Europas verlorene und wiedergefundene Mitte

Historische Fachtagung, Chemnitz, 14. – 16. Dezember 2006

Europas verlorene und wiedergefundene Mitte –
Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa (1806/1815 – 1918/1919 – 1989/2006)

Internationale Fachtagung der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der TU Chemnitz in Verbindung mit dem Sächsischen Staatsministerium des Innern und der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn

Wiss. Leitung: Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll

Das Heilige Römischen Reiches Deutscher Nation war eine übernationale europäische Ordnungsmacht. Als diese Klammer mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. am 6.8.1806 wegfiel, begann in Ostmitteleuropa die nationalitätenpolitische Polarisierung, jener Prozeß ethnischer Differenzierung, der 1918/19 mit der Gründung neuer Nationalstaaten sein vorläufiges Ende fand. Doch die neuen Staaten Ostmitteleuropas waren alles andere als einheitliche Nationalstaaten: Minderheitenfragen und ethnische Konflikte destabilisierten den ostmitteleuropäischen Raum während der Zwischenkriegszeit nachhaltig; Hitlers „Volkstumspolitik“ und die Vertreibung des Großteils der Deutschen aus der Region boten die tragischen Endpunkte des 1806 beginnenden Prozesses ethnischer Zersplitterung.

Der 200. Jahrestag der Auflösung des Alten Reiches bot Anlass und Gelegenheit, den langfristigen Folgen nachzugehen, die das Reichsende für die Entstehung des Nationalitätenproblems in Ostmitteleuropa hatte. Unternommen wurde dies von einer internationalen Fachtagung, die vom 14.–16. Dezember 2006 in Chemnitz stattfand und von der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der TU Chemnitz in Verbindung mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn organisiert wurde. Die Leitung der vom Sächsischen Staatsministerium des Innern geförderten Veranstaltung hatte Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Chemnitz, inne.

Die Ereignisse von 1806 legte eingangs Prof. Dr. Helmut Neuhaus, Erlangen, dar: Die Niederlegung der Krone bedeutete ihmzufolge nicht etwa eine Abdankung des Kaisers und damit den Beginn eines Interregnums, vielmehr war es die förmliche Entpflichtung aller Reichsorgane und damit tatsächlich das Ende des Alten Reiches. Es galt, Napoleon an der Spitze des Reiches zu verhindern, und dies konnte nur gelingen, wenn es das Reich, das ohnehin durch den Wegfall der Rheinbundmitglieder seine Lebensfähigkeit eingebüßt hatte, nicht mehr gab.
Der Charakter des Habsburgerreichs als übernationale Ordnungsmacht wurde von Dr. Matthias Stickler, Würzburg, unter dem Titel „Nationalitätendenken und Nationalitätenpolitik in der Habsburger Monarchie 1815–1914“ anschaulich dargestellt. Stickler warnte indes vor einer romantischen Verklärung ebenso wie vor einer Verdammung: Weder kann das Habsburgerreich als geistiger Vorläufer eines vereinten Europas gelten, noch war es tatsächlich der viel geschmähte „Völkerkerker“. Dass es schließlich ebenfalls unterging, war weit eher eine Folge des verlorenen Weltkrieges als unüberwindlicher Nationalitätenkonflikte. Gleichwohl sollte überregionalen Zusammenschlüssen nach dem Vorbild des Alten Reiches oder des Habsburgerreiches, wie sie im 19. Jahrhundert vielfach diskutiert wurden, keine Zukunft beschieden sein. Wie Prof. Dr. Milos Havelka, Prag, ausführte, boten sie keine Alternative zum Nationalstaat.

Dr. Miloš Řezník, Chemnitz, zeichnete den Verlauf Nationalstaatsbewegung in Ostmitteleuropa in der Zeit 1848 bis 1919 nach. Ihrem Verlauf wurde die nationale Zugehörigkeit eines Menschen zum wichtigsten Gruppenmerkmal. In dieser Hinsicht, so Řezník, sei die Nationalstaatsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus positiv zu bewerten, da sie eine liberalen Charakter besessen und großen Wert auf die Integration über ständische Grenzen hinweg gelegt habe – ganz im Gegensatz zur Nationalstaatsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welche sich mit dem Konservatismus verband und dessen von der Romantik entwickelte Konstruktion stützte, demzufolge es nationale Zuschreibungen bereits seit Urzeiten gebe. Die Logik der Nationalstaatsbewegung sah für eine Nation auch einen eigenen Staat vor. Doch nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des übernationalen Habsburger Reiches übernahmen die Tschechoslowakei, Polen und Rumänien ein Charakteristikum der alten Ordnung: Sie waren als Nationalstaaten konzipiert und blieben aber doch Nationalitätenstaaten.

Dr. Matthias Niendorf, Kiel, unternahm mit seinem Vortrag zu „Nationalstaat, Nation und territoriale Fragen im östlichen Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit“ eine Bestandsaufnahme der in den jungen Nationalstaaten des östlichen Europa herrschenden Probleme und Konflikte. Als eines der Grundprobleme bezeichnete er den Mangel an demokratietauglicher politischer Kultur. Darüber hinaus litten die neuen Demokratien etwa unter dem deutsch-polnischen Grenzkonflikt sowie unter dem ungarischen Revisionismus, der sich aus dem nach Ungarns Niederlage 1920 unterschriebenen Friedensvertrag von Trianon speiste und durch den Ungarn mehr als zwei Drittel seine Hoheitsgebiets einbüßte. So blieb das Problem der Minderheiten in der Zwischenkriegszeit virulent, trotz der in den Pariser Vorortverträgen 1919/20 unterschriebenen Minderheitenschutzgesetze.

Prof. Dr. Ralph Schattkovsky, Rostock, beleuchtete in seinem Vortrag die europäische Minderheitenfrage nach dem Ersten Weltkrieg und den deutsch-polnischen Minderheitenstreit. Da der deutsche Staat eine aktive Revisionspolitik betrieben habe, musste der Verbleib von Deutschen in Polen gesichert werden. Dies war wiederum eine Frage der Staatsbürgerschaft: Nur Staatsbürger – also Bewohner, die für Polen optiert hatten – konnten Minderheitenrechte wahrnehmen. Der vertragliche Status der Minderheiten wurde von Polen widerwillig akzeptiert, denn Ziel war es eigentlich, Polen zu einem einheitlichen polnischen Nationalstaat zu machen. Diejenigen, die für Deutschland optierten, sahen der Liquidation ihres Besitzes von Seiten des polnischen Staates entgegen, sanktioniert im Versailler Friedensvertrag. Für die Politik des deutschen Staats war es wichtig, die Situation der Deutschen in Polen durch finanzielle Hilfen zu stärken und ihre Abwanderung abzuwehren.

Über „Alte Eliten im neuen Volksstaat – böhmischer Adel und nationale Frage nach 1918“ referierte Dr. Jiří Georgiev, Prag. Hauptmerkmale des böhmischen Adels zu dieser Zeit waren demnach, dass er relativ unbeschädigt von der Bodenreform blieb und dass er vor den nationalen Landespatriotismus andere Zugehörigkeitsmerkmale wie die Konfession, die Bildung sowie wirtschaftliche und politische Interessen stellte. So konnte es durchaus vorkommen, dass einige Großgrundbesitzer gleichzeitig im deutschen und tschechischen Verband der Großgrundbesitzer Mitglied waren. Von den 1930er Jahren an kam es jedoch auch in der Adelsschicht zu einer immer stärkeren Nationalisierung zugunsten der tschechischen beziehungsweise deutschen Volkszugehörigkeit.

Die Politik hinsichtlich deutscher Minderheiten im östlichen Mitteleuropa während des Dritten Reiches wurde im Vortrag von Dr. Alexander Brakel, Mainz/Berlin, „Völkische Flurbereinigung – Die Politik der Rückführung deutscher Minderheiten im Dritten Reich“ pointiert erläutert, während Dr. Hendrik Thoß, Chemnitz, anhand der Untersuchung von „Theorie und Praxis nationalsozialistischer Eroberung und Vernichtung im europäischen Osten“ die ideologischen Grundlagen und die Ausführungspraxis nationalsozialistischer Eroberung und Vernichtung im europäischen Osten zusammenfasste.

Über die Frage, wer an der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa beteiligt war, sprach Prof. Dr. Manfred Kittel, München, in seinem Vortrag „Mehr als ,Hitlers letzte Opfer‘. Die Vertreibung der Deutschen aus den deutschen Ostgebieten und aus Ostmitteleuropa“. Im Prinzip, so Kittel, gab es eine breite Zustimmung zur Vertreibung, sowohl bei den Politikern im Westen als auch bei denen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Die Alliierten glaubten, dass eine Stabilisierung Europas nur durch nationale Entflechtung möglich sei, wobei England die treibende Kraft darstellte. Ein wichtiger Aspekt der „wilden“ Vertreibungen war deshalb die Angst, die Bereitschaft zur Umsiedlung großer Menschenmassen auf Seiten des Westens könne nachlassen. Deshalb sollten die auch von der Miliz und der Polizei gelenkten „wilden“ Vertreibungen Fakten schaffen, die den Alliierten die Rücknahme des gewünschten Kurses unmöglich machen würde.

„Deutsche Minderheiten in den Vertreibungsgebieten nach 1945“ – über dieses Thema referierte Ingo Eser, Marburg, wobei er sich auf Polen und die Tschechoslowakei konzentrierte. Anfang der 1950er Jahre waren in Polen noch 180.000 und in der Tschechoslowakei noch 230.000 Deutsche ansässig. Vor allem für Polen seien diese Zahlen zu gering angesetzt, denn darunter fielen nur solche, die in Polen überhaupt als Deutsche galten. Dies waren die so genannten Autochthonen: Oberschlesier, Masuren, Ermländer, Kaschuben, Slowinzen, Grenzmarkdeutsche. Sie sollten durch ein so genanntes Verifizierungsverfahren repolonisiert werden. Es gab aber auch „vergessene“ oder gezielt zurückgehaltene Personen, die nicht als Deutsche anerkannt waren. Man betrachtete sie in Polen und in der Tschechoslowakei als Arbeiter, die Reparationsleistungen erbrachten.
Den Abschlussvortrag „Fremde Heimat? Flüchtlinge und Vertriebene in der SBZ/DDR“ hielt Dr. Michael Parak, Görlitz. Nach Angaben der DDR gab es auf ihrem Gebiet drei Millionen Flüchtlinge, während bundesrepublikanische Schätzungen von vier Millionen Menschen ausgehen. Nach der Abwanderung, die bis zum Mauerbau andauerte, lebten 1965 noch etwa zweieinhalb bis drei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR. Parak skizzierte kurz die Rahmenbedingungen im SED-Staat für diesen Personenkreis: Da die zentrale Argumentationslinie lautete, dass die Vertriebenen revisionistisch, rückwärtsgerichtet und kriegshetzerisch seien, gab es keine Möglichkeit zur Brauchtumspflege. Im Vorfeld der Vertragsverhandlungen zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gab es in diesem Personenkreis die meisten Bespitzelungen und Gesinnungsprüfungen. Der wichtigste Faktor bei der Integration dieser Flüchtlinge und Vertriebenen war der hohe Arbeitskräftebedarf in der DDR. Eine vom Tagungsleiter Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll geleitete Podiumsdiskussion zum Thema „Minderheitenpolitik und Minderheitenfragen im gesamteuropäischen Vergleich“, an der sich die etwa 90 Teilnehmer, unter ihnen zahlreiche Chemnitzer Studenten, engagiert beteiligten, schloss die Tagung ab, die deutlich machte, dass die Bewertung der Nationalstaatsbewegung seit den Ende des Alten Reiches 1806 nur eine sehr differenzierte sein kann. Der Prozess der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg, in den inzwischen auch die Reformstaaten des östlichen Europa einbezogen sind, stellt eine notwendiges Korrektiv zu einseitig nationalen, gerade für die Minderheiten besonders bedrohlichen Tendenzen dar. Ein Blick auf das 1806 untergegangene Alte Reich macht indes deutlich, dass Heterogenität und nicht Uniformität zum Wesen Europas gehört.

Bericht von Ariane Afsari

Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen dankt als Förderer dieser Tagung dem Sächsischen Staatsministerium des Innern