Podiumsdiskussion über 75 Jahre „20. Juli 1944“
auf der Leipziger Buchmesse 2019
Im Rahmen der Leipziger Buchmesse veranstalteten die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen und das Deutsche Kulturforum östliches Europa e.V. eine Diskussion zum Thema „Kreisau als deutsch-polnischer Erinnerungsort“. Die Veranstaltung diente dazu, Impulse für das vom Sächsischen Staatsministerium des Innern geförderte Projekt „75 Jahre 20. Juli 1944“ zu geben, in dessen Rahmen vom 4. bis 6. Juli 2019 in Dresden die Tagung „Für Freiheit, Recht, Zivilcourage – 75 Jahre 20. Juli 1944“ stattfinden wird.
Moderiert von Frank-Lothar Kroll, Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz, diskutierten Dr. Jens Baumann, Beauftragter für Vertriebene und Spätaussiedler des Freistaates Sachsen, Dr. Lars-Arne Dannenberg, Mitbegründer des Zentrums für Kultur // Geschichte in Niederjahna und Dr. Annemarie Franke, Mitglied des Aufsichtsrats der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung.
Der Kreisauer Kreis entstand im Jahr 1940 als eine Art Netzwerk, das sich durch die Initiative von Helmuth James von Moltke, Besitzer eines Gutshofes in Niederschlesien, sowie Peter Yorck von Wartenburg herausgebildet hatte. Die Mitglieder des Kreisauer Kreises entwarfen gemeinsam ein politisches, gesellschaftliches, wirtschaftliches und kulturelles Programm für ein Nachkriegsdeutschland und -europa. Ein bedeutender Teil dieses Programms war die Idee einer engen Zusammenarbeit aller europäischen Nationen innerhalb eines politisch vereinigten Kontinents.
Dr. Dannenberg wies darauf hin, dass die Erinnerung an den Kreisauer Kreis als „Prüfstein des Gewissens“ heute die Möglichkeit biete, sich persönlich die Frage zu stellen, wie man unter den damaligen Bedingungen gehandelt hätte und heute handeln würde. Besonderheit des Kreisauer Kreises sei gewesen, dass es sich bei diesem um einen eigenständigen Widerstandskreis gehandelt habe, bei dem in der Art eines „akademischen Seminars“ bestimmten Personen Referate übertragen wurden und man sich gemeinsam über ein Nachkriegsdeutschland und -europa Gedanken gemacht habe. Dies unterscheide den Kreisauer Kreis auch von den Widerstandskämpfern rund um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die durch das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler aktiv eine Neuordnung Deutschlands herbeiführen wollten.
Frau Dr. Franke ergänzte, dem Kreisauer Kreis sei es darum gegangen, eine Erneuerung in der deutschen Gesellschaft herbeizuführen und eine Antwort auf die Frage zu finden, was geschehen müsse, damit in einem Nachkriegsdeutschland die deutsche Gesellschaft bereit sei, sich auf ein demokratisches politisches System einzulassen, d.h. welche Werte und Rechtsvorstellungen neu verankert werden müssten und welche Rolle dabei beispielsweise auch die Kirchen, Bildung und Erziehung, die Wirtschaft und die Arbeiterschaft spielen. Man habe aus den Fehlern der Weimarer Republik lernend an einem Verfassungsentwurf gearbeitet, um nach dem Ende der Diktatur neue Grundlagen für ein Nachkriegsdeutschland zu schaffen. Dies sei im Frühjahr 1989 von neuer Aktualität gewesen, als sich eine internationale Bürgerinitiative gebildet habe, die in Krzyżowa / Kreisau an die Arbeit dieser Gruppe aus den 40er Jahren anknüpfen wollte. Sie schöpften Inspiration aus dem politischen Denken des Kreisauer Kreises, um unter den Bedingungen der anhaltenden Blockteilung Europas hier einen Ort des Dialogs der Bürger zu schaffen, so Dr. Franke.
Die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung selbst wurde schließlich einige Monate nach der deutsch-polnischen Versöhnungsmesse vom 12. November 1989 gegründet. Die Errichtung der internationalen Jugendbegegnungsstätte, der Gedenkstätte, einer Europäischen Akademie und eines Internationalen Konferenzzentrum, die heute unter dem Dach der Stiftung arbeiten, geht zurück auf den deutsch-polnischen Versöhnungsdialog seit den 1960er-Jahren. Die Wahl des Ortes Krzyżowa / Kreisau zur Fortsetzung und Vertiefung des begonnenen Dialogs fand insbesondere auch bei der jüngeren polnischen Generation, deren Eltern nach 1945 aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten unfreiwillig nach Niederschlesien kamen, großen Anklang, so Dr. Franke. So bot sich mit Kreisau und der Erinnerung an den Kreisauer Kreis „eine positive Identifikationsfläche mit den Deutschen“, ganz im Gegenteil zur offiziellen Geschichtsauffassung vor 1989 in Polen, „wo alles, was deutsch war, mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt wurde“, so Dr. Franke.
Dr. Baumann erklärte, dass das Sächsische Innenministerium die Arbeit in Kreisau auf der Grundlage der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, aber auch vor dem Hintergrund des kulturellen deutschen Erbes der Vertreibungs- und Aussiedlungsgebiete fördere. In Sachsen gebe es rund 200.000 Vertriebene bzw. Familien, die davon betroffen seien. Von besonderer Bedeutung sei es, Schüler an die Thematik heranzuführen. Jedes Jahr besuche, gefördert durch das Ministerium, eine deutsche und polnische Schulklasse gemeinsam Kreisau. Den 75. Jahrestag des „20. Juli 1944“ habe die Sächsische Staatsregierung zum Anlass genommen, ein größeres Projekt zu initiieren, das u.a. eine Ausstellung, wie sich der Widerstand in Sachsen gestaltet habe, eine neue Schülerbegegnung und vom 4. bis 6. Juli eine große Tagung in Dresden zum Thema „Für Freiheit, Recht, Zivilcourage – 75 Jahre 20. Juli 1944“ beinhalte.
Wie fortschrittlich nach heutigen Vorstellungen der Kreisauer Kreis gedacht habe zeige sich, dass dieser in einer Nachkriegsordnung konzeptionell ein Europa der Regionen angedacht habe, so Prof. Kroll. Frau Dr. Franke wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass aus der Arbeit des Kreisauer Kreises ein Europaplan überliefert sei. Auf europäischer Ebene sei ein gemeinsames europäisches Außenministerium und Verteidigungsministerium vorgesehen gewesen und die Souveränitätsrechte der einzelnen Staaten sollten gewissermaßen genossenschaftlich in einer europäischen Föderation verwaltet werden. Eine Europäische Friedensordnung und die Einsicht, dass Nationalstaaten die Probleme in Europa und der Welt nicht lösen könnten, sei sehr nahe an unseren heutigen Vorstellungen von der Europäischen Union, so Dr. Franke. Im Sinne des europäischen Gedankens sei es heute auch Auftrag der Begegnungsstätte in Kreisau es zu fördern sich als gemeinsame europäische Gesellschaft zu verstehen. Es gelte immer wieder „neue Anlässe zu schaffen, dass sich junge Menschen aus Deutschland, Polen und ganz Europa dort treffen“, um aktuelle gesellschaftspolitische Fragen zu diskutieren und „sich gegenseitig zu erleben und sich kennenzulernen“, so Dr. Franke.
Thomas Konhäuser
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