Deutschsprachige Literatur im Baltikum und in St. Petersburg

Literaturwissenschaftliche Fachtagung, 2. – 4. November 2006

Deutschsprachige Literatur im Baltikum und in St. Petersburg – Kulturhistorische Aspekte

Wiss. Leitung: Prof. Dr. Carola L. Gottzmann
Redaktion: Dr. Ernst Gierlich

Ungeachtet der exponierten geographischen Lage des Baltikums braucht die dort entstandene deutschsprachige Dichtung seit der frühen Neuzeit in Form und Inhalt den Vergleich mit Werken der jeweiligen literarischen Avantgarde nicht zu scheuen. Eng mit der geistigen Kultur des Baltikums verbunden zeigt sich die nahe gelegene Hauptstadt des Russischen Reiches, St. Petersburg, wo sich gleichfalls Einzelpersonen und literarische Zirkel auf hohem Niveau der Pflege der deutschsprachigen Literatur widmeten.

Auf der Fachtagung sollten mit Beiträgen von Wissenschaftlern aus dem Inland und dem östlichen Ausland die deutschsprachige Literatur des Baltikums und St. Petersburgs nicht nur aus literaturwissenschaftlichem Blickwinkel betrachtet, sondern auch in den konkreten historischen bzw. sozialgeschichtlichen Kontext eingeordnet werden.

Es habe ein Wandel in der Kulturarbeit stattgefunden, sagte Dr. Friedrich Gackenholz, Innenministerium Baden-Württemberg, in seiner Begrüßungsansprache der diesjährigen literaturwissenschaftlichen Fachtagung in Stuttgart, und das sei die Erinnerungskultur. Aber auch die müsse gepflegt werden und brauche staatliche Unterstützung. Auf die, schloss Gackenholz mit einem Schmunzeln, dürfe die Kulturstiftung der Vertriebenen von Seiten der Landesregierung auch weiterhin rechnen. – Hans-Günther Parplies, Vorsitzender der Kulturstiftung und Christine Czaja, Vorstandsmitglied, fanden herzliche Worte der Begrüßung für die Teilnehmer dieser Seminars in Stuttgart, wo vor 32 Jahren Herbert Czaja die Kulturstiftung der Vertriebenen ins Leben gerufen hatte.
Noch immer ist die Literatur des Baltikums nicht erschlossen. Die Politik der diese Region dominierenden, oft wechselnden Nationen zerrten die kleinen baltischen Staaten mal zu dieser, mal zu jener Seite. Seit der Möglichkeit des Wissensaustauschs, seit der ideolo¬gischen Wende, beginnen Universitäten und Lehrstühle, ihre brachliegenden Schätze aufzuarbeiten. Unter Leitung von Prof. Dr. Carola L. Gottzmann von der Universität Leipzig, die diese Tagung der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen moderierte, versuchten Fachleute aus Estland, Lettland und der Bundesrepublik, dem Zuhörer einen Einblick in die Geschichte der Literatur dieser Länder zu geben.

Eindrücklicher als Siegfried von Vegesack es in seinem Roman „Die baltische Tragödie“ ihre Hauptfigur Aurel vom Blumbergshof es ausdrücken lässt, kann man die Gefühle der Balten über Jahrhunderte hinweg nicht beschreiben: „Es war merkwürdig, von zwei Seiten rupfte man an seiner baltischen Haut. Onkel Jegor zog ihn nach Russland, Tante Ära nach Deutschland. Und er stand in der Mitte, wollte durchaus nicht aus seinem Fell heraus kriechen. Denn in dieser Haut war er geboren, in dieser Haut fühlte er sich wohl. Russland war ihm verhasst, aber zugleich hatte er auch das dunkle Gefühl, dass Deutschland ihm nie ein Zuhause werden könnte. Nur hier, und nur hier auf dem Lande war seine Heimat.“
Mit einem übersichtlichen Vortrag informierte Prof. Gottzmann die zahlreich erschienenen Seminarteilnehmer über die enorme Bandbreite der Schreibenden und geistig Schaffenden in den Bal¬tischen Ländern. Viele Namen sind nur den Fachleuten bekannt, etliche jedoch auch dem privaten Leser. Nur ein paar seien hier in Erinnerung gerufen: Werner Bergengruen, Gertrud von der Brincken, Frank Thieß, Eduard Graf v. Keyserling, August Kotzebue …

Prof. Dr. Michael Garleff/Oldenburg, (aus Krankheitsgründen wurde sein Manuskript vorgelesen) vermochte dem Wissen über das literarische Werden im Baltikum einen historischen, Rahmen zu geben. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erschienen die ersten Druckschriften in den Volkssprachen, meist waren es Katechismen und Bibelübersetzungen. Die im 13./14. Jh. entstandenen Städte Riga, Reval, Dorpat, Wenden, Fellin und Pernau (insgesamt 12 livländische Städte gehörten zum Städtebund der Hanse) unterhielten rege Beziehungen zu Danzig und Königsberg im preußischen Or¬densbereich, Riga und Reval gehörten zu den größten Städten des schwedischen Reiches.

Trotz ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Staaten fand in allen drei Teilen des ehemaligen Alt-Livland eine Festigung der politischen Machtstellung des deutschen Landadels statt, die Urbevölkerung, Esten und Letten, wurden wie Leibeigene gehalten, sozial aufsteigenden Untertanen germanisiert. Durch den großen Nordischen Krieg 1700-1721 zwischen Schweden und Russland wurden Livland, Estland und Kurland autonome russische Gouvernements.

Für die Zeit der Aufklärung nennt Garleff vor allem drei Namen: Katharina II., die Große (1729 – 1796), deutsche Prinzessin von Anhalt Zerbst, Vertreterin des „aufgeklärten Absolutismus“, Johann Gottfried Herder (1744 -1803), der von 1764 bis 1769 in Riga wirkte, und den Schriftsteller Garlieb Merkel, Kritiker des Adels und Napoleons, einer der herausragenden Publizisten des frühen 19. Jahrhunderts. Eine heute kaum mehr vorstellbare fruchtbare Zeit geistigen Schaffens begann. Bei dem gebürtigen Ostpreußen Johann Friedrich Hartknoch, ab 1767 in Riga tätig und erster und einziger Buchhändler und Verleger der Ostseeprovinzen, erschienen (1781) Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“, die „Kritik der praktischen Vernunft“ sowie einige Schriften Johann Gottfried Herders. Ein Freund Herders, Johann Georg Hamann, machte auf die Musik der Letten aufmerksam, alten, überlieferten Liedern, die ein Jahrhundert später als „Dainas“ das Nationalbewußtsein der Letten symbolisieren sollten. Zur Bildung einer geistigen Elite trugen die jungen Akademiker von deutschen oder europäischen Universitäten bei, die eine Hofmeisterstelle auf ritterschaftlichen Gütern innehatten, also als Hauslehrer, Vorleser oder Gesellschafter fungierten. Vor allem aber waren es Pastoren, die an der Aufklärung in den baltischen Ländern beteiligt war, ebenso spielten Freimaurerlogen eine Rolle.1782 wurde in Riga ein ständiges Theater begründet, das zur Eröffnung Lessings Emilia Galotti spielte und 1787 bereits drei Monate nach dessen Ham¬burger Uraufführung Friedrich Schillers Don Carlos. Reval war die Wirkungsstätte des Lustspieldichters August von Kotzebue, von dem später noch die Rede sein wird, mehrere Referenten dieses Seminars gingen auf sein Schaffen ein.

Wichtigster Publizist der älteren Aufklärung war August Wilhelm Hupel. Mit 80 Mitarbeitern verfasste er von 1774-82 das dreibändige Werk „Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland“, präzise Berichte über die Landbevölkerung und die Topographie der einzelnen Kreise – noch heute eine Fundgrube für die baltische Kultur- und Sozialgeschichte. Garleff richtete seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Publizisten, denen das soziale Umfeld der Esten und Letten des 18. Jahrhunderts ein Anliegen war. Zu ihnen gehörte vor allem Garlieb Merkel. 1796 erschien dessen Streitschrift „Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts“. Merkel war geprägt von den Rousseauschen Ideen vom glücklichen Urvolk. Seine schonungslose Darstellung der livländischen Zustände trug zur Aufhebung der Leibeigenschaft und zur Bauernbefreiung 1816 -19 bei.

Die baltische Geschichte des 19. Jahrhunderts wurde von drei Strömungen bestimmt, die schließlich die Revolution von 1905/06 und schließlich die gravierenden Veränderungen im Ersten Weltkrieg 1914/18 herbeiführten: die Agrarfrage und die Verfassungsreform, das nationale Erwachen der Esten und Letten, die so genannte Russifizierung. Die Zeit des nationalen Erwachens war gekommen. Wieder war es ein Pastor, der Kurländer August Bielenstein, der 1824 die „Lettisch-Literarische Gesellschaft (Lettenfreunde) gründete, der unter Mitwirkung lettischer Mitglieder erstmals weltliche Literatur in lettischer Sprache herausgab. Der lettische Journalist Krisjanis Barons veröffentlichte eine Sammlung lettischer Volkslieder, und 1888 erschien das von Andrejs Pumpurs verfasste lettische Epos „Lacplesis“ (Bärenreißer). Das Interesse deutscher Schriftsteller an der Geschichte und dem Leben der Urbevölkerung der baltischen Länder konnte sie jedoch nicht vor Angriffen russisch-nationaler Publizistik retten. In den 1860er Jahren eröffnete der Moskauer Presse-Zar Michail Katkov eine Hetzkampagne auf die Sonderstel¬lung der Deutschbalten, unterstützt von dem Slavophilen Jurij Samarin, der den germanisierenden Einfluss der Deutschbalten auf Esten und Letten anprangerte. Unter Zar Alexander III (1881-1894) verschlimmerte sich die Situation, er war der erste Zar, der bei seinem Regierungsantritt die baltischen Privilegien nicht bestätigte.

Am Ende seines Referats zitierte Garleff Otto A. Webermann, der der Meinung gewesen war, die Literaturgeschichte dieser Region müsse das Ziel verfolgen, „das geistige Leben des Landes als ein Ganzes zu sehen. Unabhängig davon, wo man die Hauptakzente setzt, kann der Literaturhistoriker in solchen Räumen wie in unserer Heimat, wo mehrere Sprachen nebeneinander existierten und wo in früheren Zeiten die meisten Autoren in zwei oder mehreren Sprachen geschrieben haben, nicht umhin, einerseits diesen Raum als Einheit zu betrachten, andererseits aber den komplexen Charakter der geistigen Erscheinungen zu berücksichtigen, und wenn die bisherigen Möglichkeiten und Methoden nicht ausreichen, so müssen wir nach neuen suchen.“

Für viele heutige Literaturhistoriker scheint das eine Aufforderung gewesen zu sein – die Unterschiedlichkeit der auf dieser literaturwissenschaftlichen Fachtagung gehaltenen Referate bewies es. Die Referenten mögen verzeihen, wenn ich aus Platzgründen nur auf ein paar näher eingehen kann.

Dr. Otto-Heinrich Elias, Vaihingen, nahm sich des Viel- und Schnellschreibers, August von Kotzebue an. Ein dankbares Thema! Ist August von Kotzebue doch eine der schillerndsten Figuren des 18. Jahrhundert. Kotzebue, 1761 geboren und 1819 von dem Burschenschafter Karl Sand als angeblicher Spion in Mannheim ermordet, war der meistgespielte Bühnenautor der Klassikerzeit. Die 40bändige Gesamtausgabe 1840 enthält 230 Stücke. Dazu kommen Romane, kürzere Prosa und eine Vielzahl von journalistischen und historiographischen Arbeiten. Heute vor allem bekannt sind zwei Theater¬stücke: sein gefühlvolles Ehebruchsstück „Menschenhass und Reue“ (1785) und „Die deutschen Kleinstädter“, eine Verspottung der Weimarer Bürger der Goethezeit (1800). Von Haus aus Jurist, gehörte Kotzebues Liebe jedoch dem Theater, und so turbulent wie es in seinen Stücken zuging, gestaltete sich auch sein Leben. Er trat in russische Dienste ein, wurde 1783 als staatlich beamteter Richter nach Reval abgeschoben und gründete dort zusammen mit adligen und bürgerlichen Freunden und Kollegen ein Privattheater, für das er viele Stücke selbst schrieb. Er heiratete in den estländischen Adel ein und ließ sich als Gutsbesitzer nieder, quittierte seinen Dienst als Richter und kehrte 1797 ins Deutsche Reich zurück.

Es scheint, als habe August von Kotzebue etliche Leben gehabt, was Elias kenntnisreich und witzig vortrug: Kotzebue war Intendant, Theaterautor, Journalist, Historiker und russischer Diplomat in Wien, Weimar, Berlin und Königsberg, stets aber behielt er die russische Staatsangehörigkeit und seinen estländischen Gutsbesitz bei. Seine drei Ehefrauen kamen allesamt aus dem estländischen Adel, seine Söhne machten Karriere im russischen Staatsdienst. Kotzebues Lebensmittelpunkt war stets Estland, bekannt aber war er im gesamten deutschsprachigen Raum und durch Übersetzungen in aller Welt. Was die damalige Zeit in Atem hielt, war die französische Revolution, waren die bonapartistischen Ideen. Und so reiste Kotzebue auch nach Paris, obwohl er konsequenter Gegner der französi¬schen Revolution war, er verstand sich als Reformmonarchist und war Gegner Napoleons.
Seine Themen nahm er von überall her, übte Gesellschaftskritik und verspottete Staat und Obrigkeit, bearbeitete dann auch wieder historische Themen – „Die Hussiten von Naumburg“ -, wobei er seine Standpunkte so oft wechselte wie seine Wohnorte, legte sich mit Goethe an und mit den Brüdern Schlegel und verstand es doch, die Massen durch bühnenwirksame, amüsante Theaterstücke für sich einzunehmen.

Dr. Werner H. Preuß, Bardowick, vermittelte mit seinem Referat „Jakob Heinrich von Lilienfeld, sein geistiges Umfeld in Pöltsamaa/Oberpahlen/Livland) und sein großer Entwurf eines friedlichen, freien und vereinten Europas“ ein eminent anschauliches Bild Livlands im frühen 18. Jahrhunderts. Preuß begann seinen Aufsatz mit der Figur des Hamburgers Heinrich Claus von Fick (1678-1750), der, zuerst in schwedischen Diensten stehend, die Seiten wechselte. Von Fick schmuggelte Unterlagen zu Verwaltungsfragen der schwedischen Regierung nach Amsterdam, wo er sie Zar Peter I. zu übergab. Für seine vielfältigen Verdienste schenkte ihm der Zar das Kirchspiel Oberpahlen. Seine beiden Schwiegersöhne traten nach seinem Tod sein Erbe an und machte aus dem ehemaligen Burgflecken eine Region mit einer zur damaligen Zeit bemerkenswerten Industrialisierung und … zu einem kulturellen Zentrum mit eigener Hof-kapelle und einer italienischen Schauspielertruppe. Sogar eine kleine Buchdruckerei (die erste und einzige auf dem Land in Livland) beherbergte dieses Gut Schloss Oberpahlen. Für die schnell expandierenden Fabriken nahm der Schlossherr einen großen Staatskredit auf und holte sich vor allem deutsche Facharbeiter ins Land. Doch dieses Imperium brach 1785 zusammen, das geschaffene geistige Umfeld blieb weiterhin lebendig. Der bereits erwähnte August Wilhelm Hupel war hier als Landgeistlicher tätig und tat sich als Lehrer, Seelsorger, Chronist und Sammler historischer, geographischer und ethnographischen Materials hervor, außerdem machte er sich um die Alphabetisierung der Bauern verdient. Zu diesem intellektuellen Kreis gehörte auch der Dichter und politische Schriftsteller Jakob Heinrich von Lilienfeld (1716-1785), er war mit der fünften Tochter Heinrich von Ficks verheiratet. Lilienfeld war im kaiserlichen Landkadettencorps in St. Petersburg erzogen worden, am Hofe tätig, wurde dann aber mit seiner Frau nach Jakutsk/Sibirien verschickt. Nach 19 Jahren begnadigte Zar Peter III. Sophie von Lilienfeld, der diese Verbannung wegen „angeblicher Verleumdung der Kaiserin Elisabeth“ gegolten hatte. Jakob Heinrich von Lilienfeld wurde zum „holsteinischen Etatsrat“, später zum Geheimen Legationsrat ernannt.

Zurück in Oberpahlen widmete er sich der Landwirtschaft und … schrieb Lustspiele. Sein Hauptwerk aber ist „Neues Staatsgebäude“ (1767), der detaillierte, deutschsprachige Entwurf eines friedlichen, freien und vereinten Europas im 18. Jahrhundert. Zehn Jahre später folgte „Versuch einer neuen Theodicee“.
Wenn auch Jakob Heinrich von Lilienfeld von der deutschen Literatur-geschichtsschreibung nie zur Kenntnis genommen wurde, so verdient sein „Neues Staatsgebäude“, 1767 bei Breitkopf in Leipzig erschienen, noch heute Beachtung, (Zitat) „Die Aufgabe einer vernünftigen Europapolitik besteht da¬rin, eine dem Zivilrecht vergleichbare Völkerrechtsordnung zu etablieren, die jeder Nation garantierte Freiheiten bei akzeptablen Einschränkungen gewährt. Nur durch Abtretung von Rechten an eine überstaatliche Organisation können die europäischen Nationen befriedete, stabile Verhältnisse erreichen und damit paradoxerweise erst souverän im eigenen Hause werden.“

Ljuba Kirjuchina, Potsdam, begann ihr Referat „Deutsches literarisches Leben in St. Petersburg (1703-1917)“ mit der Feststellung „Diese etwa zwei Jahrhunderte umfassende literarische Tradition war nicht nur für das Selbstverständnis der Petersburger Deutschen bedeutungsvoll, sondern auch für das kulturelle und geistige Leben der Stadt selbst und nicht zuletzt für ihr Image im westlichen Europa“.

Es war zwar nur eine relativ kleine Gruppe, die mit literarischen Arbeiten hervortrat – vorwiegend waren es Beschreibungen der Stadt, Reiseberichte, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen – und wurde durch Zeitungen und andere Periodika publizistisch unterstützt. Nicht nur professionelle Autoren schrieben, sondern ebenso Lehrer, Diplomaten, Erzieher, Pastöre … der deutsche Baron Andreas von Rosen verfasste „Memoiren eines russischen Dekabristen“ und sogar ein Konditor trat als Verfasser einer Novelle über das St. Petersburger Leben in Erscheinung. Autoren gab es auch im oberen Offizierskorps: Friedrich Maximilian Klinger, Nikolaj Baumbach, Wassilij Graf Lambsdorf und Harald Gustav von Igelström wären da zu nennen. Auch deutsche Ärzte waren unter den Autoren, so Friedrich Hinze oder Maximilian Heine. Erstaunlich findet die Russin Kirjuchina, dass diese Werke von der germanistischen Forschung bisher außer Acht gelassen, ja, zum Teil sogar angezweifelt worden sind. Viele Quellen, so weiß sie, sind bibliographisch noch nicht aufgearbeitet. Ein Grund für die Nichtbeachtung der in St. Petersburg entstandenen deutschen Literatur ist jedoch auch, dass sich Autoren und Werke einer eindeutigen kulturellen Zugehörigkeit entziehen. Dem Vorwurf, es handele sich bei dieser Literatur nicht um eine solche von Weltgeltung, widerspricht Kirjuchina mit dem Hinweis, die deutsche Literatur in St. Petersburg sei „eine Komponente einer vielschichtigen kulturellen Interaktion“ gewesen…

Die Anfange des deutschen literarischen Lebens in St. Petersburg waren eng mit dem Zarenhof verbunden, Namen von deutschen Dichtern wie Jacob von Stählin, Johann Härtung, Hilarius Hartmann Henning sind bekannt. Auch Zarin Katharina II., selbst Deutsche, schrieb Dramen für das Hoftheater und Gedichte. Auch einige andere Mitglieder des Zarenhofes sollen literarische Texte auf Deutsch verfasst haben Einige Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, Georg Bülfinger oder Ludwig Heinrich von Nicolai u.a.m. waren früher schon als Hofdichter am Hof von Anna Ioannovna (1730-1740) aufgetreten, ihre Oden wurden später ins Russische übersetzt. Am St. Petersburger Deutschen Hoftheater wirkten – als Dramatiker, Schauspieler oder Regisseure – August von Kotzebue, Karl Friedrich Mohr oder Karoline Bauer. Auch die deutschsprachige Presse hatte ihren
Stellenwert im deutschen literarischen Leben in St Petersburg, hier wirkten Schriftsteller wie Theodor Hermann Pantenius und Alexander Heinrich Petrick. 1853 wurde der deutsche Dichterverein „Die Wolke“ gegründet. Sie alle trugen zur Entstehung und zur Verbreitung des sogenannten Petersburg-Mythos bei, dass diese Stadt aus dem Nichts allein durch den Willen ihres Gründers Peter in unwirtlichen Sümpfen entstanden war.

Dr. Mara Grudule, Riga, griff die von dem Schriftsteller Siegfried von Vegesack in seine „Baltischen Tragödie“ immer wieder ins Spiel gebrachte Metapher von der „gläsernen Wand“ auf, die Letten und Deutsche Jahrhunderte lang voneinander trennte. Es sind aber, so Grudule, „Menschen gekommen und gegangen, denen es gelungen ist, diese gläserne Wand zu überschreiten, so dass man in der lettischen Literatur – wenn auch in einem kleinen Teil – Einflüsse der deutsch-baltischen Literatur finden kann.“. Sie nannte Namen: Johannes von Günther, Oskar Grossberg und Elfriede Skalberg. In ihrem Vortrag beschäftigte sie sich vor allem mit Werken von Theodor Hermann Pantenius, Eduard Graf von Keyserling, Carl Worms, Elsa von Campenhausen, Fransesa von Külpe u.a.m.

Dr. Armin von Ungern-Sternberg, Mainz, hielt einen glänzenden Vortrag mit dem Titel „Heimatliteratur ohne Heimat? Zur kulturhistorischen Stellung der sog. Deutschbaltischen Literatur“, und Maris Saagpakk aus Reval/Tallinn, richtete ihr Augenmerk auf das „Autobiographische Schreiben als Mittel zur Identitätspflege.“
Mit Doppelbegabungen in der deutsch¬baltischen Geistesgeschichte – und deren gab es viele – beschäftigte sich in seinem Referat Helmut Scheunchen. Stellvertretend für viele andere nannte er den Minnesänger Wizlaw von Rügen (1288/89), Johann Beuthner (1693-1731) und, ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte, Carl von Holtei (1798-1880).

Scheunchen gab mit einem Konzert in der Kirche St. Antonius mit seinem Malinconia-Ensemble Stuttgart am Abend auch gleich eine Probe jener Autoren und Komponisten, die er in seinem Referat erwähnt hatte. Ein wahrhaft stimmungsvoller Ausklang einer wieder einmal überaus gelungenen Literaturwissenschaftlichen Fachtagung.

Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen dankt als Förderer dieser Tagung dem Innenministerium des Landes Baden-Württemberg und dem Haus des Deutschen Ostens, München