einnahmen berechnet werden. Für Ragnit wurden zwei Alternativpläne durchgerechnet. Im ersten Fall sollten die bisherigen 14 Ackerhöfe, vier Krüge und 61 Handwerkerstellen aufgekauft und eine ganz neue Stadt mit 200 Hausstellen gegründet werden. Im anderen Fall sollten die bisherigen Hausstellen um 121 ergänzt werden. Da der zweite Weg ein „Plus“ erbrachte, wurde er dem weiteren Vorgehen zugrunde gelegt. Am 26. März erfolgte die königliche Resolution, am 6. April 1722 der königliche Erlass, durch den Ragnit neben vier anderen Orten des nordöstlichen und südlichen Preußens zur Stadt erhoben wurde.

Der königliche Erlaß bezeichnet sich zwar als „Patent“ und greift damit terminologisch die Tradition der mittelalterlichen Stadtrechtsurkunde auf, doch handelt es sich hier um einen an-dersartigen Verwaltungsakt. Geschaffen werden sollte kein Gemeinwesen als Selbstverwal¬tungskörperschaft oder gar als kleine Herrschaft, sondern ein Glied der umfassenden, damals modernen Kriegs- und Domänenverwaltung. Dem entspricht es, daß nicht mehr – wie zuletzt noch im 17. Jahrhundert bei Labiau – eine feierliche Pergamenturkunde mit anhängendem Siegel ausgefertigt und übergeben wurde. Der neu zu schaffende Magistrat wurde eine nachgeordneter Behörde der Domänenverwaltung, die 1723, also im Jahr nach der Stadtgründung von Ragnit, in der neuerrichteten Kriegs- und Domänenkammer Königsberg ihre Mittelinstanz zunächst für das ganze vormalige Herzogtum erhielt. Das Stadterhebungspatent spricht nur Fragen des Wirtschaftslebens und des Wirtschaftsrechts an. Gewährt wird die Ausübung bürgerlicher Berufe in Handel und Handwerk. Hinsichtlich Rechtsprechung und Polizei wird auf die anderen Kleinstädte des Landes („Städte des platten Landes“) verwiesen. Zur Niederlassung in der neuen Stadt werden Einheimische und Fremde eingeladen. Es werden Regelungen über die Freijahre getroffen, über die bürgerlichen Lasten und über die zunächst noch eingeschränkte Braugerechtigkeit.

Die Lischke Ragnit hatte nur aus einer Straße neben der Burg bestanden, die parallel zur Me¬mel und dem kurz davor fließen-den Nebenflüßchen Ragnit verlief. Nun wurde die städtische Siedlung nach Süden, über den Mühlenteich hinaus erweitert. Diese topographischen Gege¬benheiten sind deutlich in der 1723 durch Schultheiß von Unfried gefertigten Karte zu erken¬nen. Der alten ordenszeitlichen Tradition entsprechend erhielt die Stadt eine Garnison. Die Kirche wurde erneuert. In der Stadt wurden zwei Jahrmärkte eingerichtet. Alt- und Neustadt wurden von einem Pallisadenzaun umgeben. Wenn auch Ragnit als Stadt weiterhin im Schatten Tilsits blieb, hat es dennoch auf Dauer seine Rolle als Mittelpunkt eines ländlichen Bereichs oberhalb von Tilsit an der Memel behaupten können.

Lit.: Fritz Terveen: Gesamtstaat und Retablissement. Göttingen 1954. – Kurt Forstreuter: in: Ost- und Westpreußen. (Handbuch der histo¬ri-schen Stätten) Stuttgart 1966, S. 183 f. – Hans-Georg Tautorat: Ragnit im Wandel der Zeiten, Lüneburg 1972.

Bild: Friedrich Wilhelm I. im Harnisch mit Hermelinmantel, Marschallstab sowie Bruststern und Schulterband des Schwarzen Adlerordens (Gemälde von Antoine Pesne, um 1733) / Quelle: Von Atelier/Werkstatt von Antoine Pesne – 1. Ursprung unbekannt2. The Bridgeman Art Library, Objekt 384437, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1153850

Bernhart Jähnig