Zeithistorische Fachtagung, Kloster Ellwangen, 27. – 29. Oktober 2004
Deutsche und Polen – nach der Ost-Erweiterung der Europäischen Union
Tagungsleitung: Hans-Günther Parplies, Bonn
Redaktion: Dr. Ernst Gierlich, Bonn
Einen wesentlichen Markstein für die Beziehungen zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn stellt die im Jahre 2004 vollzogene Erweiterung der Europäischen Union dar. Welche Folgen der Beitritt Polens, Tschechiens, Ungarns und der baltischen Staaten haben wird, welche Chancen oder gegebenenfalls auch Risiken mit ihm verbunden sind, wird zur Zeit sowohl in den Beitrittsländern selbst als auch in Deutschland intensiv diskutiert. Nicht zuletzt geschieht dies auch in den Kreisen der Vertriebenen, deren Heimatgebiete nun Teil der Europäischen Union geworden sind.
Vor diesem Hintergrund sollten auf der Zeitgeschichtlichen Fachtagung der Kulturstiftung eine Reihe konkreter, das Verhältnis zwischen Deutschland und dem Nachbarland Polen betreffender Themen angesprochen werden, die in jüngster Zeit besondere Beachtung in Publizistik und Wissenschaft gefunden haben. Unter der Leitung des Vorstandsvorsitzenden der Kulturstiftung, Herrn Hans-Günther Parplies, referierten und diskutierten Historiker, Literaturwissenschaftler, Vertreter von Verbänden, Publizisten und Journalisten aus Deutschland und aus Polen, u.a. auch Vertreter der deutschen Volksgruppe in Polen.
In Vertretung des Innenministers des Landes Baden-Württemberg, als des Bundeslandes, in dem die Tagung stattfand, begrüßte die etwa 100 Anwesenden Ministerialdirigent Herbert Hellstern, der zugleich die Notwendigkeit eines regen und ehrlichen Dialogs zwischen den europäischen Nachbarn betonte.
„Zbliżenia – Annäherung als Programm“ hatte Prof. Dr. Wojciech Kunicki, Germanist an der Universität zu Breslau/ Wrocław, seinen stark auf persönlichen Erfahrungen beruhenden Eröffnungsvortrag überschrieben. Kunicki konstatierte eine anhaltende Asymmetrie der Wahrnehmung im deutsch-polnischen Verhältnis: Polen und die dortigen Verhältnisse seien im deutschen öffentlichen Bewusstsein sehr viel weniger präsent als umgekehrt. Immerhin seien es in Deutschland die Vertriebenen, die sich stärker als andere für Ereignisse im östlichen Nachbarstaat interessierten. Kunicki sprach sich dafür aus, dass es in den zwischenstaatlichen Beziehungen nicht um diffuse „Versöhnung“, sondern um echte Verständigung, um einen Dialog ohne Verschweigen bestehender Dissense gehen müsse.
Über fruchtbare Initiativen zur kommunalen und regionalen Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen berichtete Bernd Hinz, Hürth, stellvertretender Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, BdV-Präsidiumsmitglied und seit Jahren Verantwortlicher der kommunalpolitischen Kongresse seiner Landsmannschaft. Hinz stellte die konkrete Arbeit der Landsmannschaft und ihr verbundener Einrichtungen in der Heimat dar und verwies z.B. auf 19 im südlichen Ostpreußen eingerichtete Sozialstationen, deren kulturelle und sozial-karitative Arbeit nicht nur den Angehörigen der heimatverbliebenen deutschen Volksgruppe, sondern ebenso dem polnischen Umfeld zugute komme.
Dr. Kathrin Steffen, Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in Warschau sowie an einem Projekt zur Aufarbeitung der Vertreibung der Deutschen aus den Oder-Neiße-Gebieten und aus Polen, äußerte sich zur gemeinsamen, also von deutschen und polnischen Wissenschaftlern gemeinsam betriebenen Geschichtsaufarbeitung. Sie charakterisierte die Arbeit als erfolgreich und warb für weitere, von Deutschen und Polen getragene Projekte dieser Art: Weit stärker als manche politischen Initiativen könnten sie eine wirkliche, auf gegenseitigem Verstehen beruhende Verständigung bewirken.
Prof. Dr. Zygmunt Wóznicka, Universität Kattowitz, referierte über deutsche Oberschlesier als Zwangsarbeiter nach 1945. Hierbei blieben zu unterscheiden die in die UdSSR deportierten und die „vor Ort“ ausgebeuteten Zivilisten und Kriegsgefangenen, wobei die Grenzen vielfach fließend waren. Die sachlichen und mit zahlreichen Daten angereicherten Ausführungen dokumentierten die durchaus disparate Aktenlage in polnischen Archiven. Die Aufklärung des Schicksals der deutschen Bevölkerung im seinerzeitigen polnischen Machtbereich bleibt eine große Zukunftsaufgabe für die deutsche und die polnische Geschichtswissenschaft. Bewegend war der anschließende Zeitzeugenbericht einer Oberschlesierin, die aus eigener Erinnerung über die schrecklichen Zustände in Kattowitzer Gefängnissen 1945/46 berichtete.
Prof. Dr. Eugeniusz Klin, Universität Grünberg/ Jielona Góra, und Prof. Dr. Roswitha Wisniewski, Universität Heidelberg, trugen vor zur Thematisierung von Flucht und Vertreibung in der neueren deutschen und polnischen Belletristik. Klin vermerkte vorab, dass sowohl die Vertreibung der Deutschen aus den deutschen Ostgebieten wie auch die der Polen aus den polnischen Ostgebieten während der Jahrzehnte kommunistischer Diktatur und Zensur Tabuthemen gewesen waren. Erst in den 1990er Jahren fanden entsprechende Themen Eingang in die polnische Literatur. Frau Wisniewski stellte fest, dass die Vertreibung in der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur nie wirklich tabuisiert worden sei, und sie nannte zahlreiche Autoren, die dieses Thema nachgerade zu ihrem Wirkensschwerpunkt gemacht hätten. Allerdings sei diese literarische Arbeit außerhalb des Kreises der Vertriebenen und ihrer Verbände vielfach kaum rezipiert worden.
Prof. Dr. Dieter Blumenwitz (Würzburg) knüpfte seine völkerrechtlichen Betrachtungen zum deutsch-polnischen Verhältnis an jüngste Vorkommnisse an und erinnerte an den wiederholten von staatlicher polnischer Seite ausgesprochenen Verzicht auf Reparationen. Kritisch setzte er sich aus der Sicht des Völkerrechtlers mit deutschen und polnischen amtlichen wie privaten Äußerungen auseinander. Er mahnte einen entschiedenen Umgang mit den aktuellen Problemfeldern an, der gleichwohl die aus den historischen Erfahrungen resultierenden Befindlichkeiten beider Völker zu berücksichtigen habe.
Der aus Oberschlesien stammende Historiker Ewald Pollok skizzierte anschließend Lage und Perspektiven der deutschen Volksgruppe in Schlesien. Nach einer Überschau der Verhältnisse in den Nachkriegsjahrzehnten, in denen polnischer Nationalismus und Kommunismus in doppelter Weise das Leben der verbliebenen deutschen Oberschlesiern bedrückte, zeigte er sich indes wenig optimistisch zu den gegenwärtigen Aussichten einer Überwindung von latenter Diskriminierung.
An die Vorträge schloss sich jeweils eine ausführliche, stets ausgesprochen engagiert geführte Diskussion an. In einer abschließenden von Hans-Günther Parplies moderierten Podiumsdiskussion wurden nochmals aktuelle Fragen des deutsch-polnischen Verhältnisses repetiert, in der die grenzübergreifende Kulturarbeit, die Jugendarbeit und auch die aktuell wieder virulent gewordenen Vermögensfragen angesprochen wurden. Dass nicht ritualisiertes Verschweigen und Bemänteln, sondern eine offene und ehrliche Aufarbeitung der bestehenden Problemfelder beiden Völkern gleichermaßen diene – hierin waren sich die anwesenden Deutschen und Polen einig.
Die Tagung wurde vom Bundesministerium des Innern gefördert.