Alfred Döblin – Judentum und Katholizismus

Literaturwissenschaftliche Fachtagung, Stuttgart, 30. November/1. Dezember 2007

Alfred Döblin – Judentum und Katholizismus

Wiss. Leitung: Prof. Dr. Karol Sauerland, Warschau
Redaktion: Dr. Ernst Gierlich, Bonn

Einer breiteren Öffentlichkeit ist der 1957 verstorbene Alfred Döblin vor allem als Autor des Großstadtromans „Berlin-Alexanderplatz“ von 1928 bekannt, dies nicht zuletzt dank der Fernsehverfilmung von Rainer Maria Fassbinder aus den 1980er Jahren. Dabei umfasst das Œuvre Döblins eine Fülle weiterer bemerkenswerter Romane, Erzählungen und Essays aus sieben Jahrzehnten, die ihn als einen der großen deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, als Vertreter der literarischen Avantgarde seiner Zeit ausweisen. Zu Döblin als Lehrer haben sich Autoren wie Günter Grass oder Arno Schmidt bekannt. Auch in seiner Geburtsstadt Stettin blieb er unvergessen: Auf Initiative der Ger¬manisten und Polonisten der Stettiner Universität wurde 2003 mit Unterstützung der Stadt Stettin und des deutschen Honorarkonsuls in der ulica Panieńska, einst Frauenstraße, eine Alfred-Döblin-Gedenktafel an einem Gebäude angebracht, in dem Döblin als vierjähriges Kind zusammen mit seiner Familie gewohnt hatte.

Zu den Veranstaltungen aus Anlass des 50. Todestages des Autors im In- und Ausland gesellte sich Ende November 2007 ein literaturwissenschaftliches Symposium, das die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen dank der Förderung durch das Land Baden-Württemberg und des Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien in Stuttgart-Hohenheim durchführen konnte. Angeregt hatte das Symposium Prof. Dr. Karol Sauerland, Warschau, unter dessen Leitung hochkarätige Germanisten aus Deutschland und Polen mit „Judentum und Katholizismus“ einem besonderen Aspekt in Leben und Werk Döblins nachgingen.

Eine kurze Vorstellung Döblins unternahm eingangs Prof. Dr. Karol Sauerland, der die wichtigsten Werke sowie die Stationen des Lebensweges in Erinnerung rief – Geburt in Stettin als Sohn eines jüdischen Schneidermeisters, frühe Übersiedlung der Familie nach Berlin, Studium der Medizin – wobei er auch philosophische und literaturgeschichtliche Vorlesungen besuchte – in Berlin und Freiburg, Weltkriegsteilnahme als Militärarzt, Tätigkeit als Nervenarzt in Berlin, Emigration in die Schweiz und nach Frankreich, Flucht durch Frankreich in die Vereinigten Staaten, dort Konversion zum katholischen Glauben, nach dem Krieg Rückkehr nach Deutschland und Frankreich, Tod im baden-württembergischen Emmendingen.
Auch wenn er mit dem Ausspruch zitiert wird, er sei in Stettin, das er im Alter von zehn Jahren verlassen musste, „nur vorgeboren“, so lässt sich Döblin doch als Pommer charakterisieren, wie Prof. Dr. Roswitha Wisniewski, Heidelberg, umsichtig darlegte. Es blieb die lebenslange Bindung zu Meer, Haff, Oder und Hafen, die ihn als Bewohner des „Landes am Meer“ kennzeichnete. Für den jungen Döblin wurde indes zunächst die Großstadt wichtiger als Natur und Meer, bis dann 1921 die Verwandlung erfolgte: Gestein am Strand verunsicherte ihn. Er erfasste die Natur als Fülle sich mischender Vorgänge, „dunkler und ungeheurer als Gott“, sah im Meer eine Metapher für das „Weltwesen“, für die transzendente Lebenssphäre, in die das menschliche Sein eingebunden ist. Döblins von taoistischen Elementen beeinflusste Naturmystik schlägt sich in seinen frühen Erzählungen nieder, in denen das Meer und die Landschaft am Meer tragend werden. Sie erscheint als eine Mystik ohne Gott, ja blasphemisch, sich dann aber allmählich für christlich geprägte Spiritualität öffnend.

In dieser frühen Phase von Döblins Schaffen sind jüdische Aspekte, wie Prof. Dr. Helmuth Kiesel, Heidelberg, darlegte, von geringer Bedeutung. Jude war Döblin von Geburt, nicht von Erziehung. Sowohl gegenüber dem assimilierten Judentums Berlins als auch gegenüber dem traditionellen Ostjudentum zeigte er sich befremdet. Die Konsequenz war Döblins Austritt aus der jüdischen Gemeinde 1912. Vertrat er noch 1920 die Meinung, das westeuropäische Judentum werde in der westlichen Kultur aufgehen, so führten bald darauf die Begegnung mit dem ostjüdischen Theater in Berlin, Plünderungen im Berliner Scheunenviertel und die Bekanntschaft mit führenden Zionisten zu einer Sensibilisierung für die unsichere Lage der Juden und zur Solidarisierung mit ihnen. Die „Reise in Polen“, die er 1924 unternahm, brachte die Begegnung mit einem lebendigen und selbstbewussten Judentum. Sie führte schließlich dazu, dass Döblin sich bis zu seinem Exil 1933 für die jüdische Kolonisation in der „Freilandbewegung“ und bei den jüdischen Territorialisten engagierte. In seinen Romanen und Erzählungen, die von avantgardistischen Erzählformen weit stärker bestimmt werden als von vermeintlich jüdischen, spielen indes Juden keine herausgehobene Rolle.

Auf die erwähnte Begegnung Döblins mit dem polnischen Judentum während seiner Polenreise ging Prof. Dr. Marion Brandt, Danzig, unveröffentlichte Reisenotizen im Marbacher Literaturarchiv auswertend, näher ein. Die Reiseerlebnisse wurden für Döblin zu „Schlüsselerfahrungen“, die ihm den lange verwehrten Zugang zum Judentum eröffneten. Die Zionisten und Sozialdemokraten vermittelten ihm jedoch lediglich den Zugang zum politischen, nicht zum religiösen Judentum, mit dem er sich erst bei der Bearbeitung seiner Reisenotizen für die Buchfassung der „Reise in Polen“ beschäftigte, wobei insbesondere das chassidische Judentum ihn zunehmend faszinierte. In der „Reise in Polen“ geht es Döblin allerdings nur vordergründig darum, die dortige jüdische Kultur zu beschreiben. Wichtiger ist die Selbsterkenntnis des Autors, die Erkenntnis seiner zuvor ignorierten geistigen Wurzeln.

Gleichwohl blieb Döblin weiterhin ein religiös ungebundener Mensch. Wie Prof. Dr. Günter Niggl, Eichstätt, darlegte, erfolgte seine Hinwendung zum Glauben an einen persönlichen Gott in der Situation äußerster Verlorenheit vor dem Kruzifix der Kathedrale von Mende, wohin es ihn im Jahre 1940 auf seiner Flucht aus Paris vor den anrückenden deutschen Truppen verschlagen hatte. Döblins dreiteiliges Werk „Schicksalsreise“ beschreibt diesen Prozess eingehend. Deutet Döblin die Irrwege der Flucht zunächst noch als Winkelzüge einer willkürlichen, dämonischen „Urmacht“, so wandelt sich nun die „Urmacht“ zu einem „Urgrund“, dem man sich anvertrauen kann. Erst wiederholte Begegnungen mit dem Kruzifix lassen ihn aber den „Urgrund“ mit Christus zusammenbringen. Er begegnet in ihm einem mitleidenden Gott, der den Menschen aus den Abgründen der Verzweiflung und Einsamkeit retten kann. Döblin verliert hier die beobachtende, skeptische Distanz, die alle seine früheren Beschäftigungen mit religiösen Fragen kennzeichnet. Seine „Schicksalsreise“ ist zugleich Bericht und Bekenntnisschrift.

Die Frage nach einer Affinität zum christlichen Glauben bereits in der Zeit vor dem „Schicksalsjahr“ 1940 ist nach Prof. Dr. Grażyna Kwiecińska, Warschau, nicht eindeutig zu beantworten. So forderte Döblin in dem Essay „Jenseits von Gott“ von 1919 zur Erneuerung der Religion auf, blieb aber religions- und christentumkritisch. Erst während der „Reise in Polen“ erfuhr er gelebten jüdischen und christlichen Glauben, wobei ihn bereits der gekreuzigte Christus in der Krakauer Marienkirche ergriff, sah er in ihm doch den leidenden Menschen repräsentiert. Dies bedeutete zwar noch keinen Schritt zur christlichen Religiosität, aber einen Schritt über die A-Religiosität der frühen Schriften hinaus. Im französischen Mende machte Döblin gemäß der „Schicksalsreise“ die Erfahrung vom Sinn des Schicksals, traf er aber noch keine Entscheidung für die Konversion zum Christentum, die erst 1943 in den USA erfolgen sollte, wobei seine Entscheidung für den Katholizismus – und nicht etwa für den Protestantismus – wesentlich durch seine dortigen Gesprächspartner veranlasst wurde. Döblin unterstrich stets den privaten Charakter der Konversion, aber selbst in seiner Familie war dieser Schritt nicht unumstritten. Kwiecińska machte die Konversion gar für die mangelnde Bekanntheit des wichtigen Autors verantwortlich, hatte er damit doch gegen die „political correctness“ seiner Zeit verstoßen. Bertolt Brecht sprach damals von „Verrat“ und – in einem Gedicht – vom schlechten Beispiel für die Jugend.

Als philosophisch-ästhetische Herausforderung betrachtete Dr. Thomas Isermann, Berlin, Döblins Konversion. Zwei Deutungsmuster werden in der Literatur angeboten. Sah man in ihr zunächst, in der Folge der ablehnenden Reaktionen der Schriftstellerkollegen, vor allem einen Bruch in Biographie und Werk – dem von Diesseitigkeit und „Übermut“ gekennzeichneten Frühwerk steht das weniger anerkannte, von Jenseitigkeit und „Demut“ geprägte Spätwerk gegenüber –, so betont man heute stärker die Entwicklung Döblins vom Taoismus über das Judentum zum Endpunkt Katholizismus, propagiert also statt des Bruchs eine kontinuierliche Entwicklung. Als alle Wandlungen und Brüche übergreifende Konstante in Döblins Denken hob Isermann die zwischen Geistes- und Naturwissenschaft stehende Naturphilosophie hervor, in die Döblin bereits früh Elemente mittelalterlicher christlicher Mystik aufnahm. Sind die in allen seinen Werken eingestreuten Gebete zunächst Unterhaltungen zwischen dem Ich, der „Einheit“, und der Natur, der „Vielheit“, so wird aus ihnen später der Dialog mit dem in die „Vielheit“ hineinwirkenden Gott. Zwar bleibt die Bekehrung eine radikale Neuorientierung, ein befreiender Ausbruch aus der „erstickenden“ Moderne, doch sieht Döblin in ihr keinen vollständigen Bruch, vielmehr steht er, wenn auch kritisch, zu seinen Kontinuitäten.

Prof. Dr. Christian Andree, Kiel, beschrieb abschließend, über das Tagungsthema hinausweisend, Alfred Döblin als Mediziner in einer Zeit, die bereits seit dem Werk des Chirurgen Theodor Billroth von 1872, „Lehren und Lernen des Mediziners an den Universitäten der deutschen Sprache“, von Anfeindungen gegen vorgeblich das Fach dominierende jüdische Mediziner geprägt war – eine Tendenz, die sich nach dem Ersten Weltkrieg, als viele junge Mediziner keine Kassenzulassung fanden, noch steigerte. Sie zwang Döblin, die zunächst verfolgte Assistenzarztlaufbahn aufzugeben und sich als selbständiger praktizierender Nervenarzt niederzulassen. Ergänzt wurde das Programm der Tagung weiterhin durch die Vorführung des 1931, also nur drei Jahre nach der Veröffentlichung des Romans entstandenen Films „Berlin-Alexanderplatz“, mit Heinrich George in der Rolle des Franz Biberkopf, ein früher Tonfilm, dessen rasante Schnitttechnik der wegweisenden collageartigen Erzählweise des Romans in beeindruckender Weise entspricht.

Die Konferenz kann als gelungen bezeichnet werden. Nicht nur, dass die Referenten textnah interpretierten und genügend Zeit für Ihre Ausführungen hatten, dass es zu jedem Vortrag eine lebhafte Diskussion gab, in der sich jeder ausführlich äußern konnte, besonders hervorgehoben wurde von den Teilnehmern auch immer wieder die innere Stringenz der Konferenz. Ein Referat ergänzte das andere, so dass die aufgegriffene Problematik immer weiter ausgeschritten wurde.

Als vielschichtige Persönlichkeit erschien in den Vorträgen und Diskussionen Alfred Döblin – gerade in seinen Aussagen zu Judentum und Christentum oft widersprüchlich: Ein Verleugnender und Glaubender zugleich, ein lebenslang Suchender und trotz bleibenden Zweifels Findender – ein Mensch der Moderne, den wiederzuentdecken, auch über den „Alexanderplatz“ hinaus, sich lohnt.