Vortrag beim Zeithistorischen Symposium „Dr. Herbert Czaja“ der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen am 9. April 2010, in Stuttgart-Hohenheim
Vorweg ein Blick in die 1980er Jahre: Mein Abitur lag einige Zeit hinter mir, das Studium lief Schon als Schüler hatte ich begonnen, im Bund der Vertriebenen in Braunschweig mitzuwirken. Dort stand Hajo Hoffmann, Mitglied der SPD, an der Spitze, sowohl als Kreisvorsitzender als auch als Bezirksvorsitzender im Regierungsbezirk Braunschweig. Hoffmann und ich arbeiteten eng zusammen. Die Diskussion um die neuen Verträge mit Warschau und Prag begannen gerade, als wir gemeinsam auf die Idee kamen, den BdV-Präsidenten Dr. Herbert Czaja zu einer Bezirkstagung als Referenten zu diesem Thema einzuladen. Gesagt, getan. Die Zusage kam prompt.
Mir fiel die Aufgabe zu, den BdV-Präsidenten vom Bahnhof abzuholen. Ich kannte ihn nicht, nur Fotos hatte ich gesehen. Der Zug fuhr ein. Längst kamen die Leute vom Gleis ins Innere des Bahnhofs, nur unser Gastredner war nicht zu sehen. Ich wurde langsam unruhig. Fast instinktiv ging ich zum Gleis hoch, und dort stand Herbert Czaja und wartete. Wir waren wohl beide froh, zueinander gefunden zu haben. Für mich blieb diese erste Begegnung, dieses Zueinanderfinden, sinnbildlich für unsere enge Zusammenarbeit bis zu seinem Tod im Jahr 1997.
Sich inhaltlich und in der praktischen Arbeit zu finden, ist uns über die vielen Jahre hinweg immer wieder neu gelungen. Wohl auch deshalb hat mich Herbert Czaja im Gesamtverband gefördert. Und oft verblüffte er mich: Als ich 1994 erstmals ins Präsidium des Bundes der Vertriebenen gewählt wurde, sagte er mir am Vorabend, wie viele Stimmen ich erhalten würde. Er lag damit völlig richtig, und so wusste ich, wie intensiv er meine Wahl mit anderen vorbereitet hatte.
Herbert Czaja hat 24 Jahre als Präsident an der Spitze des Gesamtverbandes Bund der Vertriebenen, also der vereinigten Landesverbände und Landsmannschaften, gestanden und dessen Arbeit maßgeblich geprägt. Ihm ist es zu verdanken, dass der Bund der Vertriebenen mit seinen heute rund 2 Millionen Mitgliedern schwerste politische Zeiten, denken wir beispielsweise an die Ostverträge Anfang der 1970er Jahre, überstanden hat und auch heutenoch von starker gesellschaftlicher Bedeutung ist.
Manche politische Kräfte wollten das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen schon vor Jahrzehnten vergessen machen und ins Museum verfrachten. Dem hat Herbert Czaja entschieden und erfolgreich entgegengewirkt. Er hat, und das nicht erst nach Beendigung des Kalten Krieges, eine Brücke zu den östlichen Nachbarn geschlagen. Dabei stand er konsequent für Versöhnung und Verständigung im Ausgleich. Aber er hat auch immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass Verständigung keine Einbahnstraße ist, sondern ein Geben und Nehmen voraussetzt. Dies ist in seinem politischen Handeln, in seinen zahlreichen Veröffentlichungen und bei seinem Besuch in Oberschlesien im September 1996, also nach 50 Jahren, der entscheidende Maßstab gewesen, der heute aktueller denn je ist, denken wir beispielsweise an die Diskussion über die Aufhebung der Benesch-Dekrete und des Straffreistellungsgesetzes. In der Tschechischen Republik, die dort Bestandteil der gültigen Rechtsordnung sind. Dass solche Dekrete in einem demokratischen Staat in einer demokratischen Europäischen Union fortbestehen, ist unfassbar.
Ausgleich und Verständigung mit den östlichen Nachbarn zogen sich wie ein roter Faden durch seine fast 40jährige Tätigkeit als Mitglied des Deutschen Bundestages, Was er unter einer echten Verständigung mit den östlichen Nachbarn verstand, legte er rückblickend wie folgt dar:
„Im Wort Verständigung‘ steht auch das Wort ‚Verstand‘. Es geht also in schwerwiegenden Streitfragen um sinnvolle Argumente zur Lage und zu Lösungsversuchen. Für geschichtliche Lösungsversuche ruft man oft nach der Gerechtigkeit und Wahrheit, die in dieser Welt schwer durchzusetzen und zu erkennen sind. Ich möchte mich wenigstens an dem alten römischen Grundsatz der nicht zu perfekten Billigkeit» an die billigenswerten Versuche halten (iustum et aequum). Freilich wird das menschliche Handeln nicht nur durch Verstand, sondern auch durch Phantasie, Gefühl und Leidenschaft und Tradition sowie alle Formen des Willens bestimmt. Zur Verständigung gehört Achtung der anderen, aber auch Selbstachtung.“
Um dies zu realisieren, bedarf es des konstruktiven Dialoges zwischen den Menschen, Damals wie heute ist dieser Dialog oftmals wesentlich entspannter als es die breite Öffentlichkeit wahrnimmt. Wir sollten den tatsächlichen Dialog fördern und nicht unbedingt immer denen zuhören, die statt mit dem anderen nur über ihn sprechen. Und man fragt sich auch gelegentlich, ob weite Teile der Politik dies noch nicht bemerkt haben. Der damalige Erzbischof von Oppeln, Prof. Dr. Alfons Nossol, dem Herbert Czaja sehr verbunden war, hat vor einiger Zeit in Berlin gesagt, dass der Dialog die Muttersprache des Miteinander sei. Dem kann man nur zustimmen. Vielleicht ist es geradezu ein Fingerzeig, dass der kürzlich von Papst Benedikt XVI. eingesetzte Nachfolger von Alfons Nossol den Nachnamen Czaja hat.
Denn der 45jährige Prof. Dr. Andreas Czaja wurde Nachfolger im Bistum Oppeln. Herbert Czaja stand für europäische Lösungen ostpolitischer Anliegen ein, nicht jedoch für rein nationale Modelle, In einer Schrift mit dem Titel „Ausgleich mit Osteuropa – Versuch einer europäischen Friedensordnung“ legte er schon in den 1960er Jahren seine Überlegungen dar und fand dafür nicht nur in seiner eigenen Partei, sondern auch in der Sozialdemokratie und bei den Liberalen viel Zustimmung.
Mit seiner Veröffentlichung unterstrich Herbert Czaja, dass der Weg Adenauers zu einer europäischen Friedensordnung für ihn entscheidend war. Auch wenn er Adenauers häufiges taktisches Schweigen zur Zukunft der Heimatgebiete der Vertriebenen als Fehler ansah, blieb dessen Politik für ihn Maßstab. Trotz mancher Kritik von Herbert Czaja an der Sozialdemokratie, insbesondere an Willy Brandt, hielt er in Bezug auf ihn jedoch fest: „Willy Brandt war ein bedeutender Politiker mit weitreichenden Ideen, die er aber nur selten systematisch umsetzte. Seinen Standpunkt in der Ostpolitik – und das heißt vor allem; gegenüber Moskau -wechselte er leider oft. 1963 trat er sogar noch vehement dagegen auf, die Oder-Neiße-Grenze festschreiben zu wollen und bezeichnete ein derartiges Ansinnen als ‚absurd‘, plädierte aber ab etwa 1967/68 gerade für die Anerkennung und wechselte dann erneut seinen Standpunkt 1989, als er am nachdrücklichsten für die SPD für die deutsche Einheit eintrat und dabei in einigen Punkten weiter ging als Helmut Kohl.“
Über Bundeskanzler Helmut Schmidt hielt Herbert Czaja fest, dass sich dieser an einem sachlichen Dialog mit den Vertriebenen interessiert zeigte und dafür plädierte, man müsse etwas für die Deutschen in der Heimat tun, insbesondere für ihre Ausreise. Dem seien dann aber in der Praxis kaum Taten gefolgt.
Von Bundeskanzler Helmut Kohl wurde Herbert Czaja sehr geschätzt, auch wenn sich bei den Verträgen mit Warschau und Prag und mit dem Grenzbestätigungsvertrag völlig konträre Auffassungen ergaben. „Solche Verträge kommen wir nicht mittragen“, formulierte eine turbulente Bundesversammlung des Bundes der Vertriebenen. Dieser Beschluss war zugleich eine Abstimmung über den politischen Kurs des BdV-Präsidenten, dem einige Funktionsträger nicht folgen wollten. In zahlreichen Aufsätzen, nicht nur im „Deutschen Ostdienst“, dem Organ des Bundes der Vertriebenen, sondern auch in landsmannschaftlichen Zeitungen stellte er klar, dass er verbandspolitische Aussagen, die von dem Beschluss abweichen, nicht toleriert.
Er forderte einen „standfesten“ Bund der Vertriebenen. Auch in der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen mit ihrer Studiengruppe Völkerrecht setzte er gegen manche Widerstände diesen standfesten Kurs durch.
Herbert Czaja war ein unermüdlicher Verfechter des Rechtes auf die Heimat und der Menschenrechte! Die von ihm betonte Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes als ius cogens, also als Bestandteil des zwingenden Völkerrechts, bei den Verträgen blieb bis heute ungeklärt. Niemals hat er jedoch maximalistische Ansprüche erhoben. Viele warfen ihm dies allerdings vor, ohne jedoch seine Argumente zu kennen. So hat er eine Wiederherstellung der Reichsgrenzen vom 31.12.1937 zu keinem Zeitpunkt gefordert, Herbert Czaja ist für einen glaubwürdigen Kompromiss eingetreten, der auch – wie er einmal sagte – „bescheiden deutsche berechtigte Anliegen erfüllen könnte. Es ist an der Zeit, diese Zusammenhänge hier klar aufzuzeigen. Ich weiß aus Gesprächen, wie sehr es Herbert Czaja belastete, dass er immer wieder auf die Grenzen von 1937 festgelegt wurde. Auch von Otto Schily, den er einmal an einem Flughafen traf und der ihm wohl sinngemäß sagte: „Also, Herr Dr. Czaja, es ist ja schön und gut, was der Bund der Vertriebenen macht, aber mit den Grenzen von 1937 sollten Sie mal aufhören.“ Herbert Czaja bot daraufhin symbolisch eine Wette an, dass Herr Schily ihm ein Zitat bringen solle, wo er diese Forderung erhoben habe.
Was Herbert Czaja auch belastete, war die Annahme mancher Journalisten, man spreche mit ihm als einem Revanchisten. Willy Brandt war sicher auch kein Revanchist, wenn er, wie dargestellt, die Festschreibung der Oder-Neiße-Linie als ‚absurd‘ bezeichnete. Der Revanchismusvorwurf kann, wie Herbert Czaja selbst einmal sagte, kein Ausgangspunkt für einen fruchtbaren Dialog sein, zumal dann, wenn man nicht nachweisen kann, dass der Dialogpartner eine feindselige, brutale oder missachtende Einstellung gegen ein anderes Volk vertritt. Umso beachtlicher war seine Offensive gegen ein solches Denken: Er lud eine ganze Reihe von ausländischen Journalisten zu einer Tagung ein. Hinterher veröffentlichte er einen Tagungsband mit den Referaten und einer Teilnehmerliste, Was sich doch manche Artikel bestimmter Autoren danach gewandelt haben.
Westliche Polen-Euphoriker, die ohne tiefere Kenntnis der Zusammenhänge versuchen, Schönfärberei zu betreiben, ohne jemals betroffene Menschen gesehen, geschweige denn mit ihnen gesprochen zu haben, waren Herbert Czaja ein Dorn im Auge. Man muss wohl auch einmal klarstellen, dass Herbert Czaja persönlich mit Wladyslaw Bartoszewski sprach, was niemand für möglich gehalten hätte. Der Kontakt war von gegenseitigem Respekt und durchaus auch von Vertrauen geprägt. Jahre später, 2005, schrieb Bartoszewski in seinem Buch „Und reiß uns den Hass aus der Seele“, dass er mit Herbert Czaja zu manchen Übereinstimmungen gekommen sei. Und wörtlich schrieb Bartoszewski über ihn; „Seine These lautete: Es wird nicht so sein, wie es war, es wird aber auch nicht so sein, wie es ist. Czaja aus Skoczów sprach so gut polnisch wie ich. Als ehemaliger polnischer Bürger und Assistent an der Krakauer Jagiellonen-Universität vor dem Krieg war er ein Intellektueller, mit dem man sprechen konnte.“
Es ist betrüblich, wie Bartoszewski sich heute im Zusammenhang mit den Vertriebenen, vor allen aber ihren Verbänden gegenüber äußert, Eine Rückbesinnung auf die Gespräche mit Herbert Czaja wäre durchaus konstruktiv. Das vor allem auch deshalb, weil er für die Überwindung von Hemmnissen im Dialog eintrat Sei es die mangelnde Kenntnis über den jeweils anderen, dessen Geschichte, Kultur und Sprache oder aber besonders auch über deren Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten.
Die Unterstützung der deutschen Volksgruppen in den Heimat- und Siedlungsgebieten waren für ihn von größter Bedeutung. Trotz schwierigster Umstände pflegte er auch vor der Wende intensive Kontakte dorthin, vor allem in den schlesischen Bereich. Heute leben etwa 350.000 Deutsche in Oberschlesien und 15.000 Deutsche in Niederschlesien. Viele von ihnen wurden über Jahrzehnte hinweg verfolgt und schikaniert, weil sie als Deutsche mitverantwortlich gemacht wurden für die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges. Teilweise war es ihnen unter Strafandrohung verboten, die deutsche Sprache zu sprechen. Die Gründung deutscher Vereinigungen war ihnen nicht gestattet. Deutsche Bildungseinrichtungen waren bereits zu einem frühen Zeitpunkt abgeschafft worden. Die Existenz der Deutschen dort, insbesondere in Oberschlesien, wurde sogar noch bis in die 1980er Jahre Schicht geleugnet.
Diese Ausgangssituation war für Herbert Czaja immer wieder neu Anlass für ein, wenn auch oft zähes, meistens jedoch erfolgreiches Ringen für die Volksgruppe. Ständige Vorsprachen bei der Bundesregierung, Unterstützungslieferungen, nach der Wende Hilfen für den Aufbau deutscher Bibliotheken und Begegnungsstätten, Förderung des organisatorischen Zusammenschlusses der Deutschen und anderes waren für ihn eine Selbstverständlichkeit. Vieles wurde durch die Bundesgeschäftsstelle des Bundes der Vertriebenen vermittelt. Manche seiner dortigen Personalentscheidungen wirken bis heute positiv nach.
Auch der weitere Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit verbunden mit Begegnungsseminaren und kulturellen Veranstaltungen, waren ihm ein großes Anliegen. Vor allem aber lag ihm das Bildungswesen am Herzen. Die jetzigen Bestrebungen für eine erste deutsche Schule wären ganz in seinem Sinn, ebenso dass erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 2008 polnisch-deutsche Ortsschilder aufgestellt wurden.
Herbert Czaja war es, der das Bundesvertriebenengesetz und dessen Novellierungen im Interesse der Vertriebenen und Aussiedler mit geprägt hat. In seiner Zeit als Mitglied des Deutschen Bundestages hat er immer wieder Initiativen für dessen Ausgestaltung und Verbesserung eingebracht. Das Gesetz ist auch gegenwärtig die rechtliche Grundlage für die Eingliederung der Spätaussiedler. In diesem Jahr erwarten wir im Zusammenhang mit Härtefällen bei der Familienzusammenführung eine erneute Novelle, die eine Einbeziehungsregelung für zurückgebliebene Angehörige in den Bescheid für den bereits anerkannten Spätaussiedler vorsieht, verbunden mit nachträglichem Spracherwerb, allerdings auch mit einem Sprachtest.
Das wäre ein Feld gewesen, auf dem Herbert Czaja jetzt mit ganzer Kraft tätig geworden wäre, so wie er es damals im Jahr 1992 beim Aussiedleraufnahmegesetz und 1993 beim Kriegsfolgenbereinigungsgesetz tat. Die Aussiedler und Spätaussiedler haben ihm viel zu verdanken. Er kämpfte für den Erhalt des Art. 116 des Grundgesetzes, während andere ein Kriegsfolgenschlussgesetz wollten, er kämpfte für den Erhalt der gesetzlichen Vermutung des allgemeinen Kriegsfolgenschicksals, die andere abschaffen wollten. Hinzuweisen ist natürlich auch auf das Hinwirken für den Erhalt der deutschen Volkszugehörigkeit bzw. deutschen Staatsangehörigkeit für die Deutschen jenseits von Oder und Neiße vor dem Bundesverfassungsgericht
Unvergessen bleiben die vielen Gespräche und noch mehr Schriftwechsel zwischen Herbert Czaja und dem damaligen Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung, dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt. Ich habe viele dieser Schreiben gelesen und kann sagen, dass manche Fehlentwicklungen verhindert werden konnten. Man darf nicht übersehen, dass es damals um hunderttausende Aussiedler ging, die jährlich in die Bundesrepublik kamen, heute sind es wenige tausend. Für sie eine kluge Politik durchzusetzen, die ihren Bedürfnissen für eine umfassende Eingliederung entgegenkommt, war für Herbert Czaja entscheidend. Seine Zugehörigkeit zum Kontrollausschuss des Bundesausgleichsamtes prägte die Arbeit dieses Gremiums, ebenso die im Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank.
Oft hat Herbert Czaja die 10 Punkte von Bundeskanzler Kohl aus dem Dezember 1989 zur Beschleunigung der deutschen Vereinigung als große geschichtliche Tat gelobt. In gleichem Zusammenhang aber lehnte er den, wie er selbst formulierte, „abrupten Versuch zur Preisgabe des Offenhaltens der Frage der Ostgrenze für einen Kompromiss“ entschieden öffentlich ab. Für den BdV-Präsidenten brachte die Vereinigung auch neue Herausforderungen für Mitteldeutschland. Dort in der früheren „DDR“, wo die Vertriebenen keine Vereinigungen bilden durften, wo sie nicht einmal als Vertriebene anerkannt wurden, sondern pauschal „Umsiedler“ genannt wurden, mussten Verbandsstrukturen aufgebaut werden. Bis in kleine Detailfragen brachte er sich ein, vermittelte zu den Landsmannschaften, damit die beiden Säulen des Gesamtverbandes Bund der Vertriebenen auch in den neuen Bundesländern entstehen.
Ich selbst habe das am Beispiel der Landsmannschaft der Oberschlesier in Sachsen-Anhalt damals mitverfolgt. Entscheidend war auch sein Einsatz für das Vertriebenenzuwendungsgesetz, das eine einmalige pauschale Zahlung an die Vertriebenen in den damals neuen Bundesländern brachte.
Sein Wirken im kulturellen Bereich unterstrich er vor allem auch durch die Initiative zur Gründung der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen im Jahr 1974. Die bis zur Regierungsübernahme durch Bundeskanzler Gerhard Schröder vorhandene gute personelle Aufstellung ist Herbert Czaja zu verdanken. Die Publikationen der Kulturstiftung haben Maßstäbe für die wissenschaftliche Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung gesetzt. Dies wird auch heute fortgeführt. Ich bin froh, dass die Kulturstiftung erhalten bleiben konnte und dass sie nach Kräften ihre wichtige Arbeit fortsetzt.
An eine vom Bundesministerium des Innern offenbar gewünschte Zusammenlegung der Kulturstiftung mit der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat war unter Herbert Czaja nicht zu denken, zu unterschiedlich waren hier auch die Interessen im Zusammenwirken mit Dr. Herbert Hupka. Man mag rückblickend aber festhalten, dass sich die Aufrechterhaltung beider Stiftungen mit ihren jeweiligen Schwerpunktsetzungen produktiv ausgewirkt hat, sowohl im Hinblick auf Publikationen als auch auf Veranstaltungen.
Besonders wichtig war Herbert Czaja die kulturelle Breitenarbeit. Die Kulturreferenten der Landsmannschaften spielten, wie auch heute noch, dabei eine große Rolle. Immer wieder betonte er, dass man den Vertriebenen nach den grausamen Geschehnissen bei Flucht und Vertreibung nun nicht auch noch ihre Geschichte und Eigenart nehmen dürfe.
Die Verankerung von Herbert Czaja im christlichen Glauben und in der katholischen Kirche, unter anderem seine 32jährige Mitwirkung im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, hat sein gesamtes politisches Handeln geprägt Glauben zu leben und ihn in der Welt zu bezeugen, war für ihn selbstverständliche Christenpflicht. Bereits in der Krakauer Studienzeit schloss er sich einer Gesprächsgruppe deutscher katholischer Studenten an, die sich mit aktuellen geistigen, religiösen und politischen Fragen auseinandersetzte, unterstürzt durch Dr. Eduard Pant und seinen Verband Deutscher Katholiken in Polen. Herbert Czaja übernahm 1934 deren Leitung.
Herbert Czaja würdigte immer wieder den Aufbau von Diasporagemeinden durch die Vertriebenen nach 1945, vor allem aber die Bemühungen um die ethischen Grundlagen einer zumutbaren Wiedergutmachung und um die Verwirklichung einer sittlichen Pflicht der Liebe zu Volk und Vaterland in der katholischen Kirche.
Ausdrücklich erkannte er die Aussagen des Erzbischofs von Krakau, Karol Wojtyla zu den deutschen Leistungen an. Der spätere Papst Johannes Paul II. stellte aus der Sicht von Herbert Czaja zutreffend jede Vertreibung aus Verbrechen heraus und machte, was heute nur wenige wissen, klare Aussagen zum Recht auf die Heimat jeder von Vertreibung betroffenen Gruppe und zu einer zumutbaren Wiedergutmachung. Dem kürzlich verstorbenen damaligen Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, dem späteren Bischof von Hildesheim, Dr. Josef Homeyer fertigte er ein Gutachten zur Rechtslage und zu den Perspektiven für eine europäische Friedensordnung.
Häufig betonte Herbert Czaja, dass wir Deutschen die eigenen Untaten nie verdrängt oder gar verschwiegen haben. Die Vertreibung der Deutschen zum und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war in Polen bis zur Wende kein Thema Aus diesem Grund wertete er den Briefwechsel der polnischen und der deutschen Bischöfe von 1965 als ein wichtiges, ja ersehntes Signal: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, so heißt es darin. Manches wurde später relativiert, und es folgten leider viele weitere Jahre weitgehender Sprachlosigkeit.
In der Denkschrift der EKD sah Herbert Czaja allerdings das Abverlangen eines Sonderopfers der Vertriebenen. Zu einer Reihe von Persönlichkeiten der evangelischen Kirche, so auch zum langjährigen Vorsitzenden des Ostkirchenausschusses der EKD, Gottfried Klapper, pflegte er intensive und ausnahmslos fruchtbar« Verbindungen.
Wenn heute auf Bundesebene zwei Stiftungen Vertreibungen in Europa aufarbeiten, wenn fast täglich über Flucht und Vertreibung öffentlich gesprochen wird, in den Zeitungen geschrieben wird, wenn sich manche Fernsehsender des Themas annehmen, auch in der Darstellung des Schicksals des Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff, wenn in etlichen Bundesländern das Thema Flucht und Vertreibung wieder oder neu auf den Lehrplänen steht, wenn eine breite Welle der Solidarisierung mit den Vertriebenen zu registrieren ist, dann heißt das doch auch, dass die Vertriebenen, Flüchtlinge, Zwangsdeportierten, Spätheimkehrer, Aussiedler und andere vom Kriegsfolgenschicksal Betroffene Beachtung erfahren, vielfach vielleicht sogar ein Stück Anerkennung ihres Schicksals. Manche haben ein Leben lang darauf gewartet. Die Traumata sitzen tief. Es ist eben auch der früheren Beharrlichkeit von Herbert Czaja mit zu verdanken, dass die berechtigten Anliegen der 17 Millionen Betroffenen und ihrer Nachkommen nun diese Aufmerksamkeit finden konnten.
Bei einem Vortrag über Herbert Czaja und seine Aufgaben als Anwalt der Heimatvertriebenen darf auch seine Familie nicht fehlen, denn sie ist es, die seine Arbeitsbelastung mitgetragen hat. Ich erinnere an seine Ehefrau Eva-Maria Czaja, die ihrem Mann den Rücken freigehalten hat und an die neun Kinder. Die älteste Tochter Christine Czaja macht sich in besonderer Weise um das geistige Erbe ihres Vaters verdient. Sie war es, die Im Jahr 2003 zusammen mit Astrid Luise Mannes, Ernst Gierlich, Markus Leuschner, Joachim Piegsa, Felix Raabe, Karl Heinz Schäfer und mir den Erinnerungsband .Herbert Czaja – Anwalt für Menschenrechte“ herausgegeben hat und die immer wieder Teile des gewaltigen schriftlichen Nachlasses auch für wissenschaftliche Arbeiten zur Verfügung stellt.
Wenn heute über Herbert Czaja in Publikationen geschrieben wird, ist es meist differenzierter als zu Lebzeiten. Es ist oft sachkundiger, weil man sich mehr Mühe gegeben hat, Quellen heranzuziehen, statt unbelegte Vorurteile zu übernehmen. Das gilt auch für ausländische Autoren, interessant ist es, dass nach Auswertung der Akten über Herbert Czaja, die der polnische Geheimdienst über ihn führte, überhaupt nichts Belastendes gefunden wurde. Im Grunde hat man sich dort trotz immer wieder neuer Fragestellungen und Untersuchungen im Kreis gedreht.
In Vertriebenenkreisen hat sich die Standfestigkeit von Herbert Czaja tief eingeprägt. Wenn sein Name fällt, ist von einer gerechten Ostpolitik die Rede. In allen Bereichen, in denen ich Herbert Czaja erlebte, hat er für seine Überzeugungen gekämpft, immer bestrebt, als schlecht erkannte Argumente durch bessere Argumente zu ersetzen, konsequent, zuweilen auch äußerst hartnäckig.
Gibt man „Herbert Czaja“ im Internet bei google ein, finden sich beachtliche viele Eintragungen auch mit Zitaten von ihm. Nur nebenbei sei erwähnt, dass bei eBay auch seine Original-Autogrammkarten häufig zu finden sind.
Ich schließe, wie ich begonnen habe, nämlich mit persönlichen Bemerkungen: Das langjährige gute Miteinander mir Herbert Czaja war für mich die wohl denkbar beste und zugleich härteste politische Schule, die ich mir nur wünschen konnte. Bei der Vorbereitung auf den heutigen Tag ging mit so einiges durch den Kopf. Die vielen Begegnungen mit Herbert Czaja, lange Gespräche unter vier Augen; wenn wir gemeinsam im Auto unterwegs waren, konnten wir am besten sprechen, ohne den Trubel und die Hektik am Rande von Tagungen. Ein sehr schöner Ausflug zum Berliner Lietzensee, unser Vorbeifahren am verhüllten Berliner Reichstag, an unser schon traditionelles Kaffeetrinken am Flughafen Berlin-Tegel, wenn ich ihn nach einer Tagung dorthin gebracht habe, und fröhliche Abende in der Karl-Arnold-Bildungsstätte in Bad Godesberg bleiben unvergessen. Immer hat Herbert Czaja auch nach dem Menschen gefragt, was mich bewegt, womit ich besonders beschäftigt bin, was mir vielleicht Sorgen macht. Und mir geht die verbandspolitische Zusammenarbeit durch den Kopf. Lange Telefonate, wöchentliche Informationssendungen mit oft hunderten von Kopien, die Vorbereitung von Bundesversammlungen des BdV. Das alles sind schöne Erinnerungen an einen großartigen Menschen.
Ich wünsche uns allen, dass die Geradlinigkeit, Ehrlichkeit, Entschlossenheit und Menschlichkeit, die Herbert Czaja in der Politik lebte, immer wieder neu Vorbild sein – als Anwalt der Heimatvertriebenen.